Hl. Gregor von Nyssa, Kirchenvater Gregor von Nyssa, auch Gregorius oder Gregorios (* um 335/340; † nach 394) war ein christlicher Bischof, Heiliger und Kirchenlehrer. Er war der jüngste Bruder des Basilius von Caesarea und ein guter Freund Gregors von Nazianz. Diese drei werden als die kappadokischen Väter bezeichnet. Eine besonders hohe Wertschätzung genießen sie in der orthodoxen Kirche. Gregor wurde 372 Bischof von Nyssa. Er nahm am Ersten Konzil von Konstantinopel teil und verteidigte das Bekenntnis von Nicäa gegen die Arianer. Seine Gotteslehre stellt einen ersten Höhepunkt der Verschmelzung christlichen und platonischen Denkens dar. Gregor gilt als größter christlich-philosophischer Denker seiner Zeit. Er war zugleich einer der großen Mystiker.
Leben und WirkenHerkunft und JugendGregor wurde als zweitjüngster Sohn von zehn Kindern einer wohlhabenden kappadokischen Familie geboren, die seit mehreren Generationen christlich war. Sein Geburtsdatum liegt sehr wahrscheinlich zwischen 335 und 340.[1] Zumindest von der mütterlichen Seite her war seine Familie wohl auch adelig. Sein Vater, Basilius der Ältere, war Rhetor in Neocaesarea und starb früh. Über Gregors Jugend ist wenig bekannt. Er war kränklich und wurde vermutlich zu Hause erzogen. Er selbst bezeichnet seinen ältesten, hoch gebildeten Bruder Basilius als seinen Meister. Auch seine Großmutter Makrina (die Ältere) und seine Mutter Emmelia haben ihn wohl beeinflusst, ganz besonders aber seine älteste Schwester, die ebenfalls Makrina (die Jüngere) hieß. Gregor stellt sie in Über die Seele und die Auferstehung in der Rolle der Lehrerin dar, gleichsam als zweite Diotima. Seine Schwester wurde für die Entwicklung des weiblichen Mönchtums wegweisend.
Vom Lektor zum BischofGregor war Anfang der 360er Jahre kirchlicher Lektor. Er wurde zeitweilig Rhetor und heiratete Theosebia, mit der er den Sohn Kynegios hatte. Die familiären Verhältnisse Gregors sind aber insgesamt unsicher und umstritten.[2] Ausweislich seiner Schriften hat er sich intensiv mit heidnisch-philosophischer Bildung beschäftigt. Dann gab er aber seinen Beruf auf und zog sich vorübergehend in die Einsamkeit des Mönchslebens zurück. Seit 371/372 wirkte Gregor als Bischof von Nyssa am Halys. Sein Bruder Basilius hatte ihm das neugeschaffene Bistum anvertraut. Dessen Erwartungen scheint Gregor nicht erfüllt zu haben.[3] Gregor wurde 375 von seinen arianischen Gegnern beschuldigt, Kirchengut verschwendet zu haben. 376 wurde er deswegen auf einer Synode der pontischen und galatischen arianischen Bischöfe zu Nyssa in Abwesenheit abgesetzt. Nach dem Tod des pro-arianisch eingestellten Kaisers Valens kehrte Gregor als Bischof nach Nyssa zurück. 379 besuchte er die Synode von Antiochia, im selben Jahr war Basilius gestorben. Nach dessen Tod führte Gregor die Auseinandersetzung mit dem Arianer Eunomius fort und entwickelte die Trinitätslehre weiter. Den theologischen Ansätzen seines Bruders Basilius blieb Gregor sein Leben lang treu. Dabei zeigt er sich aber zugleich als ein bemerkenswerter Denker, der die Gedanken seines Bruders eigenständig rational begründet und spekulativ entfaltet.[4] Gregor verteidigt gegen Eunomius die volle Gottheit und die volle Menschheit Christi.[5] Jesus Christus könne keine Zwischenposition zwischen Gott und Mensch haben. Er besitze sowohl die göttliche als auch die menschliche Natur vollkommen.[6] 380 entzog sich Gregor der Wahl zum Bischof von Sebaste in Kleinarmenien, indem er seinen jüngeren Bruder Peter dorthin empfahl.
Das Erste Konzil von Konstantinopel381 n.Chr. auf der zweiten ökumenischen Synode der Kirche, nämlich dem Ersten Konzil von Konstantinopel, war Gregor von Nyssa einer der bedeutendsten Synodalen und ein Hauptverteidiger der Orthodoxie. Der Vorsitzende Meletios von Antiochien starb kurz nach dem Beginn der Verhandlungen. Gregor von Nyssa durfte die Trauerrede halten.[7] Während Gregor von Nazianz frühzeitig abreiste, prägte der Bischof von Nyssa das Bekenntnis des Konzils. Dabei setzte er gemeinsam mit anderen insbesondere durch:
die Rückbesinnung auf das Nizänum,
die Lehre von der einen Ousia in drei Hypostasen sowie
die Anerkennung der Gottheit des Heiligen Geistes. Dieser ist „vom Vater ausgehend“, „souverän gebietend“ und „lebenschaffend“.
Mit dem Ersten Konzil von Konstantinopel ist - zumindest für die griechisch-orthodoxe Theologie - das Trinitätsdogma einschließlich der Lehre vom Heiligen Geist zu einer abschließenden Formulierung gelangt.[8] Das Konzil ernannte Gregor zu einem von mehreren sogenannten „Normbischöfen“.[9] Man musste mit ihm theologisch übereinstimmen, um nicht als Häretiker verurteilt zu werden.
Einsatz für das DogmaGregors Stellung in der griechisch sprechenden Kirche war nun ungewöhnlich einflussreich. 381 reiste Gregor im Auftrag des Konzils in die römische Provinz Arabien. Er besuchte auf dieser Reise auch Jerusalem und wurde dort in theologische Streitigkeiten verwickelt. Von dem Besuch der heiligen Stätten war er tief berührt.[10] Auf zahlreichen weiteren Synoden verschaffte er dem Dogma von 381 Geltung. Er nahm auch an den Religionsverhandlungen 383 in Konstantinopel teil. Dass er bei der Synode von 383 anwesend war, ist durch seine Ansprache De deitate filii et spiritus sancti belegt.[11] Gregors Frau Theosebia starb 385. Er hatte die Ehe wohl bis zu ihrem Tode weitergeführt, was damals in der Kirche selbst für einen Bischof noch möglich war. 386 hielt er der Prinzessin Pulcheria und kurz darauf der Kaiserin Aelia Flaccilla die Leichenrede.[12] Letztmals wird er 394 in den Akten einer Synode in Konstantinopel erwähnt. Über sein genaues Todesdatum ist nichts bekannt. Zu Gregors großen literarischen Werken gehören die Auslegungen der Genesis, des Hohenlieds, der Psalmeninskriptionen, des Predigers Salomo, des Vaterunsers und der Seligpreisungen. Bedeutend sind auch seine Schrift Über die Seele und die Auferstehung sowie der Antirrheticus gegen Apolinarius von Laodicea. Sichere Grundlagen für eine genaue Datierung aller Schriften Gregors fehlen.
Lehre
Gregor von Nyssa war mit den philosophisch-theologischen Strömungen seiner Zeit bestens vertraut. Sein Bildungserbe war nicht nur angelernt, sondern ein lebendiger Besitz, der eine fruchtbare Synthese ermöglichte zwischen dem christlichen Erbe und der überkommenen Philosophie. Er besaß ein großes Feingefühl für die philosophischen und ästhetischen Werte der griechischen Überlieferung.[13] Gregor hat die neuplatonische Philosophie so modifiziert und korrigiert, dass sie sich in seinen christlichen Glauben einfügen konnte. Die von ihm verwendeten Quellen gibt er fast nie an. Die Gedanken und Metaphern, die er übernimmt, verarbeitet er häufig in einem neuen Zusammenhang. Aufgrund seines rhetorischen Talents ist es ihm möglich, in der biblischen Sprache, in der Fachsprache der Platoniker oder in einer eigenen Ausdrucksweise zu schreiben, die durch keine Modelle vorgeprägt ist. Sein Kommentar zum Hohelied wurde zur Zeit der Kirchenväter als die Metaphysik der christlichen Philosophie angesehen.
Materielles und intelligibles SeinGregor unterschied in der platonischen Tradition zwischen einem materiellen und einem intelligibel-immateriellen Sein. Das materiell Seiende ist durch Zeitlichkeit und die Grenzen der kategorialen Bestimmtheit gekennzeichnet. Es kann nicht aus sich heraustreten. Es hat sein Sein in den naturhaft vorgegebenen Grenzen. Jedes Einzelne, das in den eigenen natürlichen Grenzen verharrt, ist nur, solange es innerhalb der eigenen Grenzen bleibt. Wenn es aber außerhalb seiner selbst tritt, wird es auch außerhalb des Seins sein. Das Böse ist das Verlassen der Grenzen des Seienden. Wenn etwas vom Seienden abfällt, ist es auch nicht mehr im Sein. Die Schlechtigkeit an sich gibt es gar nicht. Nur die Nichtexistenz des Schönen wird zur Schlechtigkeit. In der Schlechtigkeit ist kein eigentliches Sein. Der im Nichts Werdende - dies ist eigentlich die Schlechtigkeit - wird vernichtet. Die Erschaffung der materiellen Welt aus der reinen Geistigkeit Gottes erklärt Gregor dadurch, dass er alles Körperliche in geistige, intelligible Elemente auflöst. Das Intelligible ist als das Grenzenlose zu verstehen. Gregor unterschied dabei zwischen der ungeschaffenen und der geschaffenen intelligiblen Natur. Damit begründete er metaphysisch eine spezifisch christliche Unterteilung alles Seienden in Geschaffenes und Ungeschaffenes. Die ungeschaffene Natur besitzt alle Vollkommenheiten aus sich selbst heraus. Sie ist die Vollkommenheit und Güte selbst. Sie ist unwandelbar und unbeschränkt. Deshalb lässt sie keine Stufen des mehr oder weniger sowie des früher oder später zu.[14] Die ungeschaffene intelligible Natur ist das, was im Sinne des wahren Seins eigentlich ist. Es entzieht sich aller menschlichen Erkenntnis, Sprache und Auslegung. Es ist über jede Hinzufügung erhaben und gegenüber jeder Verringerung unempfänglich. Es ist sich stets gleichbleibend und wahrhaft seiend. Es ist in einem ausgezeichneten Sinn das Grenzenlose als ein aktuell Unendliches. Dagegen ist das Sein der menschlichen Seele ein geschaffenes intelligibles Sein. Dieses strebt unaufhörlich und begierdevoll zu dem göttlichen, wahrhaft seienden grenzenlosen Sein. Damit kommt dann auch der Seele in gewisser Hinsicht der Charakter der Grenzenlosigkeit zu. Gregor verwarf die Lehre des Origenes von der Präexistenz der Seele. Auch den Gedanken einer Seelenwanderung lehnte er systematisch ab. Die Seele sei eine immaterielle, einfache Substanz (haplê kai asynthetos physis). Sie sei ganz in ihrem Leib und werde mit ihm zugleich geschaffen. Sie durchdringe den Leib und er sei in ihr. Bei der Auferstehung vereinige sich die Seele wieder mit ihrem Leib.
Unendlichkeit GottesGregor von Nyssa hat mit ungewöhnlichem Nachdruck die Unbegreiflichkeit Gottes vertreten. Zu diesem Zweck hat er alle ihm bekannten Abwandlungen des Unendlichen herangezogen. Er hat den horror infiniti des klassischen Griechentums vollständig überwunden.[15] Die Unendlichkeit wird bei Gregor zum Zentrum der Gotteslehre. Er bezieht als erster den Begriff des Unendlichen in einer zentralen Bedeutung auf die unendliche Wirklichkeit Gottes. Diesem Begriff setzt er dann die geschaffene Welt entgegen.[16] Die vom Neuplatonismus entwickelte durchgängige Seinshierarchie hat er damit durchbrochen. Indem Gregor im Gedanken des Unendlichen die Grundform des Gottesgedankens erkannt hat, erbrachte er einen epochalen Beitrag zur Gotteslehre. Die Grundform des Gottesgedankens ist entgegen seinen arianischen Gegnern nicht mehr im Begriff einer ersten Ursache zu suchen. Die Erstursächlicheit wird zu einem untergeordneten Moment, ohne allerdings aus dem Gottesgedanken zu entschwinden.[17] Unendlichkeit ist schrankenlose Vollkommenheit. Sie ist undurchschreitbar für das menschliche Denken. Das Unendliche sperrt sich gegen die Gesetze der Vernunft und lässt sich nicht von ihr einfangen.[18] Deshalb begründet die Unendlichkeit die Unbegreiflichkeit Gottes. Die Unendlichkeit Gottes führt dazu, dass die Bewegung des Denkens ins Unendliche läuft, wenn sie Gott zu ihrem Ziel macht. Damit ist Gott während jeder möglichen Erkenntnisstufe unendlich weit entfernt. Jede gewonnene Erkenntnis wird zu einem Ausgangspunkt für eine noch größere Erkenntnis.
Trinität
Gregor beteiligte sich an der Entwicklung der Trinitätslehre, wobei er sich auf die Gotteslehre seines Bruders Basilius und ihres gemeinsamen Freundes Gregor von Nazianz stützte. Für die drei Kappadokier liegt der Sachgrund der Trinitätserkenntnis in der parataktischen Offenbarung der drei Namen im Taufbefehl (Mt 28,19 EU). Gregor betont dabei die Wesenseinheit Gottes. Gott ist das einheitliche Wesen, das sich in drei Personen, den Hypostasen, darstellt:
Vater als Ursprung, seinerseits ursprungslos und ungezeugt;
Sohn, der vom Vater gezeugt ist;
Heiliger Geist, der aus dem Vater hervorgegangen und zugleich Geist Christi ist.
Die Art und Weise des Eigenstands von Sohn und Heiligem Geist über die Benennungen „Zeugen“ und „Hervorgehen“ hinaus ist als unergründliches Glaubensgeheimnis nicht weiter zu hinterfragen. Gregor vergleicht die Trinität mit einer in drei Lichtern leuchtenden Flamme. Dabei ist die Ursache des dritten Lichts die erste Flamme, die aufgrund der Austeilung auf die mittlere die äußerste entzündet. Der Heilige Geist hat den Grund seines Eigenstands aus dem ursprünglichen Licht. Gleichwohl leuchtet er durch den Sohn hervor. Durch die Verwendung dieser Licht-Metaphorik erläutert Gregor seine Lehre vom Hervorgang des Geistes durch den Sohn: Der Geist hat das Sein aus dem Vater und ist zugleich der Geist des Sohnes. Die zweite Person, der Logos, ist ewiges Leben, dem Willens- und Schöpferkraft zukommt. Mit den Vernunftkräften (sophoi te kai technikoi logoi) durchdringt Gott alles. Das Schöpfungs- und Heilswirken der drei Personen kann nicht als voneinander getrennt gedacht werden. Die ökonomischen Heilswirkungen Gottes, seine energeiai, kommen allen drei Hypostasen gemeinsam zu. Aus ihnen kann die trinitarische Distinktion deshalb nicht abgelesen werden. Das Wort Gott bezeichnet nach Gregor geradezu die eine Bewegung göttlichen Handelns, die vom Vater durch den Sohn und den Geist auf die Geschöpfe zukommt. Vater, Sohn und Geist bilden demnach bildlich gesprochen einen einzigen Strahl, der auf die Geschöpfe trifft.[20] Die Trinität erweist sich bei Gregor als eine Vermittlung zwischen der heidnischen Vorstellung von einer Vielheit der Götter und dem jüdischen Glauben an die Einheit Gottes. Das Christentum verbindet nach Gregor beide Vorstellungen dialektisch miteinander, wobei es ein undurchdringliches Glaubensgeheimnis bleibt, wie die Hypostasen untereinander verschieden sein können und dennoch die Wesenseinheit bewahrt wird:
„Hast du die Unterscheidung in ihnen [Anm. den Hypostasen] erkannt, so gestattet wieder die Einheit der Natur die Zerteilung nicht, so dass weder die Macht der Alleinherrschaft zerspalten wird durch Zerlegung in verschiedene Gottheiten, noch mit der jüdischen Auffassung unsere Lehre zusammentrifft, sondern mitten durch beide Ansichten die Wahrheit hindurchgeht. [...] Denn gleichsam ein Heilmittel ist für die bezüglich der Einheit Irrenden die Dreizahl, für die in die Vielzahl Zersplitterten aber die Lehre von der Einheit.“
Aufstieg zu GottGregor von Nyssa widmete sich in der mystischen Kontemplation der einen geistigen Schönheit, die als göttliches Urbild aller schönen Dinge durch seine irdischen Abbilder hindurchschimmert. Er verband Platons Auffassung von Philosophie als Verähnlichung mit Gott und die christliche Auffassung des Menschen, den Gott nach seinem Bilde schuf.[22] Die Mystik Gregors zielt nicht auf eine Vereinigung, sondern auf eine Verähnlichung mit Gott (homoiosis). Gott sei die unendliche Fülle des Guten. Das wahre Leben des Menschen bestehe in der Teilhabe an Gott und seiner Güte. Gregor interpretiert die Ebenbildlichkeit und die Angleichung an Gott vom Gedanken der Teilhabe her.[23] Die Vollkommenheit des Menschen bestehe in dem beständigen Fortschritt der Teilhabe an Gott.[14] Diese Teilhabe schließt zumindest in ihrer volleren Entfaltung eine beglückende Gemeinschaft mit Gott wesentlich ein.[24] Der fortschreitende Aufstiegsweg zu Gott führt über drei Stufen:
Reinigung, entspricht als Grunderfahrung bei Moses dem brennenden Dornbusch (Ex 3,2 EU );
Erleuchtung, entspricht der Führung in der Wüste durch die lichte Wolke bzw. die Feuersäule (Ex 13,21 EU );
Einigung, entspricht dem Einswerden mit Gott in der blendenden Finsternis der dichten Wolke auf dem Berg Sinai (Ex 24,16 EU ; Dtn 4,11 EU ).
Diesen drei Stufen werden die Sakramente Taufe, Firmung und Eucharistie zugeordnet. Gregor hat das mystische Erleben als ἀπόλαυσις ϑεοῡ, also als ein Gottgenießen, beschrieben. In der Ekstase tritt die Seele als geschaffenes Sein aus den eigenen Grenzen. Sie dringt immer tiefer in die göttliche Wesenheit, ohne aber jemals an ein definitives Ende zu gelangen.