Auszug aus dem Werk "Helden und Heilige" von Hans Hümmeler.
"Groß und unwandelbar trotz all seiner Wandlungen steht Augustinus über allem Lob und allem Tadel. Tausende haben seine "Bekenntnisse" gelesen und daraus ein neues Leben geschöpft, tausend andere haben sich gegen seinen Eroberergeist gewehrt und sind ihm feind geblieben, damit die Flamme seiner Liebe nicht auch ihr Herz für Gott und Kirche entzünde. Ihn berührt es nicht. Der menschlichste aller Heiligen steht so hoch über allen Menschlichkeiten, daß man bei der Lesung seiner Schriften ihn selbst vergißt und in überquellendem Dank die Barmherzigkeit Gottes preist, die ein solches Wunder der Gnade an einem Sünder wirkte.
Wir kennen seine Kindheit und Jugend, die Laufbahn des reifen Mannes. Sind sie nicht ein einziges bewußtes und unbewußtes Sträuben gegen die Gnade? Jeden Irrweg, der von Gott wegführte - Augustinus ist ihn gegangen, und doch konnte er dem Netz des ewigen Menschenfischers nicht entfliehen. Das kleine Tagaste in Nordafrika, wo er am 13. November 354 in dieses Leben eintrat, war dem Sohn eines haltlos leidenschaftlichen Heiden und einer stillen, friedfertigen, innigfrommen Christin bald zu eng. Ungetauft, wenngleich christlich erzogen, und mehr nach dem Vater als nach der Mutter geartet, haßte er die Schule wie einer Folterkammer und steckte manche Tracht Prügel ein, weil er glühend vor Geschichten, Theater und Wettspielen den Unterricht geschwänzt hatte. Nachdem er aber das Abc hinter sich hatte, witterte sein Ehrgeiz in der Rhetorenschule zu Madaura die künftigen Möglichkeiten zu Glanz, Macht und Reichtum; denn einem Advokaten, der das Wort beherrschte, stand damals der Weg zu höchsten Staatsämtern offen. Der Beifall seiner Mitschüler spornte seine Begabung an, das erwachende Selbstgefühl und die überschüssige Kraft seiner sechzehn Jahre aber rissen ihn gleichzeitig in die Strudel sittlicher Verirrungen, die ihn ebenso quälten wie beglückten. Auf der Hochschule in Karthago kettete er sich an ein Mädchen, das ihm einen Sohn schenkte. Er nannte ihn kühn Adeodatus ("Gottesgabe"), so wenig erkannte er in seinem Fehltritt Schuld und Sünde.
Der Vater starb, Monika weinte und betete um den verlorenen Sohn; dieser aber lachte nur ihres Kummers und jagte wie der wildeste Streber hinter dem doppelten Lorbeer des Dichters und Redners her. Ciceros "Hortensius" weckte zugleich in ihm einen verzehrenden Durst nach dem Wesen aller Dinge, nach Wahrheit. Sie bei der Kirche zu suchen, wehrte sich sein Freiheitsdrang, da er auch geistig keine Fessel, keine Forderungen eines Höheren ertragen wollte. Die dunkelste und verworrenste Mystik des Orients, die Lehre der Manichäer, reizte seine Vernunft, ihre Geheimnisse zu entschleiern, zumal ihre Priester die Freiheit der Forschung verkündeten. Neun Jahre lang mühte sich der junge Gelehrte schmerzvoll ab und mußte doch am Ende erkennen, daß alles Täuschung war, daß er seine Kraft an eine hohle Nuß verschwendet hatte. Aufgewühlt durch den plötzlichen Tod seines bestens Freundes, belästigt durch die groben Späße der Studenten, glaubte er seinen trüben Gedanken am besten durch einen Wechsel der gewohnten Umgebung entrinnen zu können. Zur Nachtzeit segelte er heimlich nach Rom ab, seine Mutter täuschend und in trostlosem Jammer am Meeresgestade zurücklassend.
Sofort traf ihn dafür die Strafe: Die römischen Studenten strömten zwar zahlreich zu seinen Vorträgen, vergaßen aber, das Honorar zu zahlen. Wollte Augustinus nicht verhungern, so mußte er sich nach einem anderen Wirkungsfeld umsehen. Durch den heidnischen Stadtpräfekten Symmachius von Rom erhielt er einen eben frei gewordene Professur für gerichtliche Beredsamkeit in Mailand, der kaiserlichen Residenz. Nur als Manichäer hatte er sich diesen hervorragenden Platz sichern können, vielleicht hatte er aber in seiner Rechnung den wichtigsten Punkt übersehen: daß Mailand eine urkatholische Stadt war, Sitz des Bischofs Ambrosius, der den fremden Besucher herzlich aufnahm. Nicht das frühere verzweifelte Wahrheitssuchen führte ihn nun in die Predigten des Bischofs - Augustinus hatte innerlich bereits mit dem Manichäismus gebrochen und war zum Skeptiker geworden, der alle Wahrheitserkenntnis achselzuckend verneinte -, sondern der tiefe Eindruck, den er von der Persönlichkeit des Ambrosius gewonnen hatte, und der Wunsch, von dessen hinreißender Rednergabe noch etwas zu lernen. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen, daß die katholische Wahrheit, die dieser Mann vertrat, dieselbe Wahrheit, die seine Mutter ihm vorgelebt hatte und jetzt in Mailand wieder vorlebte, doch nicht mit einer Handbewegung abgetan sei. Dies erkennen und von neuem in das stürmische Meer der Zweifel und Bitterkeiten gerissen zu werden, war bei Augustinus eins. Hin und her geworfen, las er die Neuplatoniker, die ihm das Vorhandensein eines reinen Geistes zeigten, zugleich aber auch durch ihre verstiegene Brandmarkung alles Naturhaften einen ungeheuren Kampf in ihm erregten, so daß er jetzt sogar die Ehe als unsittlich ablehnte. Auch die Briefe Pauli brachten ihm nicht den inneren Frieden. Nur einer konnte jetzt seine Wunde Seele heilen und ihn aus aller Wirrsal erlösen: Gott. Augustinus war reif geworden für den Blitzstrahl der Gnade, nicht anders als Paulus auf dem Weg nach Damaskus.
Im Spätsommer des Jahres 386 besuchte ihn ein Landsmann namens Ponticianus. Mit ihm und seinem Freunde Alypius verplauderte Augustinus einen Abend in seinem Landhaus. Der Gast nahm ein Buch zur Hand, das auf dem Tisch lag, und als er die Briefe Pauli erkannte, schloß er auf eine Sinneswandlung Augustinus und erzählte begeistert von dem ganz heiligen, abgetöteten Leben der ägyptischen Einsiedler. Schweigend hörte Augustinus zu und verbarg nach Römerart seine tiefe Erschütterung. Kaum aber hatte der Gast sich erhoben, als er aufsprang und dem Alypius zurief: "Was sind wir für Feiglinge! Die Ungebildeten reißen das Himmelreich an sich, und wir mit unserem Wissen, sieh, wie tief wir in Fleisch und Blut verstrickt sind!" Damit stürmte er fort in den Gartenwinkel und brach in einen Strom von Tränen aus. Über die Mauer klang eine Kinderstimme zu ihm herüber, immerfort singend: "Nimm und ließ! Nimm und lies!" Da lief er zurück an den Tisch, schlug aufs Geratewohl die Briefe Pauli auf und las: "Nicht in Schmausereien und Trinkgelagen laßt uns wandeln, nicht in Schlafkammern und Unzucht, nicht in Zank und Neid, sondern ziehet an den Herrn Jesus Christus!" Im selben Augenblick wurde es hell in seiner umdüsterten Seele, er war entschlossen, dem Rufe Gottes zu folgen, und riß den Freund mit sich fort zur Mutter, um ihr zuerst die frohe Botschaft zu bringen. Monika, deren Augen fast blind geworden waren in den durchweinten Nächten vieler Jahre, vereinte ihr jubelndes Magnifikat mit dem Dankgebet ihres Sohnes.
In der Osternacht des folgenden Jahres empfing Augustinus nach sorgsamer Vorbereitung in der ländlichen Abgschiedenheit des Comersees aus den Händen des Bischofs Ambrosius zu Mailand die Taufe, mit ihm Alypius, der Zeuge seiner Bekehrung, und Adeodatus, sein Sohn. Unbeschreibliches Glück durchflutete ihn; mit dem Durchbruch seines Kinderglaubens begehrte er auch, in die Heimat seiner Kindheit zurückzukehren. Unterwegs in Ostia, während man eine Gelegenheit zur Überfahrt abwartete, starb Monika, kurz nach der Ankunft in Afrika Adeodatus. Zweimal zerriß der Schmerz sein weiches Gemüt, aber er konnte ihn nicht mehr in Verzweiflung stürzen. Sein Glaube war fest in Gott begründet.
Wie hätte er sonst mit seinem überzarten Empfinden die Arbeiten, Enttäuschungen und Drangsale ertragen, die in der Heimat sein Anteil waren? Gegen seinen Wunsch wurde er auf Drängen des Volkes vom Bischof Valerius zum Priester geweiht, um dann im Jahre 396 dessen Nachfolger auf dem bischöflichen Stuhl von Hippo zu werden. Vierunddreißig Jahre lang hat er das heilige Amt verwaltet, Sorgen bis zum Überdruß verkostet und in Krankheit und Trübsal ausgeharrt. Mit seinem Freundeskreis lebte er in völliger Armut und klösterlicher Gemeinschaft, gern inmitten des Volkes mit jugendlichem Eifer predigend, überlaufen mit weltlichen Streitfragen und Briefen aus aller Welt. Dem gebildeten Manne waren der Aufenthalt in der Kleinstadt mit ihren alltäglichen, aufgebauschten Zwistigkeiten, der stete Umgang mit neugierigen Menschen, die nur seine Zeit stahlen, oft eine Qual. Angesichts solcher Auchchristen schanden sein Optimismus und sein Vertrauen auf den guten Willen des Menschen; umso stärker leuchtete ihm die Erkenntnis auf, daß schon der Glaube eine Tat Gottes, ein Akt seiner Gnade und Barmherzigkeit ist. Im Geheimnis des mystischen Leibes Christi erlebte er das Einssein aller Erlösten und gewann daraus die Demut und Liebe, sich selbst zurückzustellen hinter den opferfrohen Dienst an dem Nächsten.
Wer die unbegreiflich Selbstlosigkeit des früher so ichsüchtigen Afrikaners kennenlernen will, braucht nur seine Briefe zu lesen. Welche Nichtigkeiten werden da ihn herangetragen, und wie hingebend spricht in seinen Antworten der Priester, dem jedes Lämmlein seiner Herde, auch das räudigste, gleich lieb und teuer ist! Für die Armen, Witwen und Waisen gab er den letzten Pfennig des Kirchenvermögens her, unbekümmert um die Vorwürfe, daß die Kirche von Hippo imme rin Geldnot stecke. Schützend stellte er sich vor die Kirche Afrikas, als die Donaisten die Bauern aufwiegelten und mit Mord und Brand gegen die Bekenner der katholischen Wahrheit wüteten. Vielleicht war das die schwerste Stunde seines Lebens, als er die Staatsgewalt gegen Christen, also Brüder im Geiste, wenn auch verirrte und verlorene, anrufen musste, und auch dann noch suchte er die Schuldigen nach Möglichkeit vor den harten Strafen des römischen Rechts zu bewahren. Gegen die Arianer, Pelagianer, Manichäer und das erlöschende Heidentum der Antike schwang er bis zum letzten Augenblick das Schwert des Geistes. Dreizehn Jahre arbeitete er, um ihren Wahngebilden in seinem "Gottesstaat" die Summe katholischer Weltanschauung entgegenzusetzen. Seit er mit seiner unbefangenen Weltlust Schiffbruch gelitten, war sein Blick nachdenklich nach innen gerichtetauf die Wunder Gottes in der Menschenseele, und sein ganzes Herz schwang dabei mit. Das erhob seine Gedanken aus der Welt des rein Vernunftgemäßen in die Höhen der Mystik. Das gab seinen philosophischen und theologischen Werken, so vielfältig sie auch sind und des planmäßigen Aufbaus ermangeln, jene großartige Einheit des Schöpferischen, die sie fruchtbar machte für eine ungeheuer tiefgreifende Wirkung auf die Entwicklungen des innerkirchlichen Lebens und der kirchlichen Frömmigkeit.
Nicht in Frieden sollte sein irdisches Dasein enden. Im Jahre 429 ergießen sich die Heuschreckenschwärme der Vandalen über die blühenden Städte der afrikanischen Nordküste. Verblendete Arianer, aufgehetzt von den Donatisten, hausen mit grauenhafter Wut gegen alles, was katholisch heißt. Das zertretene Volk schreit in seiner Not zu Augustinus; aber ist dieser nicht selbst machtlos gegen das Toben der Elemente? Der Greis rät und tröstet, er betet, er weint Tag und Nacht, er gibt den ängstlichen Priestern und Bischöfen den strikten Befehl, bei ihren Gemeinden auszuharren und in der Zeit der Verfolgung sich nicht als Mietlingen zu erweisen. Enger und enger schließt sich der Ring der Vandalen um Hippo. Im dritten Monat der Belagerung wird Augustinus vom Fieber befallen, er läßt sich die Bußpsalmen an die Wand neben seinem Lager heften und bittet die Freund, ihn allein zu lassen. So stirbt der größte Denker Afrikas, der faustische Wahrheitsflucher, der hochbegnadete Gottesfreund am 28. August 430. Mit ihm stürzte das tausendjährige Reich der Römer unter dem Ansturm der Germanen, in Schmerzen wurde eine neue Welt geboren; doch wie die Gebeine des Bischofs von Hippo nach Pavia übertragen wurden, so wanderte auch sein herrlicher, alle Tiefen des Schicksals erschließender Geist mit zu den Menschend es Nordens, um in ihrem jungen Christentum eine neue Heimstatt zu finden."