Joseph wußte noch nichts von dem, was sich mit Maria zugetragen hatte. Gott offenbarte nun auch ihm das Geheimnis der Menschwerdung. Ein Engel erschien ihm im Traum und sprach zu ihm: „Joseph, Sohn Davids, nimm Maria zu dir! Sie ist durch die Wirkung des Heiligen Geistes Mutter des Sohnes Gottes. Diesem sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk erlösen von dessen Sünden.“ Joseph tat, wie ihm der Engel befohlen hatte.
In damaliger Zeit ging von dem römischen Kaiser Augustus der Befehl aus, daß der ganze Erdkreis (das ganze römische Reich) aufgeschrieben werde. Diese Aufschreibung geschah als die erste unter der Statthalterschaft des Cyrinus (Quirinius) über Syrien. Jeder mußte daher an den Stammort seiner Familie gehen, um sich da anzugeben. (1) Da gingen auch Maria und Joseph, weil sie aus dem königlichen Geschlecht Davids waren, nach Bethlehem (2), der Stadt Davids. Wegen der vielen Fremden, die schon gekommen waren, fanden sie indes keine Herberge. (3) Sie gingen deshalb in eine vor der Stadt befindliche Grotte. Hier wurde Jesus Christus (4) geboren, der eingeborene Sohn Gottes und Heiland der Welt; und die jungfräuliche Mutter wickelte das Kind in Windeln und legte es in eine Krippe. (5)
Es waren Hirten in dieser Gegend, die Nachtwache hielten bei ihren Herden. Plötzlich stand ein Engel des Herrn vor ihnen, und die Herrlichkeit Gottes umstrahlte sie, und sie fürchteten sich sehr. Der Engel aber sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht; denn siehe, ich verkündige euch eine große Freude, die allem Volke zu Teil werden wird; denn heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren worden, der ist Christus der Herr. Und dies soll euch zum Zeichen sein: ihr werdet ein Kind finden in Windeln eingewickelt und in einer Krippe liegend.“ (6) Und sogleich war bei dem Engel eine Menge himmlischer Heerscharen, die Gott lobten und sprachen: „Ehre sei (ist) Gott in der Höhe (7), und auf Erden Friede (8) (unter) den Menschen des (göttlichen) Wohlgefallens. (9)
Als die Engel (10) sich wieder in den Himmel erhoben hatten, sprachen die Hirten zueinander: „Laßt uns nach Bethlehem hinüber gehen und das sehen, was der Herr uns verkünden lassen!“ Und sie kamen eilends (11) und fanden Maria und Joseph und das Kind, das in der Krippe lag. Als sie es sahen, erkannten sie (12) die Wahrheit alles dessen, was ihnen von diesem Kindlein war gesagt worden. (13) Und alle, die es hörten, verwunderten sich über das, was die Hirten ihnen erzählten. Maria aber bewahrte alle diese Worte (14) und erwog sie in ihrem Herzen. (15) Und die Hirten kehrten zurück und priesen und lobten Gott über alles, was sie gehört und gesehen hatten.
Acht Tage darauf ward das Kind beschnitten und erhielt dabei den Namen Jesus, wie es der Engel schon bei der Verkündigung gesagt hatte. (16)
Anmerkungen:
(1) Die Schätzung geschah nach jüdischer Sitte. Zum sichern Nachweis echt israelitischer Abstammung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie wurde nach Stamm, Geschlecht, Haus und einzelnen Familien gemustert (vgl. 1. Esr 2, 59. 62); die Familienregister befanden sich am Stammort der Familienglieder. Auch lagen die unveräußerlichen Erbgrundstücke innerhalb des betreffenden Stammesanteils. – So mußte ein heidnischer Kaiser, der „die ganze Welt“ zu beherrschen glaubte, die mehr als 700 Jahre früher gegebene Weissagung des Propheten Michäas (5, 2) in Erfüllung bringen, daß der Messias in Bethlehem geboren werde. (2) Der Weg von Nazareth nach Bethlehem ist ungefähr gerade so weit wie der Weg von Nazareth nach St. Johann, also 30 Stunden, etwa 4 Tagereisen. (3) So geschah hier buchstäblich, was der Hl. Johannes (1, 11) sagt: „Er kam in sein Eigentum, und die Seinigen nahmen ihn nicht auf.“ – Ein trauriges Vorbild der Verblendung, in der später die Mehrzahl der Juden den Erlöser und seine Gnade von sich stieß. (4) Der Name „Christus“ verdankt der griechischen Übersetzung zum AT seinen Ursprung; er gibt das hebräische Maschiach = Messias wieder. (5) Jesu Armut ist unser Reichtum: „Auf Erden kam er nackt und arm, auf daß er unser sich erbarm`, Uns in dem Himmel mache reich, und seinen heil`gen Engeln gleich.“ (6) Die Zeichen seiner ersten Ankunft in Demut und Niedrigkeit, wie die Propheten sie vielfach angekündigt hatten, z.B. Am 9, 11; Is. 11, 1; 53, 2. Die Zeichen seiner zweiten Ankunft werden ganz andere sein. (Vl. Mt. 24, 29f; 25, 31; 26, 64) Das Zeichen war der Demut und Einfachheit der Hirten ganz entsprechend, zugleich eine Mahnung an alle, die Jesus finden wollen, ihn in Einfalt und Demut des Herzens zu suchen. (Vgl. Mt. 11, 25; 1. Kor. 1, 26ff) (7) In ganz einziger Weise, weil dieses Wunderwerk seiner Allmacht und Liebe alle andern
übertrifft. – In der Höhe, im Himmel, wo dieser Lobpreis am herrlichsten ist, dann aber auch auf der Erde, die gerade durch die Menschwerdung Gottes mit der Herrlichkeit und dem Lobpreis Gottes erfüllt wird. (Is. 6, 3) (8) Der Friede mit Gott durch die Erlösungs-Gnade; im eigenen Herzen durch den Sieg der Gnade über die Leidenschaften; und mit den Menschen infolge der Vereinigung der Herzen in Gott. Die Folge davon ist eine heilige Freudigkeit und jener Friede Gottes, der allen Begriff übersteigt. (Vgl. Ps. 71, 7; Mich. 5, 5; Joh. 14, 27; Phil. 4, 7; Gal. 5, 22) Ein schönes Symbol dieses geistigen Friedens war der allgemeine Weltfriede, der unter Augustus gerade zur Zeit der Geburt des himmlischen Friedensfürsten herrschte. (9) D.h. (unter) den Menschen, auf denen das göttliche Wohlgefallen, die göttliche Gnade ruht, indem sie sich willig und gläubig dem Messias anschließen, von seiner Wahrheit und Gnade sich leiten lassen (vgl. Lk. 10, 16; Röm. 2, 10; Gal. 6, 16). Die besonders durch Allioli eingebürgerte deutsche Übersetzung: „die eines guten Willens sind“, ist zwar nicht sinnwidrig, aber nicht ganz richtig. Denn auch in der Vulgata bezieht sich, wie der Vergleich mit dem Originaltext (und mit andern Schriftstellen, z.B. Phil. 2, 13) lehrt, der Ausdruck bonae voluntatis auf Gott und bedeutet „des (göttlichen) Wohlgefallens“. (10) Nachdem auch sie ihren Herrn und Gott in der Krippe demütig angebetet hatten. (Vgl. Hebr. 1, 6; S: Aug., Serm. in die nat. Domini) (11) Vor Freude und Verlangen. Die Hirten sind ein Beispiel für uns, daß man Jesus nicht mit Lauigkeit und Nachlässigkeit suchen darf. Wir eilen aber zu Jesus durch stets Wachstum im Glauben und in der Tugend. (12) Auch hier dürfte der Vulgatatext im Hinblick auf das griechische Original und die folgenden Textworte so zu übersetzen sein: „Sie machten alles das kund…“ (13) Und sie handelten nach dieser Erkenntnis, indem sie dem Kinde huldigten, seine jungfräuliche Mutter ehrten und ihr die Erscheinung der Engel erzählten. (14) Um sie selbst immer tiefer zu erkennen und dereinst auch andern mitzuteilen. Vielleicht will der hl. Lukas uns hier die Quelle andeuten, aus der er selbst diese Mitteilungen geschöpft hat. (15) In heiliger Betrachtung dieser großen Geheimnisse der Liebe Gottes. Sie erwog die Größe Gottes im Himmel und seine unbeschreibliche Erniedrigung, die sie täglich vor Augen hatte, die großen Absichten seiner Liebe und diese seine geheimnisvolle Verborgenheit etc. Wer vermag die Tiefe und Innigkeit dieser Betrachtungen, die Glut der Andacht und Liebe, die sich daran entzündete, zu ermessen! Wir sollen darin die heilige Mutter Gottes nachahmen, besonders wenn der Sohn Gottes in ähnlicher Entäußerung sich uns zeigt und in unserem Herzen ruht in der heiligen Kommunion. (16) Als der eingeborne Sohn Gottes und die unendliche Heiligkeit selbst bedurfte Jesus in keiner Weise der Beschneidung. Dennoch wollte er sich dieser blutigen und schmerzhaften Zeremonie unterwerfen, und zwar hauptsächlich aus folgenden Gründen: a) Um das Gesetz des Alten Bundes ausdrücklich als heilig und von Gott gegeben anzuerkennen, es feierlich zur vollkommensten Erfüllung an unserer Statt auf sich zu nehmen, damit er uns vom Joch des Gesetzes befreie, und um anzudeuten, daß er, wenn auch vollkommen sündenlos, doch in der Ähnlichkeit des Fleisches der Sünde zu uns kommen wollte, um für uns leiden und sterben zu können. (Vgl. Mt. 5, 17; Gal. 3, 5; 4, 4. 5; Röm. 8, 3) b) Um sein Blut gleich im Anfang seines irdischen Lebens für uns zu vergießen, zu zeigen, um welchen Preis er den Namen Jesu erkaufe und unser Erlöser werde, und schon damals das Unterpfand zu geben, daß er all sein Blut für uns vergießen wolle. (Vgl. Mt. 1, 21; Hebr. 5, 7) c) Um uns das
Beispiel der Demut und des Gehorsams zu geben, uns an die Notwendigkeit der geistigen Beschneidung, der Abtötung der Sinnlichkeit und der fleischlichen Lüste, zu mahnen. (Vgl. Ps. 39, 7ff; Hebr. 10, 5; Kol. 2, 11. 12; Gal. 5, 16; Tit. 2, 12; 1. Petr. 2, 11. 24) d) Um den Juden kein Ärgernis zu geben, sich als nachkommen Abrahams zu beweisen und durch die Annahme dieses Bundeszeichen den Bund Gottes mit den Vätern und die daran geknüpften Verheißungen zu bestätigen. (Vgl. Mt. 3, 15; 17, 26; Röm. 15, 8) e) Um die Wahrheit seiner Menschheit zu beweisen gegen Irrlehrer, die behaupteten, er habe nur einen Scheinleib gehabt. „Sein Name aber, der über alle Namen ist, zeigt zugleich seine göttliche Majestät an.“ (Joh. 1, 14; Apg. 4, 12; Phil. 2, 9. 10; Vgl. S. Bern., Sermo 2 in Circumcis. n. 2)
Aus: Schuster u. Holzammer, Handbuch zur Biblischen Geschichte, Zweiter Band, Das Neue Testament, 1910, S. 103-106
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