römisch-katholisch > Grundsatztexte
Der geistliche Kampf
Misericordia:
36. Kapitel: Von der Übung und dem steten Fortschritt in der Tugend
Eines der wichtigsten und notwendigsten Mittel zur Erlangung der Tugend ist neben den oben angegebenen auch das eine, daß wir, um unser vorgestecktes Ziel zu erreichen, ohne Unterlaß beständig voranschreiten müssen; denn andernfalls: Wer stehen bleibt, geht schon rückwärts.
Sobald wir einmal mit den Tugendakten aufhören, kommen in uns infolge des starken Triebes unserer sinnlichen Begehrlichkeit und anderer äußerer Einflüsse eine Menge ungeordneter Leidenschaften zum Vorschein, welche die Tugend vernichten oder wenigstens sehr vermindern. Überdies werden wir noch vieler Gnaden und Gaben beraubt, die wir bei weiterem Fortschreiten vom Herrn wohl hätten erlangen können.
Zwischen dem Weg zur Vollkommenheit und dem gewöhnlichen Weg eines Reisenden über Land besteht der Unterschied, daß man auf dem letzteren durch eine Rast nichts von der bereits zurückgelegten Strecke verliert, wohl aber auf dem ersten Weg. Außerdem nimmt beim irdischen Wanderer die Müdigkeit durch die Fortdauer der körperlichen Bewegung ständig zu, während man auf dem geistlichen Wege immer mehr Kraft und Frische gewinnt, je weiter man auf ihm voranschreitet.
Durch die Übung in der Tugend werden die sinnlichen Triebe, durch deren Widerstreit der Pfad so rauh und mühsam war, beständig schwächer; der Geist, in welchem die Tugend ihren Sitz hat, wird hingegen immer gefestigter und stärker.
Mit dem Fortschritt im Guten vermindert sich die zu Anfang empfundene Mühe, während ein gewisses stilles Glücksgefühl, das unter göttlichem Einfluß die Mühsal verwandelt, in demselben Maße wächst.
Und so schreitet man müheloser und freudiger immer weiter voran von Tugend zu Tugend und gelangt endlich auf dem Gipfel des Berges an, wo die vollendete Seele nicht mehr widerwillig, sondern mit Wonne und Jubel dient. Die ungeordneten Leidenschaften sind besiegt und gebändigt. Über alle Kreatur und sich selbst erhoben, weilt sie am Herzen des Allerhöchsten und genießt trotz aller Mühe eine sanfte Ruhe.
Misericordia:
37. Kapitel: Gelegenheiten zur Erlangung der Tugenden soll man nicht vorübergehen lassen
Wir haben nun zur Genüge gesehen, daß wir im Streben nach Vollkommenheit immer voranschreiten müssen und nicht mehr rasten dürfen.
Wachen wir daher sorgfältig darüber, daß uns auch zur Erlangung der Tugenden keine Gelegenheit, die sich uns bietet, entgeht.
Darum handeln jene nicht richtig, die sich den Widerwärtigkeiten, die zu diesem Zwecke dienen können, möglichst zu entziehen suchen. Wünschst du - um bei unserem Beispiel zu bleiben - die Tugend der Geduld zu erwerben, dann tust du nicht gut daran, wenn du dich von solchen Personen, Verrichtungen oder Plänen, die dich zur Ungeduld reizen, fernhältst.
Aus diesem Grunde darfst du keinen Verkehr meiden, weil er dir lästig ist. Vielmehr pflege den Umgang auch mit solchen, die dir Verdruß und Langeweile verursachen, und halte dich stets bereit, alles Ärgerliche und Unangenehme, das dir begegnen könnte, bereitwillig zu ertragen, sonst wirst du dich niemals an die Geduld gewöhnen.
Ist dir eine Arbeit ihrer selbst oder des Auftraggebers wegen unangenehm, oder weil sie dich von angenehmeren Beschäftigungen abhält, dann unterlasse sie trotzdem nicht! Fange sie nur an und setze sie fort, solltest du dich auch beunruhigt fühlen und durch ihre Unterlassung Ruhe finden können. Du würdest ja sonst niemals leiden lernen und deine Ruhe wäre doch keine echte, weil sie nicht aus einem von der Leidenschaft geläuterten und mit Tugenden geschmückten Herzen käme.
Dasselbe sage ich auch von lästigen Vorstellungen, die dein Gemüt bisweilen peinigen und verwirren. Du darfst sie nicht ganz von dir weisen, denn die Qual, die sie dir verursachen, dient dazu, dich zur Geduld in Widerwärtigkeiten zu erziehen.
Wer etwas anderes behauptet, der lehrt dich wohl mehr, der Mühsal aus dem Wege zu gehen, als die ersehnte Tugend zu gewinnen. Allerdings muß sich vor allem ein unerfahrener Kämpfer bei den erwähnten Gelegenheiten mit Vorsicht und Klugheit zurückhalten und schützen, indem er einmal beherzt vorgeht und dann wieder geschickt ausweicht, je nachdem er sich eine größere oder geringere Tugend und Geisteskraft erworben hat.
Niemals aber darf man ihnen ganz den Rücken kehren und sich derart vor ihnen zurückziehen, daß man jede unangenehme und widerwärtige Gelegenheit flieht. Wohl würden wir uns für den Augenblick vor der Gefahr eines Falles bewahren, doch später wären wir einer größeren Gefahr zur Sünde der Ungeduld ausgesetzt, weil wir uns nicht früher durch die Übung der entgegengesetzten Tugend gerüstet und gestärkt haben.
Misericordia:
38. Kapitel: Alle Gelegenheiten zum Kampf um die Tugenden soll man liebgewinnen
Ich bin noch nicht zufrieden, daß du zur Erwerbung der Tugenden die sich darbietenden Gelegenheiten nicht meidest; ich will vielmehr, daß du sie als überaus wichtige Ereignisse hochschätzt, gerne suchst und mit Freuden umfängst, sobald sie sich zeigen. Und gerade die sollen dir die kostbarsten und liebsten sein, die deinem Empfinden am meisten widerstreben.
Das wird dir mit Gottes Hilfe nicht schwerfallen, wenn du deinem Herzen folgende Erwägungen tief einprägst:
Erstens: Die Gelegenheiten sind angemessene, ja notwendige Mittel zur Erwerbung der Tugenden. Wenn du daher zum Herrn um diese betest, bittest du folgerichtig auch um jene, denn in der Regel schenkt er die Geduld nicht ohne Trübsal und die Demut nicht ohne Verachtung.
Dasselbe muß man von allen anderen Tugenden behaupten, die man zweifellos nur auf dem Wege der Widerwärtigkeiten erlangt, welche uns umso mehr zu diesem Zweck verhelfen und die uns umso lieber und willkommener sein sollen, je mühseliger sie für uns sind. Die Tugendakte sind in solchen Fällen viel hochherziger und stärker und bahnen uns viel schneller und leichter den Weg zur Tugend.
Dabei dürfen wir aber auch die unbedeutendsten Gelegenheiten, wie beispielsweise einen unfreundlichen Blick oder ein liebloses Wort, nicht gering einschätzen und unbenutzt vorübergehen lassen, denn dafür sind dann die Tugendakte viel häufiger, wenn sie auch nicht so kräftig ausfallen, als jene, die wir bei größeren Schwierigkeiten setzen.
Die zweite Erwägung, die ich bereits vorhin streifte, ist: Alles, was uns begegnet, kommt von Gott, und zwar zu unserem Besten und Nutzen, den wir daraus ziehen sollen. Freilich gibt es (wie gesagt) darunter manches, wie zum Beispiel unsere Fehler und die der anderen, von denen man nicht behaupten kann, daß sie von Gott, der die Sünde nicht will, herrühren. Dennoch sind sie im gewissen Sinne von Gott, insofern er sie zuläßt und nicht verhindert, obwohl er sie verhindern könnte.
Alle Mühsal und Pein, die uns entweder als Folge unserer Sünden oder durch die Bosheit der Menschen zustoßen, sind jedoch von Gott und aus Gott, insoweit er bei ihnen mitwirkt. Das in seinen allerreinsten Augen so Häßliche und Sündhafte, das damit verbunden ist und nach seinem Willen nicht eintreten sollte, will Gott nur, damit wir es auf uns nehmen und geduldig erleiden, einmal wegen des Nutzens, den wir aus der Tugendübung ziehen, und dann aus anderen gerechten, aber uns verborgenen Gründen.
Da wir nun den Willen Gottes genau kennen, daß wir jede Drangsal, die uns von Seiten der Menschen oder auch um unserer eigenen Sünden willen widerfährt, mit Ergebung dulden, so ist das Gerede, das viele zur Entschuldigung ihrer Ungeduld führen, nichts anderes als ein nichtiger Vorwand, um die eigene Schuld zu verdecken und das Kreuz, das wir nach dem Willen Gottes unleugbar tragen sollen, abzulehnen.
Aber noch mehr behaupte ich: Unter gleichen Umständen ist es dem Herrn viel lieber, wenn wir das Unrecht vonseiten der Menschen, namentlich von jenen, denen wir früher Dienste und Wohltaten erwiesen haben, ertragen, als die Unbilden, welche uns von anderen widrigen Zufällen widerfahren. Dadurch wird unser natürlicher Hochmut mehr als sonst im Keime erstickt und Gott durch unser freiwilliges Dulden in höchstem Maße erfreut und verherrlicht, weil wir hier bei einem Vorfall mitwirken, aus dem seine unaussprechliche Güte und Allmacht in hellstem Glänze hervorleuchtet, daß wir nämlich aus dem verderblichen Gift der Bosheit und der Sünde die köstliche und süße Frucht der Tugend und Vollkommenheit gewinnen.
Merke dir also, christliche Seele: Sobald der Herr das lebhafte Verlangen nach Fortschritt und das ernste und pflichtschuldige Streben nach dem Besitz eines so kostbaren Gutes in uns wahrnimmt, bereitet er den Kelch ungemein heftiger Anfechtungen und der schlimmsten Versuchungen, die es gibt, den wir dann gelegentlich trinken müssen. Und im Gedenken an seine Liebe und an unser eigenes Wohl sollen wir ihn mit geschlossenen Augen ergreifen und unbesorgt und bereitwillig bis zum letzten Tropfen leeren; denn die Arznei ist von einer Hand, die niemals einen Fehlgriff machen kann, mit Zutaten gemischt, die der Seele umso heilsamer sind, je bitterer sie schmecken.
Misericordia:
39. Kapitel: Wie wir uns bei verschiedenen Anlässen in derselben Tugend üben sollen
Vorhin haben wir gesehen, daß es nützlicher ist, sich eine Zeitlang nur in einer einzigen Tugend zu üben als in mehreren zugleich, und daß wir ferner alle sich bietenden Gelegenheiten nützen sollen, wenn sie auch untereinander sehr verschieden sind. Nun gib einmal acht, wie leicht du dies ausführen kannst.
Es kann sich an einem Tag, selbst in der nämlichen Stunde ereignen, daß wir wegen einer ganz einwandfreien Handlung zurechtgewiesen werden oder daß von anderen wider uns gemurrt wird; daß uns eine Gefälligkeit oder eine andere Kleinigkeit mit unhöflichen Worten abgeschlagen wird; daß ein häßlicher Verdacht ohne Grund wider uns aufkommt; daß uns irgendein körperlicher Schmerz befällt oder uns ein unangenehmer Auftrag gegeben wird; daß uns eine mangelhaft zubereitete Speise vorgesetzt wird oder uns schlimmere und schwerer zu ertragende Dinge begegnen, von welchen das armselige Menschenleben eben ausgefüllt ist.
Obschon man bei der Vielheit dieser oder ähnlicher Vorkommnisse verschiedene Tugendakte setzen kann, wollen wir uns nichtsdestoweniger an die angegebene Regel halten und nur durch solche Tugendakte fortschreiten, die der Tugend entsprechen, deren Übung wir uns zur Zeit vorgenommen haben.
Ertüchtigen wir uns zum Beispiel zur Zeit, in der sich die aufgezählten Ereignisse abspielen, in der Geduld, dann werden wir uns bemühen, alles mit willigem und heiterem Gemüt auf uns zu nehmen.
Ist es die Demut, so wollen wir bei all diesen Widerwärtigkeiten nicht vergessen, daß wir jedes Übel verdienen.
Ist es der Gehorsam, dann beugen wir uns bereitwillig der Hand des allmächtigen Gottes und um seines Wohlgefallens willen - weil er es verlangt - auch jeder vernünftigen, ja selbst der unbeseelten Kreatur, von deren Seite uns die Widerwärtigkeiten zustoßen.
Ist es die Armut, so geben wir uns zufrieden, allen irdischen Trostes, des großen wie kleinen, gänzlich entblößt und beraubt zu sein. Ist es die Liebe, dann erwecken wir Akte der Liebe gegen den Nächsten als Werkzeug des Nutzens, den wir erlangen können, und gegen Gott als den eigentlichen und liebreichen Urheber, von dem alles Unangenehme zu unserer Prüfung und zu unserem geistlichen Fortschritt ausgeht und zugelassen wird.
Aus all dem, was über die verschiedenen Vorfälle, die uns jeden Tag begegnen können, gesagt wurde, sieht man, wie wir schon bei einer einzigen Gelegenheit, zum Beispiel in einer längeren Krankheit oder einer anderen Not, beständig Akte jener Tugend erwecken können, in der wir gerade fortschreiten wollen.
Misericordia:
40. Kapitel: Von der Zeit der Tugendübungen und den Anzeichen des Fortschrittes
Die Dauer der Zeit zu bestimmen, die wir zur Übung in den verschiedenen Tugenden verwenden sollen, kann nicht meine Sache sein, da eine solche Festlegung sich nach der Beschaffenheit und dem Bedürfnis des einzelnen, dem Fortschritt auf dem Wege des geistlichen Lebens und dem Urteil des Seelenführers zu richten hat.
Geht man, wie gesagt, dabei planmäßig und mit Eifer zu Werke, so unterliegt es keinem Zweifel, daß man schon in wenigen Wochen große Fortschritte machen wird.
Ein Zeichen für die Fortschritte, die man in der Tugend bereits gemacht hat, ist, daß man trotz geistiger Trockenheit, Dunkelheit, Seelennot und mangels allen Trostes unbeirrt und unablässig in den Tugendübungen fortfährt. Ebenso ist auch die Stärke (bzw. die Schwäche) des Widerstandes, den die Sinnlichkeit den Tugendakten entgegensetzt, ein klarer Beweis dafür. Denn in demselben Maße, als diese an Kraft verliert, dürfen wir annehmen, daß wir vorangeschritten sind. Empfindet man namentlich bei plötzlichen und unvorhergesehenen Anfechtungen in den sinnlichen und niederen Trieben keinen Widerstreit und Aufruhr, so zeigt dies deutlich, daß wir die Tugend erworben haben.
Je größer die Bereitwilligkeit und Geistesfreude sind, die unsere Tugendakte begleiten, umso mehr können wir der Überzeugung sein, daß wir in unserer Tugend wirkliche Fortschritte zu verzeichnen haben.
Merke dir aber noch das eine: Wir dürfen uns keineswegs der Meinung hingeben, wir seien tatsächlich im vollen Besitz einer Tugend oder wir seien Sieger über eine unserer Leidenschaften, wenn wir nach längerer Zeit und nach vielen Kämpfen keine Regung der Sinnlichkeit mehr verspüren. Dabei können die Arglist und der Einfluß des bösen Feindes und unser trügerisches Naturell die Hand im Spiele haben, so daß wir einen Fehler in unserem geheimen Hochmut noch für eine Tugend ansehen.
Trachten wir übrigens nach jener Vollkommenheit, zu welcher Gott der Herr uns beruft, dann werden wir uns nie einbilden, auch nur die ersten Grenzsteine auf dem Weg der Tugend überschritten zu haben, sollten wir auch schon lange auf ihm gewandert sein.
Ja, gleich einem neugeworbenen Krieger, der soeben seine Ausbildung zum Kampfe erhielt, fang immer wieder von neuem deine Übungen an, gerade als ob du dich bisher noch nicht ertüchtigt hättest.
Außerdem erinnere ich dich daran, daß du mehr auf dein Vorankommen in der Tugend bedacht bist, als daß du deinem schon erreichten Fortschritt nachforschst; denn Gott der Herr, der eigentliche und alleinige Erforscher unserer Herzen, gibt ihn den einen zu erkennen, den anderen wieder nicht, je nach der Wahrnehmung, ob diese Kenntnis zur Demut oder zum Hochmut führt, und als liebevoller Vater nimmt er den einen die Gefahr hinweg und bietet sie anderen als eine Gelegenheit zum Wachstum in der Tugend an.
Bemerkt die Seele auch gar keinen Fortschritt, so soll sie trotzdem in ihrer Tugendübung nicht nachlassen; sie wird ihn einmal wahrnehmen, wenn es der Herr für gut findet, ihn zu ihrer größeren Vervollkommnung erkennen zu lassen.
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