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Meisner: Ich wünsche mir keine neue Kirche und keine neue Theologie

Kölner Kardinal Meisner: Ich liebe unsere Kirche in ihrer Not und in ihren Demütigungen, in den Schwächen eines jeden von uns wie in ihrem unendlichen Schatz an verborgener Heiligkeit

 

Köln (kath.net/pek) „Ich liebe unsere Kirche in ihrer Not und in ihren Demütigungen, in den Schwächen eines jeden von uns wie in ihrem unendlichen Schatz an verborgener Heiligkeit.“ Dies sagte Joachim Kardinal Meisner, der Erzbischof von Köln, am Montag in seiner Predigt zur Chrisammesse im Hohen Dom von Köln. Mit einem Zitat von Henry de Lubac, welches „mein Bekenntnis“ und „euer Bekenntnis“ sein wolle, sagte der Kölner Kardinal weiter, dass er nicht das „Bedürfnis nach einer „neuen Kirche“ (Was für eine Kirche sollte das denn sein?)“ verspüre, und dass er sich auch nicht wünsche, „dass eine ‚neue Theologie‘ erfunden wird. Ich liebe unsere Kirche in ihrer Not und in ihren Demütigungen, in den Schwächen eines jeden von uns wie in ihrem unendlichen Schatz an verborgener Heiligkeit“.

Es gebe einen „Unglaube(n) der Gläubigen“, mahnte Kardinal Meisner angesichts der vergangenen und aktuellen radikalen Veränderungen der „Physiognomie der Kirche“. „In solchen Umbruchsituationen werden wir unseren weiteren Dienst als Priester oder Diakone ohne feste menschliche Sicherungen wagen dürfen, nämlich allein auf sein Wort hin.“ Das große Wagnis bestehe dann darin, sich Gott zu überlassen. „Wir möchten uns lieber auf unsere Fundamente, Argumente und Prognosen verlassen als auf das Wort des Herrn. Aber solch ein Wagnis ist ein Schritt zum lebendigen Glauben, weil es ein Sprung in Gottes Hände ist.“

kath.net dokumentiert die Predigt zur Chrisammesse von Erzbischof Joachim Kardinal Meisner im Hohen Dom zu Köln am 2. April 2012

Liebe Mitbrüder im geistlichen Amt,
liebe Schwestern und Brüder in Christus, dem Herrn!

1. „Wir gehen jetzt nach Jerusalem hinauf; dort wird der Menschensohn den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten ausgeliefert; sie werden ihn zum Tod verurteilen und den Heiden übergeben; sie werden ihn verspotten, anspucken, geißeln und töten“ (Mk 10,33). Wir kennen auch gleich die Reaktion der Apostel auf diese Einladung des Meisters: „Da nahm ihn Petrus beiseite und machte ihm Vorwürfe; er sagte: Das soll Gott verhüten, Herr! Das darf nicht mit dir geschehen!“ (Mt 16,22). Aber der Herr deutet diesen Einzug in die Heilige Woche an anderer Stelle mit den Worten: „Da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er Ihnen seine Liebe bis zur Vollendung“ (Joh 13,1), ja bis zum Tod. Er mag uns leiden. Wirkliche Liebe in dieser Welt hat immer auch das Gesicht des Leides. Ich werde nicht müde, das immer wieder in Erinnerung zu rufen, damit wir nicht, wenn es mit der Liebe losgeht, davonlaufen, wie die Jünger vor Jerusalem das wollen. Der sündige Mensch ist selber die Passion des Herrn geworden.

Dazu sind wir gerade als Priester eingeladen. Neben dem gebeteten Credo: „gekreuzigt, gestorben, begraben, auferstanden, aufgefahren“, gibt es ein gelebtes Credo für uns: „mitgekreuzigt, mitgestorben, mitbegraben, mitauferweckt, mithineinversetzt“. Jesu Leben ist das große Paradigma, nach dem das Leben des Priesters dekliniert wird. Wir sollten versuchen, unsere alltäglichen Situationen im Leben Jesu zu finden, um sie damit zu verbinden: unsere Taborstunden und unsere bitteren Ölbergstunden mit den seinigen, die Not der Gottverlassenheit und die stille Freude des gemeinsamen Weges und Mahles. Das „mit ihm“ ist die Methode, ist die Form, wie unser Weg Christi Weg und unser Leben Christi Leben wird. Eine Angst, die nicht mit ihm gelitten, eine Beschimpfung, die nicht mit ihm getragen, ein Tod, der nicht mit ihm gestorben, aber auch ein Auferstehungsfest, das nicht mit ihm gefeiert wird, sind zwar wie ein aufgeschriebener, aber nicht unterschriebener Scheck. Es hat jemand gesagt: „Wer sich Gott zu 95 Prozent hingibt, gibt 5 Prozent zu wenig“.

2. Jeder von uns zimmert sich für sein priesterliches Leben im Laufe der Jahre sein Haus, seine Behausung. Er macht sich seine Gedanken und seine Pläne. Mit der Zeit richten wir uns alle irgendwie fest ein und fühlen uns in dem selbstgezimmerten Haus wohl. Dann aber gibt es plötzlich Situationen, wo alles ganz anders kommt. Unsere Seelsorge heute sah vor 20 Jahren noch ganz anders aus und vor 20 Jahren anders als vor 200 Jahren. Die Physiognomie der Kirche hat sich so radikal in unserer Lebenszeit als Priester und Diakone verändert und ist immer noch dabei sich zu verändern. In solchen Umbruchsituationen werden wir unseren weiteren Dienst als Priester oder Diakone ohne feste menschliche Sicherungen wagen dürfen, nämlich allein auf sein Wort hin. Das große Wagnis besteht dann darin, dass wir uns ihm überlassen, ihm übereignen, ihm überantworten. Der Glaube ist die ständige Bereitschaft, den Standort zu verlagern vom Ich zum Du des Herrn.

Dreimal muss Abraham seinen Standort verlassen: 1. Er muss fortziehen an einen Ort, den er nicht kennt. „Und er zog weg, ohne zu wissen, wohin er kommen würde“ (Hebr 11,8). 2. Er muss seine gescheite Kalkulation aufgeben. Er wird zum Vater vieler Völker bestellt, obgleich sein Leib und der Mutterschoß Sarahs schon erstorben waren (vgl. Röm 4,17-20). 3. Er muss Isaak, seinen Einzigen und Liebsten, opfern, obwohl ihm in Isaak eine zahlreiche Nachkommenschaft verheißen war (vgl. Hebr 11,17-19). Dreimal muss er seinen Standort aufgeben: sein Land, seine vernünftigen Gedanken und seine Zukunftspläne. In keinem Fall kann er sehen, wie das weitergehen soll. Alles spricht dagegen. Aber er glaubt an den „Gott, der die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft“ (Röm 4,17), der das Unmögliche möglich macht und dort einen Weg findet, wo der Mensch nichts mehr sieht. „Er zweifelte nicht im Unglauben an der Verheißung Gottes, sondern wurde stark im Glauben, und er erwies Gott die Ehre, fest davon überzeugt, dass Gott die Macht besitzt, zu tun, was er verheißen hat“ (Röm 4,20f), so der Apostel Paulus im Römerbrief.

Es gibt Situationen in unserem priesterlichen Leben, in denen wir uns und die uns Anvertrauten zu diesem Wagnis auf sein Wort hin ermutigen müssen. Glaube greift bis in die Wurzeln unserer Existenz. Glaube heißt dann, sich loslassen, sich ihm überlassen, ihm übereignen und ihm überantworten.

Das ist der „Unglaube der Gläubigen“, dass wir dies oft nicht tapfer wagen wie Abraham. Wir möchten uns lieber auf unsere Fundamente, Argumente und Prognosen verlassen als auf das Wort des Herrn. Aber solch ein Wagnis ist ein Schritt zum lebendigen Glauben, weil es ein Sprung in Gottes Hände ist.

2. Wir sind mit dem Herrn eingeladen, nach Jerusalem zu ziehen, und zwar nicht nur als harmlose Begleiter, sondern als – wie wir schon erwähnt haben – Konzelebranten, als Konpassionisten und als Konresurrektionisten.

Lassen wir uns in Erinnerung rufen: Wir sind als Priester nicht Landräte und Verwaltungsorgane des lieben Gottes in seiner Weltregierung, vielmehr sind wir Mitgehende, Mitopfernde, Mitliebende, Mitleidende.

Der Weg zum neuen Menschen, zur neuen Welt ist das Kreuz Christi. Es ist die Passion der Kirche. Die Kirche – vergessen wir das nie – steht in der Nachfolge des armen, verlassenen, gekreuzigten Herrn, der außerhalb der Stadt gestorben ist, um durch seinen Tod der ganzen Welt das Leben zu geben: „Denn durch sein heiliges Kreuz hat er die Welt erlöst“.

„Die Passion des Herrn dauert bis zum Ende der Welt“, sagt Papst Leo der Große. Die existentielle Nachbildung der Passion in der Kirche und im Leben von uns ist der Eingang in Jesu geschichtliche Verlassenheit, vielleicht sogar ein Anteil an ihr: der Ort vor dem Unüberwindlichen in der unüberwindlichen Nacht.

Wenn die Kirche das, was sie im Namen des Herrn tut und um des Namens Jesu willen trägt, tut und trägt sie es für unser und aller Welt Heil.

Wie Christus das Werk der Erlösung in Armut und Verfolgung vollzogen hat, so ist auch die Kirche gerufen, den gleichen Weg zu gehen, um die Heilsfrucht den Menschen mitzuteilen. So kommt durch das Kreuz Freude in alle Welt. Es wird nämlich zum Zeichen des Heiles und der Hoffnung. Ob nicht so gerade unsere kleiner werdenden oder unsere sterbenden Gemeinden missionarische Gemeinden werden, durch deren Dienst die Wasser des Heiles in die Welt fließen, wie aus dem geöffneten Herzen des Herrn am Kreuz?

Wir schicken uns an, die Liturgie der großen Heiligen Woche zu feiern. Sie ist kein isoliertes Geschehen, gleichsam abgesondert in sakralen Räumen und Zeiten von der übrigen Welt. In den gefeierten Mysterien empfangen wir „die Kräfte der zukünftigen Welt“ (Hebr 6,5), die sich im Leben der Priester, der Diakone, die sich in Ehe und Familie, Betrieb, Gesellschaft und Wirtschaft auswirken müssen. Wir dürfen nicht nur die Feiern vorbereiten und vollziehen, vielmehr muss auch die Welt ihre Wirkungen erfahren.

3. Zwischen dem Auszug aus Ägypten und dem Einzug ins Gelobte Land liegt der lange, beschwerliche Marsch durch die Wüste. 40 Jahre zieht Israel umher in wasserlosem Land. Es gibt kein Brot, es gibt kein Wasser. Des Nachts lauern die Nattern und Vipern in ihrem Versteck. Feindliche Völker liegen im Hinterhalt. Es gibt keinen Schutz vor Sonne und Regen, Frost und Kälte. Nirgendwo eine bleibende Stätte! Liegt nicht auch vor uns eine weite und beschwerliche Fahrt zwischen dem Auszug aus dem Lande Ägypten und dem Einzug in das Himmlische Jerusalem?

Kann die Herde, unsere Kirche, in diesem weg- und wasserlosen Land nicht manchmal müde werden? Geht es uns nicht wie dem Volke Israel, das rief: „Warum schläfst du, Herr?“ (Ps 44,24), oder wie Elija, der vor lauter Müdigkeit unter einem Ginsterstrauch einschläft (vgl. 1 Kön 19,5- 8): ein müder Prophet, ein müder Bischof, ein müder Priester, ein müder Diakon, ein müdes Volk, ein müder Christ, eine müde Gemeinde? Liegt das, was Gott mit uns in der Taufe und Weihe getan hat, nicht so weit zurück und das, was er uns geben will, nicht noch so weit in der Zukunft? Aber jetzt, heute und hier, woher bekommen wir Hilfe?

Wir weihen heute die heiligen Öle. Sie sind die verflüssigte Gnade Gottes, mit denen uns seine durchbohrten österlichen Hände berühren bei der Taufe, bei der Firmung, bei der Priesterweihe, bei der Krankensalbung.

Und weil Priesterweihe möglich ist, deshalb stehen am Pilgerweg des Volkes Gottes die Herbergen Gottes, wo uns das Brot des Lebens und der Kelch des Heiles gereicht werden. Der Herr vergisst sein Volk auf dem Wüstenwege nicht! Er nährt es mit einem Brot, das alle Kraft in sich enthält. Der Herr lässt sein Volk und seine Propheten nicht allein! „Ich habe Mitleid mit diesen Menschen; sie sind schon drei Tage bei mir und haben nichts mehr zu essen. Wenn ich sie hungrig nach Hause schicke, werden sie unterwegs zusammenbrechen“ (Mk 8,2f), heißt es vor der wunderbaren Brotvermehrung. Dem müden Propheten Elija schickt er Brot, und in der Kraft dieses Brotes wandert dieser vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Gottesberge Horeb. Dem Volke Israel ließ der Herr Manna vom Himmel regnen, und in der Kraft dieses Brotes wanderte es vierzig Jahre durch die Wüste ins gelobte Land. Lässt uns der Herr ohne Brot? In unserer Kirche könnte vieles fehlen, aber eines nie: der Altar.

Um den Altar versammeln wir uns täglich und mit unseren Gemeinden Sonntag für Sonntag. Zum Altar gehört heilsnotwenig der Priester. Der Herr lässt uns nicht ohne Brot! Er wird und ganz bestimmt nicht ohne Priester lassen! Mit Henri de Lubac bin ich vor fast 30 Jahren zusammen Kardinal geworden. Sein Bekenntnis zur Kirche ist mein Bekenntnis. Mein Bekenntnis und sein Bekenntnis sollte auch euer Bekenntnis sein: „Ich verspüre nicht das Bedürfnis nach einer „neuen Kirche“ (Was für eine Kirche sollte das denn sein?), und ich wünsche mir auch nicht, dass eine „neue Theologie“ erfunden wird. Ich liebe unsere Kirche in ihrer Not und in ihren Demütigungen, in den Schwächen eines jeden von uns wie in ihrem unendlichen Schatz an verborgener Heiligkeit. Ich liebe diese große Kirche, in der, wie Gregor der Große sagt, „unus portatur ab altero“ (ein jeder vom anderen getragen wird), selbst wenn der eine oder andere sich als Feind fühlt, selbst wenn wir ein schwaches Bild abgeben. Ich liebe diese große Kirche, in der diejenigen, die ein öffentliches Amt bekleiden, – ohne dass sie es wissen – getragen werden vom Gebet der Demütigen, die die Welt nie kennen wird. Ich liebe sie in ihrem heutigen, ernsthaften und schwierigen Bemühen, sich zu erneuern“.

„Wir gehen jetzt nach Jerusalem hinauf!“: in den Abendmahlssaal, an den Ölberg, zur Schädelstätte Golgotha, zum leeren Grab, nach Emmaus. In diesen Tagen wollen wir dem Herrn folgen, wohin er geht: Priester und Diakone Gottes in der Gefolgschaft des Herrn, das Volk Gottes in der Gefolgschaft seines Herrn. Dass wir hier nicht fehlen, wo das Volk Gottes uns braucht! Amen.

+ Joachim Kardinal Meisner
Erzbischof von Köln

 

La Salette 1846



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