Wie die Rose lernte, demütig zu werden
Es war einmal vor langer, langer Zeit eine Rose. Sie war sehr schön anzusehen und wusste auch selbst um ihre Schönheit.
Morgens, wenn die ersten Sonnenstrahlen die Tautropfen auf den Blättern zum eiligen Aufstehen antrieben, stand sie schon am Ufer des Sees und betrachtete ihr Spiegelbild im Wasser.
„Sie ist sehr eitel“, sagten die Seerosen und drehten sich im Wind.
Abends wiederholte sich das Gleiche, und so geschah es, dass ihre eigene Schönheit die Rose immer mehr verwirrte. Denn jedermann weiß, dass Eitelkeit blind machen kann.
Am Ende dachte sie gar, unter allen Blumen, die der liebe Gott auf dem weiten Erdenrund gemacht hatte, sei sie die Schönste.
Ja, es müsse so sein, denn auch die Menschen nannten die Rose eine „herrliche Blume“, die nur für das Höchste verschenkt wurde, das es auf Erden gibt: Für die Liebe.
So verging die Zeit, und die Rose merkte nichts von ihrer Verblendung. Oft lachte und spottete sie im Kreis der übrigen Blumen: „Ha, seh´sich einer die Tulpen an. Wie billig ihre Blätter gemacht sind. So flach und ohne jede Eleganz. Bei mir, zum Beispiel…“ Dann fing sie an, ihre Vorzüge zu preisen, und hörte damit nicht mehr auf. Alle anderen Blumen waren schon längst gegangen, da erzählte sie immer noch von ihrer eigenen Unvergleichlichkeit.
Ja, sie war sehr stolz geworden, die Rose.
Eines Tages aber geschah etwas Merkwürdiges. Ein Gewächs kam in den Garten, das so fremd und andersartig aussah, dass alle Blumen sich wunderten. „Das ist gar keine Blume“, sagten manche. „Das ist ein Igel.“ Die Nelke meinte: „Nein, ein Igel hat keine Wurzeln. Es ist vielleicht eine Gurke mit Zahnstochern!“ Alle lachten und am lautesten lachte die Rose über den Kaktus. Denn das war der neue Bewohnter.
Schon bei der Begrüßung war er ein wenig tolpatschig:
„Ähm, guten Tag zusammen. Ich bin ein Kaktus.“
Alle Blumen verhielten sich das Lachen bei dem komischen Namen: Kak…pffft, prustete die Aster im Hintergrund, und dann brach es los: „Und überhaupt, warum bist du so hässlich?“ fragte die Rose. „Als Blume, oder sagen wir einmal vorsichtig in deinem Fall als „Pflanze“ hat man doch Blätter!“ Dabei dehnte die Rose das „ä“ und warf den anderen Blumen vielsagende Blicke zu. „Du hast nur so hässliche Gräten aus deinem Leibe stehen. Also, so würde ich mich niemals unter die Leute trauen.“
Der arme Kaktus. Aber in seiner gutmütigen Art antwortete er ganz offenherzig: „Also genau weiß ich auch nicht, warum. Aber es hat einen Nutzen, weil – mein Urgroßvater hat mir erzählt, dass der liebe Gott alles, was er macht, mit Sinn und Verstand macht.“
„Ha, Sinn und Verstand“ Hässlichkeit und Unbrauchbarkeit, so könnte man diese Stacheln nennen!“, sagten die Stiefmütterchen.
Ganz traurig ging der Kaktus auf seinen Platz, war aber in seinem Herzen niemandem böse. Er war nie böse, obwohl die Menschen oft schimpften, wenn sie zu nahe an ihn herankamen und er sie mit den spitzen Dornen stach, was er aber gar nicht wollte.
Abends, wenn die Blumen zusammen saßen und sich die Geschichte vom Garten Eden erzählten, wo es Blumen gab, von denen kein Mensch auch nur zu träumen wagt, da erzählte auch der Kaktus:
„Meine Brüder, die großen Kakteen, die in der Wüste von Alabama stehen oder auch in der Sahara, die sind so groß, größer als ein Mensch. Meine Mutter hat mir davon erzählt.“ Denn der Kaktus selber war wohl nur eine Elle hoch. „Und einmal im Leben blühen sie!“, sagte er voll treuherziger Begeisterung.
Aber da fiel die Rose schon ein: „Lachhaft. Einfach lächerlich. Jeden Tag erblühe ich, und wenn man mich nicht abschneidet, dann blühe ich ganz viele Tage im Jahr.“
So oder ähnlich sprachen auch die anderen Blumen.
So geschah es, dass der Kaktus oft alleine da saß. Niemand wollte mit ihm reden. Dann setzte er sich an das Ufer des Sees und betrachtete die Seerosen. „Wie schön ihr seid!“ rief er hinüber. Und die Seerosen freute es, und sie drehten sich vor ihm im Wind.
Doch mit einem Mal wurde im Garten alles anders. Den Rosen und allen anderen Blumen war eines nämlich nicht aufgefallen: Der Regen, den sie täglich erhielten, stammte gar nicht vom Himmel, sondern von einer Bewässerungsanlage. Der Garten war nämlich als Oase angelegt worden, mitten in einer afrikanischen Steppe.
Der Besitzer war ein Kolonialherr und musste wegen eines Krieges außer Land. Die Menschen führen nämlich immer Krieg, wenn sie nicht mehr weiter wissen. Da der Krieg kein Ende nehmen wollte, kehrte der Gärtner nicht mehr heim, und die Bewässerungsanlage fiel aus. Es wurde mit den Tagen immer heißer im Garten: Alle ächzten unter der Hitze, die meisten klagten über Kopfweh, und viele Blumen ließen schon die Blätter welk nach unten hängen.
Nur der Kaktus fragte, was sie denn hätten. Als Antwort sagten ihm die Veilchen: „Wahrscheinlich bist zu dumm und merkst nicht einmal das!“
Doch der Kaktus war nicht zu dumm, er erkannte genau, was jetzt geschah: Darum also hatte er so spitzige Dornen: Selbst wenn die heißeste Sonne des Südens darauf schien, konnten sie nicht welk werden. Sie konnten überhaupt nicht kaputt gehen, mochte es noch so warm sein. Und sein dicker Körper, der ja viel größer war als der Stiel der übrigen Blumen, die oft nur über einen mageren Stängel verfügten, konnte Unmengen von Wasser speichern. Darum war er auch nicht durstig, als die anderen schon beinahe nicht mehr atmen konnten und ihnen die Blätter am Leibe klebten.
Eines Morgens war es so weit: Als er durch den Garten ging, lagen die übrigen Blumen nur noch am Boden. Die Rose hatte es als Erste getroffen. Sie stöhnte nur noch vor sich hin. Die Pellagonien hauchten immer wieder: „Wasser, Wasser…“. Und die Vergissmeinnicht sagten leise: „Wir verdursten…!“
Da wurde der Kaktus unsagbar traurig. Was sollte er tun? Erl lief von einer Blume zur anderen, aber viele konnten gar nicht mehr mit ihm sprechen.
„Ich habe Wasser“, sagte er. „Hier, in meinem Inneren. Ich sehe zwar aus wie eine Gurke, aber dafür ist viel Wasser in mir gespeichert.“
„Gib uns dieses Wasser“, sagten die Maiglöcklein, „bevor es zu spät ist.“
Der Kaktus dachte angestrengt nach. Wie sollte er das bewerkstelligen? Er selber hatte ja nie Durst, weil das Wasser ja in ihm war. Aber wie sollten die übrigen Blumen von dem Wasser bekommen?
Da hatte er eine Idee. Er ging zum Werkzeug des Gärtners und sah sich um. Nach einigem Suchen fand er, was er haben wollte: Die große, spitze Gartenschere, mit welcher der Meister die Hecken zu schneiden pflegte.
Er nahm sie und blickte sie an: „Jetzt musst du tapfer sein“, dachte er. Ohne zu zögern schnitt er sich selber eine tiefe Wunde in seinen Leib. Erst war er vom Schmerz noch wie benommen und musste sich setzen. Aber es geschah genau das, was er sich gedacht hatte: Aus der tiefen Wunde fing das Wasser langsam an zu träufeln. „Jetzt keine Zeit verlieren“, kam es ihm in den Sinn.
Unter großen Schmerzen erhob er sich und lief von einer Blume zur anderen. Langsam tropfte er das wertvolle Nass auf ihre Wurzeln und auch ein klein wenig auf die Blätter, um sie vor dem sicheren Dürretod zu retten. Das tat er bei allen Blumen, und er tat es drei Tage lang – am Morgen und am Abend. Zwischendurch musste er sich hinsetzen und ausruhen, denn die Wunde schmerzte ihn sehr. „Ich muss es tun“, dachte er und vergaß dabei ganz auf sich selbst. Am dritten Tag setzte er sich erschöpft auf einen Stein und hielt inne.
So, jetzt gebe ich noch den letzten Tropfen der Rose“, sagte er und beugte sich über sie. „Danke“, hauchte sie zart. Dann legte sich der Kaktus unter einen Stein und schlief vor Erschöpfung ein.
Am selben Tag kam der Gärtner vom Krieg zurück. Und was für ein seltsames Bild bot sich ihm: Die Bewässerungsanlage war ausgefallen, und dennoch waren die Blumen nicht verdorrt. Sie lagen zwar auf dem Boden, aber um jede einzelne Blume war an den Wurzeln ein feuchter Fleck, gerade so viel, dass sie am Leben bleiben konnten.
Gleich ließ er das Wasser wieder laufen, und die Blumen kamen nach kurzer Zeit wieder zu Kräften.
Als Erstes war die Rose wieder ganz hergestellt und hatte nur eine Frage: „Wo ist der Kaktus?“ Auch die anderen Blumen kamen langsam wieder zu sich und riefen: „Ja, wo ist er? „Wir müssen ihn suchen“, sagten die Herbstzeitlosen.
Alle liefen durch den Garten, bis die Rose schließlich rief: „Hier“ Kommt schnell!“ Als die anderen herbeigeeilt waren, sahen sie ein wundersames Bild: Die Rose kniete im Staub, in ihren Blättern hielt sie den Kaktus. Die Stacheln taten weh, aber sie sagte kein Wort.
Er ist tot“, schluchzten die Seerosen. „Er war so gut.“
„Er hat uns allen das Leben gerettet!“
Vorsichtig, ganz zärtlich betteten sie seinen Leib unter den Lindenbaum. Die Rose aber nahm eines ihrer Blätter und legte es in die Wunde des armen Kaktus.
„Verzeih mir, kleiner Kaktus“, flüsterte sie, und die Tränen fielen wie Regentropfen aus ihren Augen. „Ich habe dir Unrecht getan.“
Den übrigen Blumen im Garten fiel auf, dass die Rose seit jenem Tag nie mehr in das Wasser blickte, um ihre eigene Schönheit zu sehen.