Der Berg der

acht Seligkeiten

   
   




 

 

  
Von zwei Bergen wird berichtet als vom ersten und zweiten Akt eines Dramas in zwei Akten: vom Berg der acht Seligkeiten und vom Kalvarienberg. ER, der den ersten bestieg, um über die Seligkeiten zu predigen, musste aus innerer Notwendigkeit heraus auch den zweiten besteigen, um dort oben die Forderungen der ersten Predigt im Werk zu erfüllen. Gedankenlose Menschen hört man nicht selten sagen:
Die Bergpredigt bildet das Wesen des Christentums. Aber wie wird es dem ergehen, der versucht, diese acht Seligkeiten in seinem alltäglichen Leben beharrlich zu verwirklichen? Er wird alsbald innewerden, welche Wut in der Welt gegen ihn entbrennt! Die Bergpredigt kann sowenig von der Kreuzigung Jesu getrennt werden wie der Tag von der Nacht. An jenem Tag, da der Herr die Bergpredigt hielt, unterschrieb er sein eigenes Todesurteil.  

Und es begleiteten IHN grosse Scharen aus Galiläa, aus den Zehn Städten, aus Jerusalem, aus Judäa und aus der Gegend jenseits des Jordans» (Mt 4,25).

Der Widerhall, der vom Berg zurückkommt, auf dem ER die Menschen gelehrt hat, wie sie glücklich und selig werden können, sind die Schläge der Hämmer auf die Nägel, die durch sein menschliches Fleisch getrieben werden. Ein jeder Mensch strebt danach, glücklich zu werden; aber Jesu Wege stehen im denkbar schroffsten Gegensatz zu den Wegen der Welt.

Welt- und Zeitgeist

Wer den Geist der Welt herausfordert, zieht sich todsicher ihre Feindschaft zu und auch die des Volkes. Die Welt hat ihren Geist, wie auch jedes Zeitalter seinen Geist hat. Es gibt bestimmte, im einzelnen nicht zu zerlegende, dem Recht widersprechende Regeln, die das Verhalten der Welt beherrschen. Ein jeder, der gegen diese weltlichen Maximen Stellung nimmt, wird über kurz oder lang unpopulär. Solche Grundsatze sind: «Du lebst nur einmal.), —Freue dich des Lebens und geniesse es! Wer wird das je erfahren? "Wozu der Geschlechtstrieb, wenn nicht zum Sich-Ausleben?"

In den Seligkeiten greift unser Heiland jene acht Schlagworte der Welt an und stellt sie auf den Kopf: Sorglosigkeit, Lachen, Gewalttätigkeit, Behaglichkeit, Rache, Sittenlosigkeit, Faustrecht, Volkstümlichkeit:

  1. Jenen, die behaupten: Es gibt kein Glück ohne Reichtum! erwidert er: «Selig die Armen im Geiste!»

  2. Jenen, die behaupten: Lache, und die Welt lacht mit dir! erwidert er: «Selig die Trauernden!»

  3. Jenen, die verkünden: "Lasst sie nicht ungestraft entwischen! erwidert er: «Selig die Sanftmütigen!»

  4. Jenen, die sagen: "Geniesset das Leben! Hält er entgegen: «Selig, die Hunger und Durst leiden nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden!»

  5. Jenen, die sagen: «Setzt euch aufs hohe Ross und stampft schonungslos alles nieder! Erwidert er: «Selig die Barmherzigen, sie werden Barmherzigkeit finden!»

  6. Jenen, die behaupten: Weil dir die Natur den Geschlechtstrieb geschenkt hat, darum musst du ihm freien Lauf lassen, andernfalls hintergehst du dich selbst! Erwidert er: «Selig, die reinen Herzens sind!»

  7. Jenen, die fordern: .Im Frieden rüste auf den Krieg! Erwidert er: «Selig die Friedenstifter!»

  8. Jenen, die behaupten: Trachtet danach, volkstümlich und beliebt zu sein! Erwidert er: «Selig seid ihr, wenn euch die Menschen schmähen und verfolgen und euch voll Lug um meinetwillen alles erdenklich Schlechte nachreden!»

Die billigen Klischees, um die heutzutage Filme und Illustrierte kreisen, verachtet ER. Was sie anbeten, das heisst ER verbrennen. Die Verirrungen des Trieblebens heisst ER bekämpfen. ER gestattet nicht, dass sie den Menschen zu ihrem Sklaven machen. ER bändigt die Jagd nach Wohlstand und lässt nicht zu, dass der Mensch sein Glück in der Anhäufung äusserer Güter sieht. Alle trügerischen Seligkeiten, die das Glück von der Entfaltung des Ich, von Zügellosigkeit und Genuss abhängig machen unter dem Motto Iss und trink und lass dir's wohl sein, denn morgen musst du sterben, die verwirft ER, weil sie geistige Zerrüttung, Verelendung, trügerische Hoffnungen, Ängste und Unruhe im Gefolge haben.

Ein schwerer Denkfehler
Jene, die sich vor den Bindungen durch die acht Seligkeiten drücken, behaupten, dass unser göttlicher Erlöser ein Kind seiner Zeit gewesen sei, aber nicht der unsrigen, und dass deshalb seine Worte für uns nicht mehr gelten. Doch das ist grundfalsch. ER war weder ein Kind seiner Zeit noch ein Kind irgendeiner Zeit. Wir aber sind es! Mohammed war ein Kind seiner Zeit; deshalb verkündete er, dass ein Mann neben vier Ehefrauen gleichzeitig noch Konkubinen haben könne. Mohammed gehört sogar noch zu unserer Zeit; denn auch die Modernen erklären, dass ein Mann viele Frauen haben könne, indem er zwei oder mehrere hintereinander hat wie ein Gespann. Aber unser Heiland war kein Kind seiner Zeit, sowenig wie der unsrigen. Kind seiner Zeit sein heisst soviel wie: in der folgenden Zeitperiode kaltgestellt sein. Weil ER sich keinem Zeitalter anpasste, war ER das Vorbild für jedes Zeitalter. Er gebrauchte niemals eine Wendung, die an die soziale Ordnung seiner Zeit gebunden war. Seine Frohbotschaft war einst genauso unbequem wie heute. Denken wir bloss an folgende Worte:

Glaubt mir's, ich sage euch: bis Himmel und Erde vergehen, soll auch nicht der kleinste Buchstabe noch ein Tüpflein vom Gesetz vergehen — es muss alles erfüllt werden. (Mt 5.18).

«Aber...»

Der Schlüssel zum Verständnis der Bergpredigt ist die Art und Weise, in der er die beiden Ausdrücke anwendet: «Ihr habt gehört», und dann das kurze, betonte Wort «Aber». Wenn ER sagte: «Ihr habt gehört!», dann fasste ER alles zusammen, was in Jahrhunderten an menschliche Ohren gedrungen war und was diese von sittlichen Weltverbesserern von einst bis heute gehört hatten und hörten: Alle jene Sammlungen von Vorschriften und Gesetzbüchern und Geboten, die alle nur etwas Halbes sind, die zwischen Gefühl und Vernunft, zwischen örtlichem Brauchtum und höchsten Idealen liegen. Wenn ER sagte: «Ihr habt gehört!», dann schloss ER das Mosaische Gesetz ein, ebenso Buddha mit seinem achtfachen Weg, Konfuzius mit seinen Richtlinien und Anweisungen für den edlen Menschen, Aristoteles mit seiner Lehre über den natürlichen Glückszustand, auch all die Gruppen von Menschenfreunden unserer Tage, die einiges aus den alten Gesetzbüchern in ihre eigene Sprache übersetzen und das Ergebnis dann Neue Lebenswege nennen. Von all diesen Kompromissen sagt ER: «Ihr habt gehört!»

«Ihr habt gehört!», dass gesagt worden ist: ,Du sollst nicht ehebrechen!, Moses hatte es geboten; bei heidnischen Stämmen fand sich eine Ahnung davon, primitive Völker hielten sich daran. Darauf folgte das erschreckende, Furcht einflössende Aber: Ich aber sage euch... ein jeder, der eine Frau lüsternen Blickes anschaut, hat in seinem Herzen bereits Ehebruch mit ihr begangen.  

«Als Er aber die Volksscharen sah, stieg ER auf den Berg. Als ER sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu IHM. Und Er tat seinen Mund auf und lehrte sie so: Selig sind... (Mt 5,1).

Unser Heiland schaute bis in die Tiefen der Seelen hinab; und ER schaute alles, auch alles, was in den Gedanken vor sich ging, und ER verurteilte schon die Begierde nach der Sünde als Sünde. Wenn es nicht recht war, gewisse Dinge zu tun, dann war es auch nicht recht, über solche Dinge nachzusinnen. ER wollte damit sagen: Fort mit eurer Hygiene, die empfiehlt, nach begangenem Diebstahl die Hände sauber zu waschen und die Körper vor Krankheiten zu schützen, nachdem sie sich gegenseitig in entehrender Lust berauscht hatten., ER drang bis in die Tiefen der Menschenherzen vor und brandmarkte bereits die Absicht zu sündigen als Sünde. ER wartete nicht, bis der schlechte Baum schlechte Früchte trug; ER wollte schon die Aussaat schlechten Samens verhindern. Wartet nicht, bis eure geheimen Sünden als Psychosen und Neurosen und Zwangsvorstellungen zutage treten! Schaut, dass ihr die Wurzeln ausreisst! Bereut! Reinigt euch! Wenn das Böse schon statistisch erfasst wird oder der Verbrecher im Zuchthaus sitzt, dann ist es zu spät zum Heilen.

«Ich aber sage euch!»

Der Herr legt dar: Wenn ein Mann eine Frau heiratet, dann heiratet er ihren Leib und ihre Seele; dann heiratet er sie als ganze Person. Ist er ihres Körpers satt, so kann er diesen nicht einfach zum Köder für einen anderen machen, da er ja auch für ihre Seele Verantwortung trägt. Dieses Ihr habt gehört war ein Donnerwetter. In diesem Ausdruck fasst ER das Gerede jeder dekadenten Zivilisation zusammen. «Ihr habt gehört»: Lasst euch scheiden, GOTT verlangt nicht, dass ihr unglücklich zusammenlebt. Dann aber kommt sein Aber:

ICH aber sage euch: Jeder, der seine Frau entlässt — auch Unzucht gilt nicht als Grund— macht sie zur Ehebrecherin. Und wer eine Entlassene heiratet, begeht Ehebruch. (Mt 5,32)

Was schadet es, wenn der Leib verlorengeht? Ist nicht die Seele noch da, die ungleich wertvoller ist als das einen Körper durchrieselnde Lusterlebnis, die Seele, ungleich wertvoller als die ganze Welt? Christus will Gatten und Gattinnen rein bewahren, nicht vor Ansteckung, sondern vor Begierden nach einem anderen; sich einen Ehebruch in Gedanken ausmalen, das ist bereits ein Ehebruch. Deshalb erklärt er: Was GOTT verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen. (Mk 10,9) Kein Mensch, kein Richter, keine Nation kann das, darf das zugeben oder erlauben! Christus kannte gar wohl alle diese Sozial-Theorien, die sich darauf hinausreden, die Sünde sei die unabwendbare Folge der gegebenen Verhältnisse: von minderwertiger Ernährung, von unzureichenden Vergnügungsstätten und von zuwenig Geld. Über all das sagt er: «Ihr habt gehört!» Dann folgt sein Aber: ICH aber sage euch... ER versichert, dass Sünden, Selbstsucht, Habgier, Ehebruch, Verbrechen, Diebstahl, Bestechlichkeit, politische Korruption auf das persönliche Schuldkonto des einzelnen Menschen zu buchen sind. Die Beleidigungen GOTTES stammen aus unserem eigenen Willen und nicht aus unseren Drüsen. Wir können unsere Leidenschaft nicht damit entschuldigen, dass unser Grossvater einen Odipus-Komplex hatte — oder dass wir von unserer Grossmutter einen Elektra -Komplex ererbt haben. Sünde, so sagt ER, wird durch den Leib in die Seele weitergeleitet, und der Leib wird durch den Willen bewegt. ER erklärte den Krieg gegen alles falsche Sich-selbst­Ausleben und donnert sein «Reiss es aus!», und «Hau es ab!», nur so hinaus:

«Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen reizt, so reiss es aus und wirf es von dir! Denn besser ist es für dich, dass eines deiner Glieder verlorengehe, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird. Und wenn deine rechte Hand dich Zum Bösen reizt, so hau sie ab und wirf sie von dir! Denn besser ist es für dich, dass eines deiner Glieder verlorengehe, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird» (Mt 5,29f).

«... so halte auch die andere Wange hin!»

Die Menschen lassen sich Füsse und Arme amputieren, um den Leib vor Brand und Sepsis zu bewahren. Unser Heiland aber bringt hier die Beschneidung des Fleisches mit der des Herzens in Verbindung. ER fordert die Menschen auf, keine Rücksicht auf ihren Leib zu nehmen und lieber ihr Herzblut zu vergiessen, um von Lieblingssünden frei zu werden, lieber ihre Leidenschaften kurz und klein zu schlagen, als von der Liebe GOTTES getrennt zu werden, die in ihm ist, in Christus Jesus.

Alsdann wendet ER sich gegen Rache, Hass und Gewalttätigkeit. Wie oft sind Redewendungen zu hören wie Rache! Verklag' ihn! Lass dich doch nicht zum Narren halten!» Jesus kennt sie alle und fasst sie zusammen: Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: «Aug um Aug, Zahn urn Zahn! (Mt 5,38).» Dann kommt das schauererregende Aber: «Ich aber sage euch: Ihr sollt dem Beleidiger nicht widerstehen; sondern wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die andere hin; wenn jemand einen Rechtsstreit mit dir führen und dir den Rock nehmen will, so lass ihm auch den Mantel....», (Mt 5.39f) Warum die andere Wange anbieten? Well sich der Hass wie das Unkraut vermehrt. Wenn einer vor zehn in einer Reihe stehenden Menschen Hass und Gewalttat predigt und den ersten auffordert, den zweiten zu verprügeln, und den zweiten, den dritten zu schlagen, dann wird der Hass in zehn Menschen entfesselt. Die einzige Möglichkeit, diese Woge des Hasses aufzuhalten, besteht darin, dass einer (sagen wir der fünfte aus dieser Reihe) auch die andere Wange darbietet. Dann ist der Hass zu Ende, geht nicht mehr weiter. Fessle die Gewalttätigkeit um des Heilands willen, der die Sünde gefesselt hat und für sie gestorben ist! Es ist ein christliches Gesetz, dass der Unschuldige für den Schuldigen leiden muss.

Der Heiland will also, dass wir Feindschaften auf diese Weise unschädlich machen. Sobald nämlich kein Widerstand mehr geleistet wird, wird der Feind von einer überlegenen geistigen Macht überwunden. Eine solche Liebe beugt der Ansteckung durch die eiternde Wunde des Hasses vor. Ein Jahr einen lästigen Menschen ausstehen, der dir im Verlauf einer einzigen Woche schon schrecklich auf die Nerven geht, einen wohlwollenden Brief an einen Menschen schreiben, der dir Schimpfnamen gibt; einem Menschen, der dich bestohlen hat, ein Geschenk anbieten; niemals mit bissigen Worten einem Menschen erwidern, der lügt und behauptet, du handelst pflichtvergessen gegen dein Vaterland, oder die noch schlimmere Lüge ausstreut, du seiest ein Verräter am Wohl deines Volkes - das sind jene schwer zu befolgenden Dinge, die Christus uns zu künden kam und die in seiner Zeit nicht mehr und und nicht weniger befolgt wurden als heutzutage. Nur hochstrebende Menschen, heiligmässige Männer und Frauen, Heilige befolgen sie. Solche sind das Salz der Erde, der Sauerteig in der Masse, die Erlesenen unter den Volkshaufen, die Naturen, die die Welt umformen. Wenn sich gewisse Menschen nicht liebenswürdig gegen dich benehmen, so trage Liebe in sie hinein - und sie werden liebenswürdig werden. Warum gibt es überhaupt liebenswürdige Menschen? Doch nur deshalb, weil GOTT seine Liebe in einen jeden von uns ausgiesst.

Kalvaria als Lohn

Die Bergpredigt steht in einem derartigen Widerspruch zu all dem, was der Welt lieb und teuer ist, dass die Welt einen jeden kreuzigen wird, der den Versuch macht, nach diesen Forderungen zu leben. Weil Christus sie vorlebte, musste ER sterben. Kalvaria war der Welt Lohn für die Bergpredigt. In der Welt gilt nur Mittelmässigkeit. Jene aber, die schwarz schwarz und weiss weiss nennen, stehen im Ruf der Unduldsamkeit. Nur die Farblosen dürfen leben.

Lasst ihn, der da verkündigt: «Selig die Armen im Geiste!», in die Welt kommen, die an den Primat der Wirtschaft glaubt; lasst ihn auf den Marktplatzen auftreten, wo einzelne vom Kollektivgewinn reich werden oder wo andere verkünden, dass die Menschen um ihres persönlichen Vorteils willen leben: und du wirst sehen, was geschieht! Er wird so arm sein. dass er zeitlebens kein Plätzlein findet, wo er sein Haupt hinlegen konnte. Es wird ein Tag kommen, an dem er stirbt, ohne irgendetwas von wirtschaftlichem Wert zu besitzen. In seiner letzten Stunde wird er von allem so entblösst sein, dass sie ihm sogar seine Kleider vom Leibe reissen - und für seine Beerdigung werden sie ihm ein fremdes Grab geben, so wie er auch im Stall eines Fremden geboren wurde.

Lasst ihn in unsere Welt kommen, die den Gedanken an die Sünde als ungesunde Zimperlichkeit verlacht und den Gedanken an die Wiedergutmachung einer alten Schuld als einen Schuldkomplex wertet, und lasst ihn dieser Welt predigen:

«Selig sind, die da trauern», nämlich über ihre Sünden: sie werden ihm die Augen verbinden und ihn als einen Narren verspotten. Sie werden über seinen Leib herfallen und ihn so lange geisseln, bis seine Gebeine gezählt werden können. Sie werden sein Haupt mit Dornen krönen, bis er anfängt, nicht mehr salzige, sondern blutrote Tränen zu weinen: sie werden sich über die Schwachheit dessen lustig machen, der es verschmäht, vom Kreuz herunterzusteigen.  

Das Unrecht mit Geduld leiden: Es versammelte sich die ganze Abteilung urn Ihn. Nun beugten sie das Knie vor IHM und verspotteten IHN - ER aber tat seinen Mund nicht auf. (Mt 27).

Lasst ihn in die Welt kommen, die das Evangelium der Gewalttätigkeit verkündet! Lasst ihn auftreten gegen jene, die da vorschreiben, unsere Feinde zu hassen und die christlichen Tugenden als weichliche Tugenden zu verurteilen! Lasst ihn dieser Welt verkünden: «Selig die Sanftmütigen!», - eines Tages wird er die Geisseln der gewalttätigen Unmenschen auf seinem Rücken zu spüren bekommen. Bei einem seiner Verhöre wird ihn ein Spötter mit der Faust ins Gesicht schlagen. Er wird zusehen müssen, wie einige die Sicheln in die Hand nehmen und das Gras auf dem Kalvarienberg abmähen und dann zum Hammer greifen, um ihn ans Kreuz zu nageln, um so die Geduld und Sanftmut dessen auf die Probe zu stellen, der das Schrecklichste aushalten muss, was der Böse anzubieten vermag; und hat er das Böse bis zur Erschöpfung ausgekostet, dann mag er es ruhig in Liebe umwandeln!

 

Barabbas oder ...?

Lasst ihn in die Welt kommen, die die absolute Wahrheit leugnet und behauptet. dass Recht und Unrecht blosse Ansichten sind, über die sich streiten lässt, und dass wir grosszügig sein müssen gegenüber Tugenden und Lastern! Lasst ihn zu den Menschen sagen: «Selig, die Hunger und Durst leiden nach der Gerechtigkeit», nach der Heiligkeit, nach dem Absoluten, nach der Wahrheit, die ER ist—und sie werden es in ihrer Grosszügigkeit dem Pöbel freistellen, zwischen IHM und Barabbas zu wählen. Sie werden ihn zwischen Verbrechern kreuzigen und versuchen, der Welt glaubhaft zu machen, dass sich GOTT nicht von einer Gruppe Räuber unterscheidet, die im Tod seine Bettgenossen sind.

Lasst ihn in die Welt kommen, die sagt: «Mein Mitmensch mag ruhig zum Teufel gehen!», in eine Welt, die Grundsätzen huldigt wie: «Auf das Ich allein kommt es an!», «Mein Wille ist das oberste Gesetz, und was ich gut nenne, das ist gut!», «lch muss andere vergessen und einzig und allein an mich denken!» — und lasst ihn zur Welt sagen: «Selig die Barmherzigen!» er wird feststellen, dass er kein Erbarmen findet. Im Gegenteil: sie werden ihm fünf Wunden schlagen, auf dass das Blut seinem Leib entströme. Sie werden ihm Essig und Galle an den Mund halten, damit er seinen Durst lösche. Sie werden sogar so unbarmherzig sein und nach seinem Tod eine Lanze in sein heiligstes Herz stossen!

Lasst ihn in eine Welt kommen, die im Menschen nichts anderes als ein geschlechtliches Wesen sehen will; in eine Welt, die Reinheit als Gefühlskälte, Keuschheit als Brachliegen der Geschlechtskraft, Enthaltsamkeit als Abnormalität, das treue eheliche Zusammenleben von Mann und Frau bis zum Tod als lästig und langweilig betrachtet und der Auffassung huldigt, dass eine Ehe nur so lange Dauer habe wie der Liebesrausch; dass nicht als bindend gilt, was GOTT verbunden, und nicht als versiegelt, was GOTT versiegelt hat. Er sage dieser Welt: «Selig, die reinen Herzens sind!»— und er wird sich selber nackt am Kreuze hängen sehen, als ein Schaustück für Menschen und Engel, als eine letzte wilde, irrsinnige Behauptung, dass die Reinheit abnormal, die Jungfraulichkeit neurotisch, die Fleischeslust hingegen richtig ist.

Lasst ihn in eine Welt kommen, die glaubt, dass, wer sie erobern will, sich zu jeder Art böswilliger Schikane und Doppelzüngigkeit hergeben und Friedenstauben aufsteigen lassen müsse, die inwendig voller Bomben sind, und lasst ihn zu dieser Welt sagen: «Selig die Friedenstifter!» oder: «Selig jene, die die Sünden ausrotten, damit Friede werde!», und er wird sich selbst von Menschen umzingelt sehen, die sich in den verrücktesten aller Kriege eingelassen haben, in einen Krieg gegen den Sohn GOTTES; von Menschen, die eine Gewalttat mit Stahl und Holz, mit Schwamm und Galle verüben und dann eine Wache an seinem Grab aufstellen, damit der, der die Schlacht verlor, den Tag nicht erobere.

Lasst ihn in eine Welt kommen, die da glaubt, dass alles in unserem Leben auf äussere Aufmachung, auf Glanz und Schein, auf Profit und Beliebtheit bei den Massen ankomme, und dieser Welt verkünden: «Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen, verfolgen und schmähen.» Dann wird er entdecken, dass er nicht einen einzigen Freund unter den Weltmenschen hat, dass er aus der Stadt hinausgestossen wird, auf einen Hügel draussen, umgeben vom Pöbel, der seinen Tod und die purpurroten Wunden seines misshandelten Leibes mit Freudengeschrei bejauchzt.

Das Kreuz umarmen

Die Seligkeiten können nicht für sich allein betrachtet werden: sie sind keine Ideale. Sie sind vielmehr harte Tatsachen und Wirklichkeiten, unzertrennlich vom Kreuz auf Kalvaria. Was Jesus da lehrte, bedeutet die Kreuzigung des eigenen lch: jene zu lieben, die uns hassen; sich die Augen auszureissen und die Arme abzuhauen, um nicht zu sündigen; reinen Herzens zu bleiben, wenn die Leidenschaften laut nach Befriedigung schreien; denen zu verzeihen, die unseren Tod fordern; das Böse durch das Gute zu überwinden; jene zu segnen, die uns fluchen; so lange nicht mehr von Freiheit zu reden, bis wir Gerechtigkeit, Wahrheit und Gottesliebe, die Vorbedingungen der Freiheit, in unseren Herzen tragen; in der Welt zu leben, jedoch sich unbefleckt vor ihr zu bewahren; uns selbst manche erlaubten Freuden und Vergnügungen zu versagen, um unser Ich mehr und mehr zu kreuzigen — auf diese Weise wird das Todesurteil über den alten Menschen in uns vollzogen. Alle, die seiner Predigt über die Seligkeiten lauschten, lud ER ein, sich dem Kreuze auszuliefern. Sie alle lud ER ein, einer niederen Ordnung zu sterben, um das Glück auf einer höheren Ebene zu finden. Sie alle lud ER ein, das zu verachten, was die Welt für heilig, und das als heilig zu verehren, was die Welt für Einbildung hält. Der Himmel ist Glückseligkeit. Aber der Mensch kann sie nicht in zwei Himmeln erleben: in einem Ersatz-Himmel hienieden und im wirklichen Himmel drüben — das wäre zuviel ihn. Deshalb lässt der Herr den Seligpreisungen unmittelbar vier Wehe folgen:

Wehe euch aber, ihr Reichen: ihr habt bereits euren Trost. Wehe euch, die ihr jetzt satt seid: ihr werdet hungern. Wehe euch, die ihr jetzt lacht: ihr werdet trauern und weinen. Wehe euch, wenn alle Menschen euch schmeicheln: so haben auch eure Väter den falschen Propheten getan. (Lk 6,24f)

Das Kreuz kann nicht mehr weit weg sein, wenn ein Lehrer den Reichen, den Satten, den Ausgelassenen und den Buhlern ein Wehe zuruft. Wahrheit findet sich nicht bloss in der Predigt, die da auf dem Berge gehalten wurde. Wahrheit ist in IHM, dem Einen, der die Bergpredigt auf Golgotha zu Ende lebte. Die vier Wehe waren ethische Verurteilungen geblieben, hätte Jesus nicht um der entgegengesetzten Seligkeiten willen sein Leben hingegeben: für die Armen, die Verlassenen, die Trauernden und die Verachteten. Auf dem Berge der Seligkeiten forderte er die Menschen auf, sich am Kreuz der Selbstverleugnung auszustrecken; auf dem Berg Kalvaria umarmt ER das Kreuz selber. Obwohl der Schatten des Kreuzes erst drei Jahre nachher auf den Ort der Schädelstätte fiel, beschattete es sein Herz doch bereits an jenem Tag, da ER darüber predigte, wie man glückselig werden könne.

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