Ambrosius von Mailand (340-397)
Der Tod ein Gut (De bono mortis)
1.
Wie sollte der Tod kein Übel sein, da er das Leben
beendigt?
(S.
372) 1. Nachdem ich bereits über die Seele gesprochen
habe, scheint es mir, daß ich unschwer daran Einiges
anknüpfe, um den Nachweis zu führen, daß der Tod ein
wahres Gut sei. Alles nämlich, was der Seele schadet,
kann als ein Übel betrachtet werden; was ihr aber in
keiner Weise nachtheilig ist, kann auch nicht als ein
Übel gelten. Wir können weiter schließen: Alles, was
kein Übel ist, ist gut. Was aber fehlerhaft und
verderblich ist, dürfen wir ein Übel nennen, während
Dasjenige, was frei von verderblichen Fehlern ist, als
Gut bezeichnet wird. Gut und Übel sind also einander
entgegengesetzt und schließen sich gegenseitig aus. In
ähnlicher Weise reden wir von Schuldlosigkeit, wo der
Wille, zu schaden, nicht vorhanden ist. Wer aber jener
Schuldlosigkeit sich nicht bewußt ist, Den nennen wir
schuldig. Barmherzig ist Derjenige, der gerne verzeiht;
unbarmherzig dagegen, wer zum Verzeihen und Nachgeben
nicht zu bestimmen ist.
2.
Vielleicht wird mir der Einwand gemacht: Kann es denn
einen schärferen Gegensatz geben als Leben und (S. 373)
Tod? Wenn nun das Leben ein Gut ist, wie wäre der Tod
kein Übel? Wir brauchen aber nur näher festzustellen,
was Leben und Tod eigentlich ist, um jenen Einwurf zu
beseitigen. Leben heißt äusserlich genommen: atmen; denn
mit dem letzten Atemzuge tritt der Tod ein. Man wird nun
freilich geneigt sein, diesen Lebensodem als ein Gut zu
betrachten und dann so zu schließen: Leben ist der Genuß,
Sterben ist der Verlust eines hohen Gutes. So sagt ja
auch die Schrift: „Siehe, ich habe euch vorgelegt Leben
und Tod, Gutes und Böses.“[1]
Da wird das Leben als ein Gut, der Tod als Übel
bezeichnet, und Beides wird zur Wahl gestellt. Im
Anschlusse an die heutige Lesung wird auch vielleicht
daran erinnert, daß der erste Mensch im Paradiese von
allen Bäumen des Gartens, auch vom Baume des Lebens
essen sollte; von dem Baume der Erkenntniß des Guten und
Bösen aber sollte er nicht essen: an dem Tage, an
welchem er davon aß, sollte er des Todes sterben. Der
Mensch mißachtete das göttliche Gebot; die Vergeltung
blieb ihm nicht aus: aus dem Paradiese verstoßen, mußte
er den Tod kosten. So ist denn der Tod ein Übel, weil er
die Vollstreckung des Verwerfungurteils ist.
2.
Gleichwohl ist der Tod in unserem Sinne eine Wohltat,
weil er uns von zahllosem Elende befreit.
. Wir können
einen dreifachen Tod unterscheiden. Zunächst schließt
die Sünde ein Sterben ein. „Die Seele, welche sündigt,“
sagt der Prophet,[2]
„die
stirbt.“ Wir reden aber auch von einem mystischen Tode
bei Demjenigen, welcher der Sünde abstirbt und sein
Leben in Gott beginnt. Darauf geht das Wort des
Apostels: „Wir sind mit ihm durch die Taufe zum Tode
begraben.“ Sonst aber (S. 374) ist der Tod die Scheidung
von Seele und Leib, welche den Lauf dieses Lebens
abschließt. Unzweifelhaft ist jener Tod, der in der
Sünde erfolgt, ein Übel, wie der andere Tod, in welchem
man von tödlicher Sündenschuld wieder gerechtfertigt
wird, ein unbeschreiblich hohes Gut ist. Der Tod im
dritten Sinne des Wortes endlich liegt zwischen gut und
böse: er erscheint den Gerechten als ein Gut, während er
den Meisten Furcht einflößt; er befreit zwar Alle, aber
doch erfreut er nur Wenige. Was aber den Tod schwer
macht, liegt nicht im Sterben selbst, sondern in unserer
Gebrechlichkeit: wir lassen uns von körperlichem
Wohlbehagen und von unserer Lebenslust derart gefangen
nehmen, daß wir erschrecken, wenn es sich um den
Abschluß eines Lebenslaufes handelt, der doch im Grunde
reicher an Bitterkeit als an Freude ist. Heilige und
weise Männer dachten anders; sie seufzten über die lange
Dauer dieser irdischen Wanderschaft. „Aufgelöst und mit
Christo zu sein“ erschien ihnen als ein schöneres Ziel.
Und mit Job mochte Mancher den Tag seiner Geburt
verfluchend ausrufen: „Verloren sei der Tag, an dem ich
geboren ward.“[3]
4. Was ist denn
auch wahlhaft Erquickendes in einem Leben, das so voll
von Qual und Mühe ist? Zahllose Kränkungen und
Mühseligkeiten umlagern den Lebenspfad. Wer zählt die
Tränen Derer, welche unter den Mühen des Lebens seufzen,
ohne daß eine milde Hand sie trocknet ? Darum sagt der
Prediger: „Ich pries die Toten glücklicher als die
Lebendigen und hielt für glücklicher als Beide Den, der
noch nicht geboren ward, der die ÜbelTaten noch nicht
gesehen hat, die unter der Sonne geschehen.“[4]
Anderswo sagt er, daß eine unzeitige Geburt glücklicher
sei als ein hochbetagter Mann; der Todtgeborne komme
nicht in die Finsterniß dieser Welt und brauche inmitten
ihrer Torheit sein Leben nicht zu verbringen; er habe
die Ruhe ge- (S. 375) funden, die Demjenigen, der in die
Welt eintrete, nicht beschieden sei.[5]
Was gibt es also Trostreiches in diesem Leben für den
Menschen, der im Dunkeln wandelt und die Erfüllung
seiner Wünsche vergeblich ersehnt? Und hätte er alle
Reichtümer auf sich zusammengehäuft: er verlöre den
ruhigen Genuß gleichwohl, weil er nun ängstlich behüten
müßte, was er mit gierigem Geize zusammengerafft hätte.
Das ist aber ein gar armseliger Besitz, der für den
Besitzer selbst ohne Nutzen ist. Oder kann es etwas
Jammervolleres geben, als wenn Jemand einen Überfluß
ängstlich hüten muß, der für ihn ganz nutzlos ist?
5. Wenn also das
Leben voller Mühseligkeiten ist, so muß sein Ende
Erleichterung gewähren, und dann ergibt sich der
einfache Schluß: jede Erleichterung ist eine Wohltat;
der Tod ist aber eine große Erleichterung, weil er die
Mühen des Lebens endet: folglich ist der Tod auch eine
Wohltat. Deßhalb gerade äusserte auch Simeon seine
Freude bei der Darstellung des Herrn im Tempel. Er hatte
vom heiligen Geiste die Zusage erhalten, daß er den Tod
nicht schauen würde, bis er den Gesalbten des Herrn
gesehen; und als er nun das Kind sah, nahm er es auf
seine Arme und sprach: „Nun, Herr, lassest du deinen
Diener in Frieden scheiden.“ Es ist, als wenn aus diesen
Worten das Gefühl spräche, daß er nur gezwungen im Leben
zurückgehalten würde, nicht aber aus seiner eigenen
freien Willensentschließung. Er bittet, entlassen zu
werden, als gälte es, aus den Fesseln des Kerkers zur
Freiheit zu eilen. Wir sind ja auch in der That in
diesem Leibesleben von Fesseln gehalten; und schlimmer
sind noch die Fesseln, mit denen die Versuchungen uns
umstricken und nach dem herrschenden Gesetze der Sünde
in die schmachvollste Botmäßigkeit bringen. So sehen wir
auch, wie im Todesaugenblicke die Seele des Sterbenden
sich allmälig von den (S. 376) Fesseln des Leibes löst
und gleichsam aus einer Kerkerhütte entlassen sich
aufschwingt. So drängt es auch David, diesen Ort der
Wanderschaft zu verlassen, wenn er sagt: „Ein Ankömmling
bin ich dir in diesem Lande und ein Fremdling, wie auch
unsere Väter es waren.“[6]
Und weil er ein Fremdling ist, darum will er zu jenem
gemeinsamen Vaterlande aller heiligen Seelen eilen: er
hat nur die eine Bitte, es möchten ihm, ehe er aus dem
Leben scheide, die Sünden vergeben werden, welche ihm
nach der Armseligkeit der irdischen Wanderschaft
ankleben. Er wußte, daß Demjenigen, welchem hier die
Sünden nicht nachgelassen sind, dort im Vaterlande der
Heiligen keine Wohnstätte bereitet wird. Dort wird
Niemand sein, der nicht würdig ist, in das ewige Leben
einzugehen; — denn das ewige Leben ist volle
Schuldlosigkeit. Darum fügt David hinzu: „Vergib mir,
daß ich erquicket werde, ehe denn ich hingehe und nicht
mehr bin.“[7]
6. Wie hätten
wir also Grund, diesem Leben Wunsch und Begehr
zuzuwenden, da wir doch nur um so mehr mit Sündenlast
beschwert werden, je länger wir hier verweilen? Darum
sagt auch der Herr: „Jeder Tag hat genug an seiner
Plage.“[8]
Wir verstehen dann auch das Wort Jakobs: „Die Tage
meiner Wanderschaft sind hundert und dreissig Jahre,
wenige und böse;“[9]
nicht, als ob die Tage an sich böse wären, sondern weil
für uns mit dem Wachsen der Tage auch das Wachsen der
Sünde sich häuft: geht doch kein Tag ohne Sünde
vorüber!
7. Wie erhaben
sind deßhalb die Worte des Apostels: „Christus ist mein
Leben, und Sterben mein Gewinn.“[10]
(S. 377) Damit bezeichnet Paulus den Grund, warum wir
dieses Leben aushalten müssen, aber auch den Segen, den
der Tod bringt. Christus, dem wir dienen müssen, ist
unser Leben, wie er das Leben der Heiligen war, die ihm
in der Verkündigung seines Evangeliums den vollen Beweis
ihres hingebenden Gehorsams brachten. Auch Simeon hatte
Christus erwartet, bis er sagte: „Nun, Herr, entlässest
du deinen Diener.“ Christus ist unser König, und was der
König gebietet, dürfen wir weder zurückweisen noch
verachten. Wie München entsenden die Herrscher dieser
Erde der Ehre oder des Amtes halber zu langem
Aufenthalte in weit entlegene Länder: und wagen es Diese
etwa ohne Zustimmung ihres Königs den angewiesenen Platz
zu verlassen? Wieviel mehr ist es aber Pflicht, den
göttlichen Befehlen zu gehorchen, wenn wir schon den
menschlichen uns fügen! Dem Heiligen ist also Christus
das Leben, aber Sterben ist ihm Gewinn. Als treuer
Knecht verweigert der Apostel nicht die gehorsame
Hingabe des Lebens; als Weiser aber streckt er seine
Hand aus nach dem Gewinne, den der Tod ihm bringt. Es
ist ja in der Tat ein Gewinn, dem Anwachsen der
Sündenschuld entgangen zu sein; ein Gewinn ist es,
Schlechteres zu verlassen, um Besseres zu erlangen.
Darum fügt eben der Apostel bei: „Aufgelöst und mit
Christo zu sein, wäre zwar viel besser; bleiben aber im
Fleische ist notwendig euretwegen.“ Die Notwendigkeit
liegt in der Förderung des Werkes, das der Herr ihm
übertragen hat; das Bessere liegt in der Huld und Liebe
Christi und in der Vereinigung mit ihm.
3.
Der Segen des Todes: die Abtötung ist ein allmähliges
Sterben und darum überaus nützlich.
. Jetzt können
wir untersuchen, was der Tod, was das Leben ist, nachdem
wir von dem Apostel gehört haben, daß Derjenige, welcher
es verdient, nach dem Tode (S. 378) mit Christus sein
wird. Nach der Lehre der Schrift ist der Tod die
Befreiung der Seele vom Leibe, die Scheidung
gewissermaßen des Menschen. Wir werden im Sterben gelöst
von den Banden, welche Leib und Seele vereinigt halten.
Darum sagt der Psalmist: „Du hast meine Bande zerrissen,
darum will ich dir ein Opfer des Lobes bringen.“ Daß er
aber dabei an die Fesseln denkt, welche Leib und Seele
verbinden, zeigen die vorhergehenden Worte: „Kostbar ist
in den Augen des Herrn der Tod seiner Heiligen.“[11]
Er freut sich, weil er in prophetischem Schauen
vorhersieht, daß er bei den Heiligen und bei allen
Denjenigen sein werde, welche ihre Seelen in treuer
Ergebenheit in Christi Hand niederlegten. Auch er hatte
einstmals bereitwillig für das Volk Gottes sein Leben
gegen Goliath eingesetzt, als er den Zweikampf aufnahm
und ganz allein der allgemeinen Gefahr und der
Fortführung verächtlicher Schmähung ein Ziel setzte. So
hatte er auch, um den Zorn des Herrn zu sänftigen, sich
bereitwillig dem Tode gewidmet und sich selbst als Opfer
für die erzürnte Majestät Gottes zur Sühne dargeboten.
Er wußte recht wohl, daß es ruhmreicher ist, für Gott zu
sterben als hier auf Erden im Glanze königlicher
Herrschaft zu leben. Und was kann es auch Erhabeneres
geben, als ein Opfer Christi zu sein? Wenn wir von David
wiederholt lesen, daß er reiche Opfer dargebracht habe,
so wissen wir aber auch, daß er selbst hinzusetzt: „Ich
werde dir darbringen ein Opfer des Lobes.“ Er sagt
nicht: „Ich bringe dieses Opfer jetzt dar,“ sondern:
„Ich werde es darbringen;“ er will damit andeuten, daß
jenes Opfer erst vollkommen ist, welches wir, von den
Banden des Leibes gelöset, dereinst vor Gottes Angesicht
als ein wahres Lobopfer darbringen. Ohnehin ist Niemand
im Stande, vor seinem Tode Gott in vollkommener Weise zu
loben; wie ja auch Niemand mit Bestimmtheit selig
gepriesen werden kann (S. 379) in seinem Leibesleben,
weil die Zukunft des Lebens immer noch unsicher ist. Der
Tod ist also die Lösung von Leib und Seele; ganz, wie
der Apostel sagt: „Aufgelöst wünsche ich zu sein und bei
Christus: Das ist weit besser.“ Bei jener Auflösung wird
der Leib zur Ruhe gebracht; die Seele aber, wenn sie
fromm war, geht ein in jenen Frieden, der in und bei
Christus ist.
9. Deßbalb
bemühen sich die Heiligen auch auf Erden schon, frei zu
werden von den Makeln dieser Leiblichkeit, welche uns
mit tausend Fesseln binden. Darum streben sie, von den
Mühseligkeiten des Lebens sich los zu machen; darum
fliehen sie die Vergnügungen sündhafter Lust und
ersticken die Flammen der Väterlichkeit. Wer so handelt,
der trägt mitten im Leben das Gepräge des Todes an sich:
ihm sollen alle Lüste des Fleisches und der Welt
sterben, gleichwie er allen Lockungen der Welt stirbt.
So war auch Paulus gestorben, wie er selbst bezeugt:
„Die Welt ist mir, ich bin der Welt gekreuzigt.“[12]
Damit wir erkennen, daß es sich um ein Gott
wohlgefälliges Sterben im Leben handelt, ermahnt er uns:
„Immer müssen wir die Abtötung Jesu an unserem Körper
tragen, damit auch das Leben des Herrn Jesu an unserem
Körper offenbar werde.“[13]
Die Abtötung, das fortgesetzte Sterben soll in uns das
Leben wirken: ein glückseliges Leben nach dem Tode, nach
errungenem Siege, nach hartem Kampfe. Dann wird das
Gesetz des Fleisches dem Gesetze des Geistes nicht mehr
widerstreiten; dann wird kein Kampf mehr stattfinden mit
dem Leibe des Todes; dann wird auch in ihm der Sieg
nicht mehr können gefährdet werden. Wenn Das die Frucht
der Abtötung ist, so wage ich selbst nicht zu
entscheiden, ob nicht dieses Sterben wertvoller vor Gott
ist als selbst jenes Leben. Das Ansehen des Apostels
spricht dafür, wenn er sagt: „So ist der Tod wirksam in
uns, das Leben in (S. 380) euch.“[14]
Also hat eines Mannes Leben das Leben so vieler Völker
gewirkt! Darum lehrt er, daß jener Tod auch von Denen,
die noch im Leben sind, erstrebt werden müsse, damit der
Tod des Herrn Jesus in unserem Körper erglänze; darum
preist er jenen Tod glücklich, durch welchen der Mensch
äusserlich vernichtet, aber innerlich erneuert wird;
durch welchen unsere irdische Hütte abgebrochen wird,
damit die himmlischen Wohnungen uns erschlossen werden.
Derjenige vollzieht also das Sterben an sich selbst,
welcher sich frei von der Gemeinschaft fleischlichen
Sinnes macht, welcher von jenen Fesseln sich löset, über
welche der Herr durch den Propheten Isaias gesagt hat:
„Löse die Bande der Bosheit, mache los die Fesseln der
Bedrückung, gib frei die Gedrückten, reisse los jegliche
Last!“[15]
10. Auch
Derjenige stirbt im Leben, welcher sich der Begierden
entäussert und zu den ewigen Freuden sich erschwingt;
der im Himmel seinen Wohnsitz aufschlägt, in dem Paulus
verkehrte, während er noch auf Erden lebte. Sonst hätte
er sicher nicht gesagt: „Unser Wandel ist im Himmel;“
was einmal darauf hindeuten kann, daß er zum Voraus des
Lohnes für seine Verdienste sicher war, zum Anderen aber
auch auf betrachtende Erwägung gehen kann. Dort im
Himmel haftete ja seine Betrachtung, dort war der Wandel
seiner Seele, dort war seine Weisheit. Der Weise löst
nämlich, wenn er jenes himmlische Gut sucht, (S. 381)
seine Seele vom Leibe; er gibt die Verbindung auf, indem
er nach einer Erkenntniß der Wahrheit strebt, welche er
ganz unverhüllt und offen dargelegt wünscht: darum aber
wünscht er seinen Geist von den Umstrickungen und Übeln
dieses leiblichen Lebens befreit zu sehen. Mit unseren
Händen, Augen und Ohren können wir jene höchste Wahrheit
nicht erfassen. Was gesehen wird, ist zeitlich, was aber
nicht gesehen wird, ewig. Auch werden wir oft durch
unsere Augen Täuschungen ausgesetzt und sehen gar Vieles
anders, als es ist. In gleicher Weise ist das Gehör
Täuschungen unterworfen. Wir müssen also, wenn wir vor
Trug und Täuschung sicher sein wollen, nicht Das
betrachten, was sichtbar ist, sondern Das, was
unsichtbar ist. Oder wie soll die Seele der Täuschung
entgehen, wie soll sie dem Throne der Wahrheit nahen,
wenn sie nicht gewissermaßen zuvor vom Leibe scheidet
und so der Täuschung und Irreleitung desselben sich
entzieht? Irregeführt wird die Seele durch den Blick des
Auges, durch das Aufhorchen des Ohres: darum soll sie
beiden sich entziehen. Darum sagt der Apostel: „Rühret
nicht an, kostet nicht, tastet nicht an, was zum
Verderben gereicht!“[16]
Alles gereicht wirklich zum Verderben, was in strafbarer
Nachsicht gegen den Leib beruht. Um zu zeigen, daß er
nicht durch solche Nachsicht, sondern durch Erhebung des
Geistes wie durch Demut des Herzens die Wahrheit
gefunden habe, fügt er hinzu: „Unser Wandel ist im
Himmel.“ Dort sucht er das Wahre und Ewige, dort sammelt
er sich in sich selbst und erreicht die Höhe der Tugend;
er will sich nicht Anderen anvertrauen, sondern in sich
selbst will er zur Erkenntniß gelangen. Was (S. 382) er
als wahr erfaßt, dem will er in richtiger Erkenntniß
folgen; was er aber als begehrenswert für irdische Lust
erkennt. Das will er als ein Trugbild verabscheuen und
fliehen.
11. Mit Recht
hat der Apostel diesen Leib erniedrigt und
herabgedrückt. „Einen Leib des Todes“ nennt er ihn. Und
wer hat denn auch jemals mit den Augen des Leibes den
himmlischen Glanz der Tugend geschaut? Wer konnte die
Gerechtigkeit mit seiner Hand ergreifen und festhalten?
Wer darf sagen, daß er die Weisheit mit dem Aufblicke
seines Auges entdeckt habe? Ja wenn wir in besonderer
Weise dem Denken uns hingeben, so sorgen wir, daß uns
Niemand belästigt; wir wollen mit unseren Ohren Nichts
vernehmen, und wir versenken uns so ganz und gar in
geistige Tätigkeit, daß wir oft nicht einmal das
unmittelbar Gegenwärtige sehen. Darum ist unser Denken
zu nächtlicher Zeit reiner, und auch im Herzen erwägen
wir dann besser, was uns erregt, ganz, wie der Psalmist
sagt: „Was ihr sprechet in eueren Herzen, Das bereuet
auf eueren Lagern!“[17]
Einige schließen auch wohl die Augen, wenn sie in
besonderer Geistesanstrengung tieferer Erforschung sich
zuwenden wollen: so meiden sie die Hindernisse, welche
ihnen die Augen bereiten können. Wir suchen oft geradezu
die Einsamkeit, damit kein fremdes Wort unser Ohr
trifft, das unsern Geist, während er der Betrachtung
obliegt, von der Wahrheit ablenken und die
Aufmerksamkeit vernichten könnte.
12. So nimmt uns
das gewöhnliche körperliche Leben schon vielfach in
Anspruch, und die Gewohnheit steigert die Sorgen noch,
durch welche die Frische der Seele gehemmt, ihre
Aufmerksamkeit abgelenkt wird. Deßhalb sagt Job:
„Gedenke, Herr, daß du, wie Thon, mich geformt hast.“[18]
Wenn aber der Leib Thon und Lehm ist, so belastet und
(S. 383) verunreinigt er die Seele, indem er diese
teilnehmen läßt an der Schmach ungezügelter
Begierlichkeit. „Haut und Fleisch hast du mir
angezogen,“ sagt Job, „mit Gebeinen und Sehnen mich
zusammengefügt.“ Einerseits wird dadurch die Seele
gebunden, andererseits zerstreut und abgelenkt. „Von
Unrecht hast du, o Herr, mich nicht frei gemacht. Wenn
ich nun gottlos bin, dann wehe mir! Bin ich aber
gerecht, so darf ich doch mein Haupt nicht aufheben;
denn mit Elend und Trübsal bin ich gesättigt.“ So
spricht Job: und ist dieses Leben nicht in der Tat voll
der Versuchungen, voll der Qualen, die uns auf dem Wege
umringen? Der heilige Dulder fragt darum: „Ist das Leben
des Menschen auf Erden etwas Anderes als steter Kampf?“
Er fügt aber mit gutem Grunde bei: „auf Erden;“ denn es
soll das Leben des Menschen im Himmel sein. „Ja,“ sagt
er ferner, „wie die Tage des Tagelöhners sind seine
Tage,“ in Mühe und Ermattung geht das Leben hin; gar
leicht wiegt der Lohn des Lebens, das schwankend und
unsicher dahinfließt, weil es in einer Hütte von Lehm
sich abschließt. Da ist keine Festigkeit, keine dauernde
Entschlossenheit der Gesinnung. Am Tage wird die Nacht,
während der Nacht wird der Tag wieder ersehnt. Seufzen
würzt die Mahlzeit; ohne Tränen, ohne Schmerz, ohne Mühe
wird das tägliche Brod nicht gegessen: da ist keine
Ruhe, kein Frieden, keine Freiheit von Zorn und Hader.
Zahllose Menschen sind einverstanden zu sterben: aber
sie flehen doch nicht um den Tod. Haben sie ihn aber
wirklich erfleht, so preisen sie sich glücklich: denn
nur im Tode ist Ruhe und Frieden.
4.
Weßhalb man den Tod eine Wohlthat nennen kann.
. Vielleicht
wendet Jemand ein: es stehe geschrieben, daß Gott den
Tod nicht gemacht habe. In der Tat war das Leben im
Paradiese, wo der Baum des Lebens stand, (S. 384) und
das Leben war gewissermaßen das Tagesgestirn für die
Menschen. Der Tod war also, weil er gegen den Willen
Gottes eingedrungen, ein Übel. Dem halte ich aber
entgegen: wie kann der Tod ein Übel sein, wenn er nach
der Meinung der Heiden volle Gefühllosigkeit bringt? und
noch mehr, wenn er, wie der Apostel sagt, Christum den
Herrn gewinnen läßt? Wo kein Gefühl ist, da ist auch
kein Schmerz über irgend welche Unbild; denn der Schmerz
ist ja ein Gefühl. Nun tritt freilich, dessen sind wir
gewiß, mit dem Tode nicht Gefühllosigkeit ein; es muß
also auch noch das Leben herrschen, und zwar ist es die
Seele, welche den Tod überdauert, wie sie Gefühl und
Leben fortsetzt. Wenn aber nach dem Tode Leben und Seele
noch fortbesteht, so bleibt auch der bessere Teil des
Menschen nicht bloß, sondern wird in seinen Vorzügen
noch gesteigert. Nach dem Tode wird die Seele durch
Nichts mehr zurückgehalten oder gehindert, was früher
dem Tode verfallen war: darum ist ihr Wirken und Thun
auch gesteigert, weil sie die eigenen Kräfte ganz frei
gebrauchen kann, ohne durch die Gemeinschaft mit dem
Leibe, der im Grunde doch mehr zur Hinderung diente,
gehemmt zu sein. Welches Übel soll aber daraus der Seele
erwachsen, wenn sie ihre Reinigkeit bewahrt und die
Übung der Tugend allezeit festgehalten hat? War Das
nicht der Fall, so liegt das Übel nicht im Tode, sondern
im Leben, das vor Gott gar nicht als Leben galt. Was
wäre das auch für ein Leben, das mit Sünden und Fehlern
bedeckt ist? Wie kommen wir also dazu, den Tod
anzuklagen, da dieser doch den wahren Werth des Lebens
zur Einlösung bringt oder Leid und Kreuz der Lebenstage
abschließt? So bietet der Tod entweder in der Ruhe, die
er bringt, das ihm eigentümliche Gut, oder er müht sich
um ein Übel, das seinem Wesen fremd ist.
14. Darnach
müssen wir also wohl beachten: Wenn das Leben zur Last
wird, so ist der Tod Erlösung; wenn das Leben zur Qual
werden kann, so ist der Tod das Heilmittel. Sagt man
aber, daß nach dem Tode das Gericht (S. 385) folge, so
darf man auch nicht vergessen, daß nach dem Tode das
Leben anhebt. Das Leben auf Erden ist nicht wahrhaft
gut; ist es aber doch immerhin gut, wie sollte der Tod
nicht erst recht gut sein, da mit ihm die Furcht vor dem
schrecklichen Gerichte endigt? Und wenn das Leben hier
auf Erden gut ist, wodurch erwirbt es den Anspruch auf
diese Bezeichnung, wenn nicht durch die Tugend und
Reinheit der Sitten? Der Vorzug liegt also keineswegs in
der Verbindung von Leib und Seele, sondern darin, daß
man durch die Tugend Alles, was sonst im Leben als Übel
gelten muß, siegreich zurückweist. Die Wohltat aber,
welche den Tod begleitet, tritt sofort ein, indem Das,
was der Seele recht eigentlich angehört, mehr als Das,
was im Gefolge der Verbindung von Leib und Seele sich
kund gibt, zur vollen Wirksamkeit entfaltet wird. Wenn
nun das Leben, sofern sich in ihm die vom Leibeselend
losgelöste Seele abspiegelt, gut ist; wenn ferner die
Seele gut und heilig genannt werden muß, welche sich
losmacht von den Fesseln des Leibes: dann ist der Tod
unter allen Umständen eine Wohltat, weil er die Seele
aus der Gemeinschaft dieses Leibes für immer löst und
befreit.
15. Nach allen
Richtungen hin darf man also den Tod eine Wohltat
nennen, mag man nun erwägen, daß er Widerstrebendes
trennt, so daß für immer der Streit ruht, oder daß er
ein Hafen ist, nach welchem Diejenigen als nach dem Orte
seliger Ruhe sich sehnen, welche von den Stürmen des
Lebensmeeres ruhelos umhergeworfen wurden. Und auch Das
bleibt von Bedeutung, daß er den Zustand des Menschen
nicht verschlechtert: vielmehr läßt er ihn unverändert
so, wie er ihn findet, um dem Richter das Urteil
anheimzugeben; die Ruhe selbst aber, die er gewährt,
entzieht den Menschen ebenso aller Unbill der Gegenwart,
wie er in der Erwartung der Zukunft stille Befriedigung
gewährt. Dazu kommt dann, daß Diejenigen ganz ohne Grund
den Tod fürchten, welche denselben als das Ende der
Natur ansehen. Wenn wir nämlich festhalten, daß Gott den
Tod (S. 386) nicht geschaffen hat, daß vielmehr der
Mensch, nachdem er den Frevel treulosen Ungehorsams sich
aufgeladen, von dem Urteilsspruche getroffen ist: es
solle der Staub zum Staube zurückkehren; wenn wir daran
festhalten, so werden wir finden, daß der Tod nur der
Sünde Ziel und Ende setzt; wird ja doch nur die Schuld
um so größer und schwerer, als das Leben länger dauert.
So hat denn der Herr es in seiner Erbarmung gefügt, daß
der Tod eintritt, damit die Schuld schwindet. Die
Vernichtung der Natur wird aber durch die Auferstehung
der Toten verhindert: hört im Tode und durch ihn die
Schuld auf, so wird durch die Auferstehung auch das
natürliche Leben der Unsterblichkeit teilhaftig. So ist
denn der Tod eigentlich nur ein Übergang, den man
herzhaft ausführen muß: ein Übergang von der Verwesung
zur Unverweslichkeit, von der Sterblichkeit zur
Unsterblichkeit, von Sturm und Unruhe zu seliger Ruhe.
Der Tod darf uns somit nicht erschrecken, sondern die
Segnungen, welche der gut vollbrachte Übergang uns
verheißt, müssen uns mit Freude erfüllen. Oder was ist
der Tod anders als die Bestattung der Sünden, die
Auferstehung der Tugenden? Dieser Überzeugung entstammt
jener Wunsch: „Möge meine Seele sterben in den Seelen
dieser Gerechten!“[19]
Möge sie zur Ruhe gelangen, indem sie ihrer
Sündhaftigkeit entkleidet wird; möge sie die
gnadenreiche Schönheit der Gerechten annehmen, welche
die Abtötung unseres Herrn an Leib und Seele tragen. Die
Abtötung aber nach dem Beispiele Christi schließt die
Tilgung der Sünden, Sühnung der Fehler, Widerruf der
Verirrungen, Annahme der Gnaden ein. Und endlich: was
können wir Erhabeneres von der Wohltat des Todes sagen,
als Dieses, daß der Tod die Welt erlöst hat?!
5.
Ermahnung, die Furcht vor dem Tode zu besiegen durch
Abtötung, welche ein Bild des Todes ist.
. Wir wollen
inzwischen den Tod im gewöhnlichen (S. 387) Sinne des
Wortes, dem Alle unterworfen sind, wieder betrachten.
Warum sollten wir denselben fürchten, da er der Seele in
keiner Weise schaden kann? Darum sagt ja auch der Herr:
„Fürchtet nicht Diejenigen, welche zwar den Leib töten
können, die Seele aber zu töten nicht vermögen.“ Durch
diesen Tod wird vielmehr die Seele befreit, sofern er
die Gemeinschaft mit dem Leibe aufhebt und die Fesseln
der Gebrechlichkeit löst. Darum tun wir gut, wenn wir
schon im Leibesleben sterben, indem wir unsere Seele
über die Fleischeshülle sich erheben und so gleichsam
aus ihrem Grabe erstehen lassen. Frei machen sollen wir
uns von der Umarmung des Fleisches; lösen sollen wir;
uns von Allem, was irdisch ist, damit unser Widersacher
in uns Nichts findet, was er als sein Eigentum ansehen
könnte. Auf das Ewige sollen wir unseren Blick richten;
zu jenem Göttlichen sollen wir auf den Flügeln der Liebe
uns aufschwingen. Wir müssen uns hier erheben von Allem,
was der Zeit und der Erde gehört. Darum sagte der Herr
zu seinen Aposteln: „Stehet auf, lasset uns von hinnen
gehen!“ Damit befahl er, daß man von dem Irdischen sich
erhebe, den am Boden liegenden Geist zum Himmel
emporrichte, damit das Wort der Schrift wahr werde: „Es
wird deine Jugend wie die des Adlers erneuert werden.“
Das ist zur Seele gesagt worden. Unsere Seele soll
gleich dem Adler der Höhe zustreben, über die Wolken
hinaus ihren Flug nehmen; in neuer Umhüllung soll sie
erglänzen, zum Himmel soll ihr Sehnen gehen, wo keine
Fallstricke ihr drohen. Der Vogel, welcher aus der Höhe
herabsteigt, oder welcher sich überhaupt nicht zur Höhe
erschwingen kann, läuft vielfache Gefahr, von
Fangstricken umgarnt oder von der Leimrute festgehalten
zu werden: kurz er ist allen Nachstellungen
preisgegeben. So soll auch unsere Seele sich hüten, in
das Irdische sich zu verlieren. Ihr lauert der Strick im
Golde, die Leimrute im Silber; ihr drohen schlimme
Fesseln in reichem Grundbesitze; ihr birgt sich
tödliches Geschoß in der Liebe. Wenn wir nach Gold
streben, wird uns dasselbe leicht zum Strick, der (S.
388) uns erdrosselt; wünschen wir den reichen Besitz von
Silber, so haften wir leicht im Besitze, wie der Vogel
an der Leimrute; richten wir unser Verlangen auf
Grundbesitz, so werden wir am Boden gefesselt
zurückgehalten. Was suchen wir also hinfälligen,
wertlosen Gewinn zum Nachtbeile unserer überaus
kostbaren Seele? Zu armselig ist ja die ganze Welt, als
daß sie zum Lösegelde für eine einzige Seele ausreichte.
Was nützt es denn auch dem Menschen, wenn er die ganze
Welt gewänne, aber Schaden litte an seiner Seele? Oder
welchen Entgelt könntest du für deine Seele geben? Durch
Gold und Silber wird sie nicht erkauft, eher zu Grunde
gerichtet. Auch die Schönheit des Weibes umstrickt die
Seele, wenn man der Gefahr sich aussetzen zu dürfen
glaubt. Begierlichkeit, Trauer, Zorn und alle anderen
Leidenschaften sind ebenso viele Geschoße, welche in
unsere Seele eindringen und sie wie mit schwerem Nagel
dem Leibe verbinden.
17. Fliehen wir
also diese Übel und erheben wir unsere Seele zur
Ebenbildlichkeit mit Gott! Die Flucht vor der Sünde
bringt diese Ebenbildlichkeit; und in treuer Tugendübung
wird das Bild Gottes in uns ausgeprägt. Unser Schöpfer
hat der Seele die Farbe der Tugend gegeben. Zu Jerusalem
sagt der Herr: „Siehe, ich habe deine Mauern gemalt.“ So
hüten wir uns denn, daß wir nicht durch unsere
Nachlässigkeit das feste Bild, welches unserer Seele
eingezeichnet ist, wie mit einem Schwamme wegwischen.
Der Herr sagt: „Deine Mauern habe ich gemalt;“ von den
Zinnen dieser Mauern können wir den Feind beobachten.[20]
(S. 389)
18. Die Seele
hat darnach auch ihre Mauern, auf denen sie thront und
spricht: „Wie eine ummauerte, befestigte Stadt bin ich.“
Von jener Mauer geschützt und verteidigt ist die Seele
selbst wie eine Festung geworden. Mit dem hohen Liede
kann die Seele sagen: „Ich bin eine Mauer, überragt von
Türmen.“ Von dieser Mauer hat der Herr gesagt: „Siehe,
in meine Hände habe ich deine Mauern gezeichnet; du bist
allezeit vor meinen Augen.“ Gut und glücklich ist die
Seele, welche Gott zum Wächter bat, welche in seinen
Händen ruht, welche allezeit vor seinem Blicke ist. Sie
kann mit jener prophetischen Seele sprechen: „Des Herrn
Augen ruhen auf dem Gerechten,“[21]
und mit dem Psalmisten: „Vor ihm bin ich geworden wie
eine Seele, die den Frieden fand.“ Diese Seele hat zwei
feste Türme, für ihre Erkenntniß das Wort, für ihre
Sitte die Unterweisung des Herrn. Diese Seele gleicht
der Braut im hohen Liede, welche in die Gärten eilt und
dort den Geliebten findet, wie er bei seinen Freunden
weilt. Ihm ruft sie zu: „Der du in den Gärten sitzest,
lasse deine Stimme mich hören“![22]
Sie sagt: „Lasse mich deine Stimme hören,“ nicht: „deine
Freunde.“ Sie fügt hinzu: „Fliehe, mein Geliebter!“ So
mahnt sie, weil sie selbst entschlossen ist, ihm zu
folgen, wenn er Irdisches, Vergängliches flieht. „Werde
gleich dem jungen Hirsche, welcher den Netzen
entflieht,“ sagt sie ferner. Sie will eben selbst
fliehen und über die Erde sich erheben.
19. Hier dürfen
wir an jenen Garten erinnert werden, von welchem Plato
erzählt, und den er einmal den Garten des Zeus, ein
anderes Mal den Garten des Geistes nennt; (S. 390) Zeus
bezeichnet er ja sowohl als Gott wie als Geist der
ganzen Welt. In diesen Garten sei die Seele eingetreten,
die er Venus nennt, damit sie an der Fülle und dem
Reichtume desselben sich ersättige: dort aber habe
gefüllt mit Nectar ein mächtiges Gefäß gestanden. Plato
hat Dieses wohl aus dem hohen Liede entnommen.[23]
Dort tritt die Gott ergebene Seele in einen geistigen
Garten ein, in welchem eine reiche Fülle der
verschiedensten Tugenden und die Blüten erhabener Worte
sich finden. Und wem wäre unbekannt, daß aus jenem
Paradiese, in welchem der Baum des Lebens und der Baum
der Erkenntnis des Guten und des Bösen stand, daß aus
ihm die Fülle der Tugenden in den Garten der Seele
verpflanzt werden mußte? Von diesem Garten der Seele
oder vielmehr von der Seele selbst spricht Salomon im
hohen Liede. „Ein verschlossener (S. 391) Garten,“ sagt
er, „bist du, meine Schwester, ein verschlossener
Garten, eine versiegelte Quelle; deine Früchte sind ein
Paradies.“[24]
Die Seele aber antwortet: „Hebe dich, Nordwind, komme,
Südwind; durchwehe meinen Garten, so werden meine
Gewürze fließen. Mein Geliebter komme in seinen Garten
und esse die Früchte seiner Äpfel.“ Wie erhaben ist
dieser Gedanke, daß die mit den Blüten der Tugend
geschmückte Seele ein Garten sei, daß sie in sich ein
duftendes Paradies trage! Und in diesen ihren Garten
ladet sie das Wort, damit sie von seinem himmlischen
Taue benetzt, von seinem Reichtum getränkt werde. Das
ewige Wort aber weidet sich an den Tugenden der Seele,
wenn sie diese gehorsam und vollkommen findet: dann
bricht dieses Wort die Früchte und erfreut sich an ihrem
Anblicke. So lange aber das Wort in der Seele weilt,
strömen aus ihr die Wohlgerüche heiliger Worte; weithin
dringen alsdann die Düfte der Huld und Gnade vor Gott.
20. Darum
antwortet der Bräutigam — das Wort ist aber der
Bräutigam der Seele, die ihm in heiligem Bunde angetraut
ist —: „Ich kam in meinen Garten, meine Schwester, meine
Braut, um meine Myrrhe mit meinen Gewürzen zu pflücken,
den Honigseim sammt meinem Honig zu essen, meinen Wein
mit meiner Milch zu trinken: esset, trinket, berauschet
euch, meine Brüder und Freunde! Ich schlafe, aber mein
Herz wacht.“[25]
Da erkennen wir, an welchen Früchten Gott sich sättigt
und erfreut: wenn die Seele der Sünde abstirbt, wenn sie
ihre Schuld tilgt, ihre Ungerechtigkeiten für immer zur
Ruhe bestattet. Die Myrrhe deutet uns die Bestattung der
Toten. Todt aber sind die Sünden, welchen die
Annehmlichkeit des Lebens nicht mehr vergönnt ist. Die
Wunden, welche die Sünden geschlagen (S. 392) haben,
werden von dem Balsam des göttlichen Wortes berührt; mit
höherem Worte wird die Seele dann wie mit kräftigem
Brode genährt, mit mildem Worte aber wie mit Honig
geheilt. „Solche gute Worte sind in der That wie
Honigseim,“ sagt Salomon in seinen Sprüchen. Da ist nun
in jenem Garten ein Wort, welches die Schuld straft; ein
anderes weist den Frevel zurecht: ein anderes läßt den
Übermut sterben und begräbt ihn gleichsam, sofern
nämlich der Betroffene seinen Verirrungen entsagt.
Kräftiger ist das Wort, welches das Herz des Menschen
mit der erhabenen Speise der heiligen Schrift stärkt.
Ein anderes Wort ist milde überredend wie Honig, und
doch bringt es das Gewissen des Sünders bei aller Milde
zur Zerknirschung. Wiederum ein anderes Wort von
glühenderem Geiste berauscht, gleich dem Weine, und
erfüllt das Herz mit hoher Freude. Endlich ist ein Wort,
gleich der Milch, rein und weiß. Diese Speisen bietet
der himmlische Bräutigam seinen Genossen: „Esset, meine
Freunde, trinket, berauschet euch, meine Brüder!“ Die
Genossen sind Die, welche ihm folgen und dem
Hochzeitsmahle beiwohnen. Wenn aber die Seele mit dieser
Speise gesättigt, von solchem Tranke berauscht für die
Welt entschläft, dann erwacht sie für Gott. Und dann
verlangt auch das ewige Wort, daß ihm die Thüre dieser
Seele geöffnet werde, damit er mit seinem Eintritt sie
vollends beselige.
21. Da haben wir
denn die Teilnehmer am Gastmahle, in anderer Weise, als
Plato berichtet; — da ist der wahre Nektar aus Wein und
Honig nach dem Worte des Propheten gemischt; dort finden
wir jenen geheimnißvollen Schlaf, dort das ewige Leben,
in welchem Gott die Seinigen speiset: und Christus
selbst ist dieses Leben. Die Keime seiner Worte ruhen
aber als fruchtbare Saatkörner in der Seele; und so
entsteigt sie in dem Worte sich selbst. Die Seele aber,
welche aus der Knechtschaft der Welt hervorgeht und über
das Leibesleben sich erhebt, — diese Seele folgt auch
dem Worte.
6.
Wie wir den Fesseln der Welt entgehen können.
. Es gibt aber
mächtige Gewalten, welche uns von der Höhe unserer
Seelenmauer herabstoßen wollen. Gewalten, die nach den
Worten des Apostels in der Luft wie auf der Erde sind:
sie suchen uns zu hindern, wenn wir geraden Weges
fortgehen; wollen wir dem Himmlischen zustreben, so
möchten sie uns herabziehen und an die Erde fesseln. Um
so viel mehr müssen wir unseren Geist auf das Himmlische
richten und dem ewigen Worte folgen. Jene Mächte
überschütten uns mit weltlichen Sorgen, um uns vom
rechten Wege abzulenken: wir aber sollen dann um so
entschiedener unsere Schritte zu Christus hinwenden.
Jene Mächte werfen in deine Seele die ungezügelte Begier
nach Gold, Silber und fremdem Besitztum, damit du dich
unter dem Vorwande, jenes erwerben zu müssen, von der
Teilnahme an dem Hochzeitsmahle des Sohnes Gottes
entschuldigen möchtest. Hüte du dich aber vor solcher
Entschuldigung; ziehe vielmehr das hochzeitliche Gewand
an und nimm Teil an dem Gastmahle des himmlischen
Königs! Es könnte sonst auch dir begegnen, daß der Herr
dich ausschlöße und für dich, während du weltlichen
Sorgen hingegeben bist, Andere einladet. Auch das
ungebührliche Streben nach Ehre legen jene Mächte der
Welt in die Seele, damit du dich erhebest wie Adam und
so, während du Gott gleich sein willst in der Fülle
seiner Macht, die göttlichen Gebote verachtest. Damit
würdest du dann auch diejenigen göttlichen Gaben, welche
du wirklich besitzest, verlieren, nach dem Worte der
Schrift: „Wer Nichts gewann, Dem wird auch Das, was er
hatte, genommen.“
23. Wie oft
überflutet uns nicht im Gebete, während wir doch Gott
nahe sind, Schmachvolles und Sündhaftes, um uns vom
Eifer der Andacht abzuhalten! Wie oft wagt der Feind der
Seelen uns Gedanken einzuflößen, um uns von heiligen
Entschlüssen und frommen Vorsätzen abwendig (S. 394) zu
machen! Wie oft entflammt er nicht fleischliche
Begierden! Wie oft läßt er unsere Augen Unkeusches
erblicken, wodurch der keusche Sinn des Frommen versucht
wird, um ihn unvorbereitet durch das Geschoß sündhafter
Liebe zu verwunden! Wie oft wird nicht in deinem Herzen
ein ungerecht begehrlich Wort laut, so daß schlummernde
Gedanken der Ungerechtigkeit lebendig werden! Davon sagt
das Gesetz: „Hüte dich, daß nicht etwa ein verborgener
Gedanke der Ungerechtigkeit in dir sich rege.“[26]
Dann würde der Herr dir sagen: „Was denkst du Böses in
deinem Herzen?“ Oder kannst du von dem Reichtume an
Gold, Silber und Ackergütern, wie auch von den Ehren,
deren du dich erfreust, sagen: Meine eigene Kraft hat
mir dieses Alles erworben, — so daß du dann des Herrn,
deines Gottes, vergeben dürftest?
24. Durch solche
Belästigungen wird die Seele, während sie ihren Flug zum
Himmel richten möchte, niedergezogen. Du aber sollst als
ein guter Streiter Christi kämpfen, das Irdische
mißachten und vergessen, zum Himmlischen und Ewigen dich
erheben. So laß denn deine Seele in der Höhe bleiben,
damit sie nicht durch die Lockspeise der Welt verführt
werde. Die Lüste der Welt sind solche böse, gefährliche
Lockspeisen; wenn du sie suchst, wirst du den
Fallstricken nicht entgehen. Der Blick der Buhlerin ist
eine Fessel für Den, der ihr ergeben ist. Mehr noch gilt
Das von der süßen Schmeichelrede, die im ersten
Augenblicke dich mit Wonne erfüllt, nachher aber alle
Bitterkeit des sündhaften, schuldbeladenen Gewissens zu
kosten gibt. Ein Fallstrick ist auch der Besitz fremden
Gutes, wie voll der Annehmlichkeit dasselbe auch sein
mag. Kurz jeder Weg, den unser Leben zieht, ist mit
Fallstricken belegt. Darum sagt der Gerechte: „Auf dem
Wege, auf welchem ich wandelte, ver- (S. 395) bargen sie
mir Schlingen;“[27]
daraus sollst du lernen, daß du Dem folgen mußt, der von
sich gesagt hat: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das
Leben.“[28]
Dann kannst du sagen mit dem Psalmisten: „Der Herr hat
meine Seele bekehrt; er hat mich auf die Wege der
Gerechtigkeit geführt um seines Namens willen.“[29]
25. So soll uns
denn die Welt sterben; sterben soll uns die fleischliche
Klugheit dieser Welt, weil sie Gott widerstrebt.
Christus allein soll unsere Seele gehören, so daß wir
sagen können: „Soll etwa meine Seele nicht Gott
unterworfen sein?“[30]
Der Psalmist sagt damit, daß die Seele der Welt oder
irdischem Gute nicht unterworfen sein sollte. Jemand,
der habsüchtig oder geizig ist, kann Das nicht sagen;
wohl aber sagt Das der Gerechte und Genügsame. Der
Geizige aber sagt: „Meine Seele, du hast viele Güter für
lange Jahre aufgehäuft: ruhe nun aus, iß, trink und laß
dir wohl sein!“[31]
Seine Seele ist körperlicher Begierde unterworfen; die
Seele des Gerechten aber bedient sich des Körpers
lediglich als eines Werkzeuges, das ihr wie einem
erfahrenen Künstler zu Willen sein muß. So bildet sie
aus dem Leibe diejenige Gestalt, die sie ihm geben will.
In ihm läßt sie den Widerhall ihrer tugendhaften
Stimmung widertönen, indem sie jetzt die Silberglocke
der Keuschheit, jetzt den Gesang der Mäßigkeit und
Enthaltsamkeit ertönen läßt: die süße Lieblichkeit
jungfräulichen Sinnes und den Ernst würdigen
Wittwenstandes läßt sie unverkennbar widerstrahlen.
Bisweilen freilich leidet die Seele auch unter dem
Leibe, aber immer als freie Herrscherin: darum richte du
Alles auf ehrbare Weise, damit auch dieses Mitleiden
ganz in den Grenzen der Ehrbarkeit bleibe. Wird ja sonst
auch Der, welcher siehet, meist durch das Sehen, wie der
Hörende durch das Hören er- (S. 396) regt: und darum
mahnt die Schrift: „Deine Augen sollen das Rechte
sehen;“ und an einer andern Stelle: „Warum solltest du
dich verführen lassen von einer Fremden? Blicke nicht
auf zu den Augen einer Dirne; achte nicht auf die Worte
einer Buhlerin!“[32]
7.
So viel Beschwer ist im Leibesleben, daß der Tod nur dem
Gottlosen bitter ist.
. Wozu soll ich
aber von den Fallstricken reden, welche uns von aussen
bereitet werden? Mehr müssen wir uns vor jenen hüten,
welche in unserem eigenen Leibesleben uns bedrohen. Wir
dürfen deßhalb unsere Seele dem Körper nicht
anvertrauen; wir dürfen nie mit ihm sich nicht
vermischen lassen. So mahnt uns auch die Schrift, unsere
Seele mit dem Freunde, aber nicht mit einem Feinde zu
verbünden. Dein Leib ist im Grunde dein Feind, weil er
dem Geiste widerstreitet: seine Werke sind Feindschaft.
Streit und Verwirrung. Hüte dich also vor der
Vermischung, damit du nicht beide dem Verderben
überlieferst. Bei der gegenseitigen Durchdringung wird
das Fleisch, welches geringer ist als der Geist, über
Gebühr erhoben: und doch gibt die Seele dem Leibe das
Leben, während das Fleisch den Tod auch über den Geist
bringt. So wird die beiderseitige Tätigkeit, ja selbst
nahezu die Wesenheit vermischt. Die Seele nimmt Teil an
der Gefühllosigkeit des Toten Leibes, wie umgekehrt auch
der Leib allen Kräften der Seele dient. Keineswegs aber
darf man glauben, daß beide in einander übergeben, weil
die Seele den Leib durchdringt. Dringt ja auch das Licht
an jeden Ort, ohne mit dem irdischen Körper selbst eins
zu werden. Wie also die Wesenheit von Leib und Seele
verschieden ist, so soll auch die Tätigkeit beider von
einander unabhängig sein: die Seele (S. 397) wohne im
Leibe, um ihn zu beleben, zu regieren, zu erleuchten.
27. Wir können
freilich nicht leugnen, daß die Seele mit dem Leibe
fühlt und leidet, wie sie ja auch sich mitbetrübt. Der
Herr Jesus selbst sagt: „Meine Seele ist betrübt bis zum
Tode;“[33]
und der Psalmist: „Gar sehr bestürzt ist meine Seele.“[34]
So nimmt auch der Flöten- und Zitherspieler wie der
Sänger an seinen Weisen mit Stimme, Haltung, Gefühl
Teil. Trauriger erscheint er bei traurigen, fröhlicher
bei heiteren Tönen: aufgeregt bei höheren und selbst
milder und sanftmütiger bei milden Tönen: so bringt er
gewissermaßen die Töne seiner Weisen selbst zur
Anerkennung und stimmt nach ihnen seine Empfindungen.
Wie man der Zither mit den Spitzen der Finger die Töne
der Saiten entlockt, so ruft die Seele auch im Leibe die
entsprechenden Stimmungen hervor, um den vollen Einklang
der Sitten und Tugenden zu bewirken. Sie soll darum auch
in all’ ihren Gedanken, in all’ ihren Werken darauf
achten, daß ihre Entschlüsse und Handlungen durchaus
einander entsprechen. Die Seele herrscht also, der Leib
ist ihr zum Gebrauche überwiesen: dort ist Freiheit,
hier Knechtschaft; die Seele sind wir selbst, der Leib
gehört nur zu uns. Wenn deßhalb Jemand die Schönheit der
Seele liebt, so liebt er uns; liebt er aber die
Schönheit des Leibes, so liebt er nicht den Menschen
selbst, sondern den Liebreiz der Gestalt, welche aber
bald schwindet und verwelkt.
28. Achte darum
auf das Wort des königlichen Sängers: „Wer seine Seele
nicht gebraucht zum Eitlen.“[35]
Derjenige aber gebraucht die Seele (um von den
gewöhnlichen Sorgen dieses Lebens zu reden) zum Eitlen,
welcher Irdisches, Vergängliches aufrichtet und
erstrebt. Wir erheben uns täglich, (S. 398) um zu essen
und zu trinken: und doch wird Niemand derart gesättigt,
daß er nicht alsbald wieder von Hunger und Durst gequält
würde. Täglich suchen wir nach Gewinn und Verdienst, und
doch wird der Begierlichkeit niemals ein Ziel gesetzt,
wie der weise Mann sagt: „Das Auge kann sich nicht satt
sehen, das Ohr kann nicht genug hören.“[36]
Wer das Silber liebt, wird niemals von Silber gesättigt:
die Mühe und Arbeit findet kein Ende, und wirkliche
Frucht erwächst dem Überflusse nicht. Wir haben den
sehnlichen Wunsch, täglich Neues zu lernen; und was ist
denn wiederum alle Erkenntniß anders, als eine tägliche
Steigerung schmerzlichen Wissendranges? Alles, was jetzt
ist, war auch früher schon; es gibt nichts Neues unter
der Sonne: Alles ist Eitelkeit. „Darum verdroß mich mein
Leben,“ sagt der Prediger.[37]
Wer aber das Leben haßt, der rühmt den Tod tatsächlich.
Im Übrigen lobt derselbe Weise die Toten mehr als die
Lebenden: ja er preist Denjenigen selig, der gar nicht
in dieses Leben eingetreten ist, der seine Mühseligkeit
gar nicht getragen hat. „Mein Herz,“ sagt er, „ging
umher, um die Freude des Gottlosen kennen zu lernen, um
zu suchen und zu betrachten die Weisheit; endlich um die
Freude, die Last und die eitle Überhebung der Macht zu
erforschen: und siehe, ich fand alles Dieses bitterer
als den Tod.“ Der Prediger sagt damit Nicht, daß der Tod
an und für sich, sondern nur, daß er dem Gottlosen
bitter sei: und doch ist auch in diesem Falle das Leben
bitterer als der Tod. Schrecklicher ist es ja immerhin,
zum Sündigen zu leben als in der Sünde zu sterben: denn
solange der Gottlose lebt, vermehrt er auch die Zahl
seiner Sünden; stirbt er, so hört doch wenigstens das
Sündigen auf.
29. Gar Viele
freuen sich in dem Gedanken, von ihren Sünden
losgesprochen zu sein. Das ist gut und recht, wenn sie
entschlossen sind, sich zu bessern; es ist aber sehr
töricht, (S. 399) wenn sie geneigt sind, in ihren Sünden
zu verharren: dann wäre ja am Ende die Verdammung noch
vorzugeben, damit sie wenigstens aufhörten, ihre Sünden
zu vermehren. Dabei erscheint von besonderer Wichtigkeit
das Wort des Apostels, welcher versichert, daß nicht
bloß Diejenigen, welche verbrecherisch handeln, des
Todes würdig sind, sondern auch Diejenigen, welche ihren
Beifall zu solchen Taten zu erkennen geben. Nicht
minder, sagt der Apostel, sind Diejenigen
unentschuldbar, welche an Anderen, verurteilen, was sie
selbst thun.[38]
Durch ihr eigenes Urteil erscheinen sie strafbar: indem
sie Andere richten, verurteilen sie sich selbst. Sie
dürfen sich nicht damit trösten, daß sie zur Zeit noch
frei von Strafe und nicht geradezu unter Anklage
gestellt sind: sie büßen in sich nur um so schwerere
Strafen, da sie vor ihrem eigenen Gewissen schuldig
sind, auch wenn sie Anderen nicht so erscheinen. Der
Vorwurf, den das eigene Gewissen gegen sich selbst
erhebt, wird jedesmal schärfer und einschneidender, wenn
sie über Andere ihr Urteil fällen. „Hüte dich aber, o
Mensch,“ mahnt der Apostel, „den Reichtum der Güte,
Geduld und Langmut Gottes zu verachten. Oder weißt du
nicht, daß die Güte Gottes dich zur Ruhe und Besserung
deines Lebens ruft? Durch Verstocktheit und durch ein
unbußfertiges Herz häufest du dagegen Zorn für den Tag
der Offenbarung der gerechten Gerichte Gottes.“ Dann
wirst du die volle Vergeltung für deine Vergehen
erhalten.
30. Der Tod also
ist kein Übel weder für die Lebenden, noch für die
Toten: von jenen ist er noch ferne, diese haben ihn
überstanden. Denjenigen, die ihn noch nicht kennen kann
er eben deßhalb auch nicht bitter erscheinen; noch viel
weniger ist Das der Fall bei Denen, die dem Leibe nach
kein Gefühl mehr haben, für ihre Seele aber Befreiung
gefunden haben. (S. 400)
8.
Nicht der Tod an sich, sondern die falsche Meinung vom
Tode ist schrecklich.
. Wenn nun
deßungeachtet der Tod den Lebenden schrecklich
erscheint, so trifft Das eigentlich nicht den Tod an
sich, sondern die falsche vorgefaßte Meinung, die sich
Jeder vom Tode je nach seinem Gefühle bildet, oder die
ihm von der Angst seines unruhigen Gewissens
aufgezwungen wird. In letzterem Falle täte man aber
besser, die Sündenwunde des Gewissens statt die
Bitterkeit des Todes anzuklagen. In der Tat erscheint ja
der Tod den Gerechten wie ein Hafen des Friedens: nur
den Sündern stellt er sich in den Schrecken des
Schiffbruches dar. Für Diejenigen, welche unter einer
drückenden Furcht vor dem Tode leiden, ist das Drückende
eben nicht der Tod, sondern die Furcht vor dem Tode. Die
Furcht aber wurzelt in der eigentümlichen Auffassung,
die der Wahrheit widerstreitet und nur ein Ausfluß
unserer Armseligkeit ist, die ferner dem Leben, nicht
dem Tode selbst angehört. Wir hätten ja tatsächlich im
Tode Nichts zu fürchten, wenn das Leben nicht mit Taten
belastet ist, die jene Furcht begründen müssen. Die
richtige Erkenntniß lehrt uns, daß wir die Strafen für
unsere Vergehungen fürchten müssen; diese Vergehungen
sind nicht Handlungen der Toten, sondern der Lebendigen.
Das Leben gehört aber uns; seine Handlungen stehen in
unserer Gewalt. Der Tod liegt ausser uns; er scheidet
Leib und Seele; die Seele macht sich los, der Leib
zerfällt! Was sich gelöst von den Fesseln des Irdischen
aufschwingt, jubelt in hoher Freude: was in Staub
zerfällt, hat kein Gefühl und hat deßhalb gar keine
Beziehung mehr zu uns.
32. Wäre der Tod
wirklich ein Übel, wie sollte man dann in der Jugend
nicht das Greisenalter fürchten, das dem Tode so nahe
steht? Und doch sieht Derjenige geduldiger auf das
Schwinden seiner Kräfte im Alter, welcher den Tod vor
Augen hat, als Derjenige, der unerwartet vom (S. 401)
Tode getroffen wird. „Für Diejenigen aber, die
deßungeachtet den Tod für ein Übel halten, glaube ich
die passendste Antwort in dem Hinweis zu haben, daß der
Durchgang zum Tode das Leben ist, wie andererseits
wiederum die Rückkehr zum Leben durch die Pforte des
Todes führt: kann doch Niemand auferstehen, der nicht
zuvor gestorben ist! Nur törichte Menschen erschrecken
also vor dem Tode als dem größten Übel; wahrhaft Weise
aber sehen im Tode nur die erwünschte Ruhe nach schwerer
Arbeit und das Ende aller Übel.
33. Solch’
törichte Furcht hat wesentlich zwei Ursachen. Zunächst
entspringt sie dem Wahn, daß der Tod eine Vernichtung
sei. Das ist aber schon um deßwillen unmöglich, weil die
Seele den Körper überlebt, ganz abgesehen davon, daß
auch des sterblichen Fleisches die Auferstehung harrt.
Als zweiter Grund muß die Furcht vor Strafen und Qualen
im Jenseits gelten, die in der Phantasie der
Fabeldichter ihren Ursprung haben. Da liest man freilich
von dem wütenden Geheul des Cerberus, von den
schauerigen Untiefen des Cocytus und dem noch viel
traurigeren Fährmann Charon; von den Schaaren der
Furien, von den gähnenden Höhlen, in denen die
schreckliche Hydra ihren Sitz hat. Da erfährt man, daß
die Eingeweide des Tityus für stets frische Qualen sich
erneuern, während die schrecklichen Geier unaufhörlich
an ihnen sich nähren. Auch von den rastlosen Drehungen
des feurigen Rades, an welches zu furchtbarer Strafe
Ixion angeschmiedet war, kann man erfahren; endlich von
dem Felsblocke, der zu Häupten der beim Mahle
Versammelten jeden Augenblick schrecklichen Sturz droht.
Solche Annahmen sind ja Nichts als eine Anhäufung von
Fabeleien, wenn ich auch weit entfernt bin, zu leugnen,
daß es nach dem Tode Strafen und Peinen gibt. Aber was
hat Das mit dem Tode an sich zu tun, wenn es erst nach
dem Tode eintritt? Will man indessen einmal Das, was
nach dem Tode kommt, auf den Tod selbst beziehen, so muß
man auch Das, was nach dem Leben (S. 402) eintritt, auf
das Leben beziehen. Strafen und Peinen, die dem Tode
eigentümlich wären, gibt es aber gar nicht. Der Tod ist
lediglich die Lösung der Seele vom Leibe: die kann aber
kein Übel sein, weil es „ja viel besser ist, aufgelöst
und mit Christus zu sein“. Der Tod an sich ist also kein
Übel. Ganz in gleichem Sinne sagt die Schrift: „Der Tod
der Sünder ist gar böse;“ nicht der Tod allgemein, ohne
Einschränkung, sondern nur der Tod der Sünder. Auf der
andern Seite heißt es: „Der Tod der Gerechten ist
kostbar in den Augen des Herrn.“ Somit liegt die
Bitterkeit nicht im Tode, sondern lediglich in der
Schuld.
34. Mit Recht
haben deßhalb die Griechen auch den Tod als „Ende“
bezeichnet, weil derselbe das Leben zum Abschluß bringt.
So bezeichnet ferner die Schrift den Tod als „Schlaf“,
wie der Herr sagt: „Lazarus, unser Freund, schläft; aber
ich gehe hin, um ihn zu erwecken.“ Der Schlaf aber ist
ein Gut, weil er Ruhe bringt, wie der Psalmist sagt:
„Ich schlief und ruhte und stand wieder auf; denn der
Herr nahm mich auf.“[39]
Auch die Ruhe des Todes ist süß; der Herr weckt die
Ruhenden auf: er ist ja die Auferstehung.
35. Jenes andere
Wort der Schrift ferner ist beachtenswert: „Vor dem Tode
sollst du Niemanden loben.“[40]
Seinem wahren Werthe nach wird ja Jeder erst in seinen
letzten Tagen erkannt, wie er in seinen Kindern die
richtige Schätzung findet, je nachdem er sie gut erzogen
hat: wird ja die Verderbtheit der Söhne unbedenklich auf
den Leichtsinn und die Nachlässigkeit des Vaters
zurückgeführt. Man soll vor dem Tode aber auch um
deßwillen Niemanden loben, weil Jeder, so lange er lebt,
dem Falle ausgesetzt ist und auch das Alter nicht sicher
ist vor Vergehungen. Deßhalb liest man von Abraham, „er
sei in gutem Alter (S. 403) gestorben,“ weil er in
seinen guten Vorsätzen treu verharrte. Im Tode darf man
das Zeugniß für das hingeschwundene Leben suchen. Auch
der Steuermann soll nicht eher gelobt werden, als bis er
das Schiff glücklich zum Hafen geführt hat: wie wollte
man da einen Menschen loben, ehe er den Ruhepunkt im
Tode erreicht hat? Er ist sein eigener Steuermann, da er
auf den Untiefen des Lebens umhergeworfen wird; so lange
er aber auf des Lebens Meere weilt, ist er auch der
Gefahr des Schiffbruches ausgesetzt. Der Feldherr greift
nicht nach dem Siegeskranze, ehe die Schlacht zu Ende
geführt und entschieden ist; der Soldat im Kriege legt
nicht eher seine Waffen nieder, verlangt nicht eher nach
dem Lohne seiner Kriegsmühen, als bis der Feind
überwunden ist. Der Tod bringt in gleicher Weise die
volle Berechtigung auf des Lebens Sold und Lohn; mit ihm
tritt erst die verdiente Gunst ehrenvoller Entlassung
ein.
36. Wie hoch
stellte doch Job den Tod, da er sprach: „Der Segen
dessen, der sterben will, möge auf mich kommen!“[41]
Zwar segnete auch Isaak sterbend seine Söhne, wie Jakob
den zwölf Stammvätern des auserwählten Volkes seinen
Segen gab; die Gnadenwirkung dieses Segens konnte aber
lediglich den hohen Verdiensten der Segnenden oder der
väterlichen Liebe zugeschrieben werden. Bei dem
Ausspruche Job’s bandelt es sich gar nicht um das
Vorrecht der Ver- (S. 404) dienste, auch nicht um die
Wirkung der Liebe, sondern lediglich um das Vorrecht des
Todes an und für sich: es muß in dem Segen des
Sterbenden überhaupt eine besondere Kraft liegen, da Job
sich jenen wünscht. Darum sollen wir jenes Wort erwägen
und dem Herzen tief einprägen.
37. Wenn wir
Jemanden sehen, der in Noth und Armuth zu sterben droht,
so sollen wir mit unserem Vermögen ihm beispringen;
Jeder von uns möge in solchem Falle sagen: „Der Segen
des Sterbenden komme über mich.“ Sehen wir Jemanden
schwach und gebrechlich: verlassen wir ihn nicht; finden
wir Jemanden, der im Todeskampfe ringt, bleiben wir bei
ihm! Dann mag auch uns gestattet sein, zu sagen: „Der
Segen des Sterbenden komme über mich.“ Auch dich möge
loben und benedeien der Sterbende, wie Der, welcher am
Leben verzweifeln muß; der schwer Verwundete, wie Der,
welcher vom Siechtum gebrochen und dem Tode nahe ist,
möge dich rühmen. Wie viele Segnungen schließt das Wort
des Dulders Job ein! Wie oft aber hat es mich mit Scham
erfüllt, wenn ich an einem Sterbenden vorüberging, wenn
ich schwer Kranke nicht besuchte, wenn ich von den
Dürftigen mich verächtlich abwendete, wenn ich Gefangene
nicht loskaufte, wenn ich den schwachen Greis übersah!
So muß denn jenes Wort ständig in unserem Herzen sein,
die Hartherzigen aufzustacheln und Diejenigen zu mahnen,
die geneigteren Herzens sind. Es mögen die letzten Worte
des Sterbenden dir entgegentönen; es möge die Seele,
wenn sie des Leibes Wohnung verläßt, den reichsten Segen
dir zuführen. Auch Den, welcher zum Tode geführt wird,
entreisse der Gefahr; wäre er ohne deine Vermittlung zu
Grunde gegangen, so kannst du wiederum mit Job sagen:
„Der Segen des Verlorenen komme über mich.“
9.
Der Zerfall des Leibes, während die Seele fortdauert,
macht den Tod zu einem hohen Gute.
. Kann man denn
noch im Ernste bezweifeln, daß der (S. 405) Tod ein Gut
ist, wenn man bedenkt, daß in ihm Alles, was uns Unruhe,
Beschämung, Elend bringt, Alles, was voll Gefahren und
Versuchungen ist, zur Ruhe gebracht wird? daß Dieses
alles gleichsam in den Käfig des Grabes eingeschlossen
ist? Das Grab birgt nun die wilde Wut des Sturmes,
gleich einem entseelten Leichname; das Band aber,
welches die Seele an den Leib fesselte, ist zu Staub
geworden. Dagegen ist das Bessere im Menschen, was der
Tugend hold, dem Gehorsam unterworfen, dem Guten zugetan
war, was der ewigen Glorie zustrebte und Gott in steter
Treue sich unterwarf, hinaufgeeilt zum Himmel: dort
bleibt es mit dem reinen, unsterblichen, ewigen höchsten
Gute unzertrennlich vereint. Bei ihm weilt die Seele,
dessen Ebenbild sie ist, nach jenem Worte: „Wir sind
seines Geschlechtes.“ Das ist ja doch ausser allem
Zweifel, daß die Seele nicht mit dem Leibe stirbt, weil
sie nicht vom Leibe ist, wie uns die Schrift an vielen
Stellen lehrt. Adam empfing von Gott dem Herrn den Hauch
des Lebens, und so ward der Mensch zum lebendigen Wesen.
David aber sagt:[42]
„Kehre
zurück, meine Seele, in deine Ruhe; denn der Herr hat
dir wohlgetan.“ Worin die Wohlthat bestand, sagt er
selbst: „Er hat meine Füße befreit vom Falle.“ Er
beglückwünscht also den Tod als ein Heilmittel, welches
jeglicher Verirrung ein Ende bereitet: also hört die
Schuld auf, nicht das Wesen der Seele.
39. Dann fügt
der Psalmist hinzu, gleichsam seiner Freiheit
zurückgegeben: „Ich will gefallen dem Herrn im Lande der
Lebendigen.“ Dort im Jenseits ist das Land der
Lebendigen. Dort, wo die Seele zur Ruhe eingegangen ist,
finden wir das Land der Lebendigen, in welches keine
Sünde Zutritt findet, in dem die Glorie der verklärten
Tugend zu vollem Leben sich entfaltet. Hier aber ist das
Land, welches bedeckt ist mit Toten; darauf deutet denn
auch das Wort (S. 406) des Herrn: „Laß die Toten die
Toten begraben!“ Der Psalmist aber hatte schon früher
gesagt:[43]
„Seine
Seele wird weilen im Guten, und sein Same wird erben das
Land.“ Nichts Anderes will er sagen als Dieses, daß die
Seele Desjenigen, der Gott fürchtet, im Guten ist, um
immerdar daselbst zu bleiben gemäß der eigenen Natur. Ja
sogar im Leibesleben kann Das die Seele schon erlangen,
daß sie im Guten wohnt, wenn sie Gott fürchtet; sie kann
es erlangen, daß sie schon hier den Himmel besitzt, wenn
sie über ihren Leib wie über einen Sklaven herrscht;
dann wird sie auch zum Voraus der Erbschaft ewiger
Glorie und himmlischer Verheissungen sicher sein.
40. Wollen nun
auch wir nach dem Tode des Leibes im Guten sein, so
müssen wir uns hüten, daß nicht unsere Seele zum Leibe
herabsinke, mit ihm sich gewissermaßen vermische; daß
sie nicht zu fest in ihm hafte und von ihm verführt
werde: dann würde sie, gleichsam trunken von seinen
Leidenschaften, unsicher wanken; darum soll sie sich ihm
und seinen Lüsten nicht anvertrauen, seinen sinnlichen
Regungen sich nicht überlassen. Das Auge birgt Irrtum
und Trug, weil das Gesicht getäuscht wird; das Ohr ist
jeder Irrung des Gehörs offen; der Geschmack teilt
dasselbe Loos. Deßhalb war denn auch die Mahnung wohl am
Platze: „Laß deine Augen nur sehen, was recht ist,“ und
die andere: „Bewahre deine Zunge, daß sie nichts Böses
rede!“[44]
Die Mahnung wäre gar nicht ausgesprochen, wenn nicht
Auge und Zunge vielfachen Verirrungen verfiele. Hast du
eine Buhlerin gesehen, hat ihr Anblick dich gefesselt,
weil ihre Gestalt Liebreiz zeigte, — so hat dein Auge
doch geirrt: es hat Verwerfliches geschaut, während es
dir Anderes kund that. Hätten diese deine Augen das
wesenhaft Wahre bemerkt, so würden sie die schmachvollen
Neigungen der Buhlerin, ihre kecke Unverschämtheit
erkannt haben; sie hätten entehrende Lüste, (S. 407)
verzehrende Leidenschaften, grauenvolle Verwirrung,
tiefe Wunden der Seelen, schwer vernarbende Bisse des
Gewissens erblickt. Nach dem Worte unseres Herrn: „Wer
ein Weib nur ansieht, um ihrer zu begehren,“ hat
Derjenige, welcher dem Ehebruch und nicht der Wahrheit
sein Auge leiht, etwas wesenhaft Unwahres gesucht: hat
er ja zu sehen gewünscht, um seiner Begierde zu fröhnen,
nicht um die Wahrheit zu erkennen. So täuscht das Auge,
wo die Regung des Herzens bereits sich verirrt hat. Die
Herzensgefühle sind also der Täuschung ebenso wie das
Gesicht ausgesetzt. Gerade deßhalb ist gesagt: „Gib dich
nicht gefangen deinen Augen,“ d. h. laß deine Seele
nicht von den Augen in Fesseln schlagen; „eine Buhlerin
aber fängt des Mannes kostbare Seele.“[45]
Auch das Gehör ist der Bestrickung ausgesetzt. Oft genug
hat ein buhlerisches Weib mit schmeichelndem Worte das
Herz eines Jünglings umstrickt, verführt und elend
betrogen.
41. So sollen
wir uns denn niemals jenen Fesseln und Netzen
anvertrauen, die Täuschung und Betrug bergen: wie das
Herz versucht wird, so werden die Gedanken der Menschen
in ihrer Freiheit behindert durch Gesicht, Gehör,
Geruch, Gefühl, Geschmack. Darum sollen wir nicht
schlüpfrigem, verführerischem Wege folgen: wir sollen
dem wahrhaft Guten nachstreben; ihm sollen wir in treuer
Nachahmung anhängen: seine Gegenwart, die Gemeinschaft
mit ihm soll uns besser und edler machen, soll unsere
Gesittung nach Gottes Bilde gestalten; die stete
Gemeinschaft mit der Tugend soll uns gewissermaßen für
die Tugend selbst erziehen. Wer dem Guten anhängt, der
nimmt ganz von selbst auch das Gute in sich auf, wie
geschrieben steht: „Mit dem Heiligen wirst du heilig
sein und mit dem unschuldigen Manne unschuldig; mit dem
Auserwählten wirst du auserwählt sein und mit dem
Verkehrten verkehrt.“[46]
Der fortgesetzte Verkehr und (S. 408) die stete
Nachahmung bringt ja schließlich ein Bild voller
Ähnlichkeit hervor, weßhalb auch der Psalmist
hinzusetzt: „Denn du, o Herr, erleuchtest meine
Leuchte.“ Wer nahe zum Lichte hinzutritt, der wird gar
schnell erleuchtet: so erglänzt in ihm auch der Strahl
des ewigen Lichtes leuchtender aus nächster Nähe.
Deßhalb muß denn auch die Seele, welche jenem
unsichtbaren, ewig guten Gotte anhängt und Alles flieht,
was irdisch und vergänglich ist, eine solche Seele muß
Dem ähnlich werden, was sie verlangt, worin sie lebt,
wovon sie sich nährt. Sie strebt dem Unsterblichen zu,
und darum ist sie selbst nicht mehr sterblich. Die
Seele, welche sündigt, stirbt, — zwar nicht in dem
Sinne, daß sie in sich selbst aufgelöst würde und
zerfiele; wohl aber stirbt sie Gott, weil sie der Sünde
lebt. Die Seele, welche von der Sünde sich frei hält,
stirbt also auch nicht; sie bleibt, wie in ihrer
Wesenheit ungetheilt, so auch in der Gnade und Glorie.
42. Wie sollte
auch die Wesenheit der Seele zu Grunde gehen können, da
es ja die Seele ist, von welcher das Leben ausgeht! Mit
der Seele wird das Leben eingegossen; scheidet aber die
Seele, so scheidet auch das Leben: die Seele ist also
das Leben. Wie sollte sie nun dem Tode ausgesetzt sein,
da sie den Tod aufhebt? Schnee und Feuersglut vertragen
sich nicht, vielmehr schmilzt der Schnee alsbald von der
Wärme; Licht und Finsterniß sind nicht vereinbar, da die
Finsterniß von dem Licht zerstreut wird: genau so nimmt
aber auch die Seele, von welcher alles Leben ausgeht,
den Tod nicht an, und darum stirbt sie denn auch nicht.
10.
Die Schrift bestätigt, daß die Seele unsterblich ist;
töricht aber ist die Meinung der Philosophen von einer
Seelenwanderung.
. Wir haben nach
dem Gesagten einen hinreichenden Beweis für die
Unsterblichkeit; derselbe ist aber doch nur ein
natürliches, menschliches Zeugniß. Es fehlt indessen (S.
409) nicht an göttlichem Ausspruche. „Ich habe die
Macht,“ sagt unser Herr, „mein Leben hinzugeben und
dasselbe wiederum zu nehmen.“[47]
Wenn die Seele hingegeben und wieder zurückgenommen,
wenn sie in die Hände des Vaters empfohlen werden kann,
so ist doch undenkbar, daß sie mit dem Leibe zugleich
vergehe. Man könnte da vielleicht einwenden, es sei doch
etwas ganz Besonderes, wenn es sich um Christus handele,
der ja allerdings die Menschennatur angenommen habe,
aber doch in anderer Weise. Wir wollen keine Zeit
verlieren und deßhalb lediglich zum Beweise für unsere
Behauptung auf jenes Wort hinweisen: „Weißt du nicht,
daß Gott noch in dieser Nacht deine Seele von dir
fordern kann?“[48]
Der Herr sagt nicht: „Deine Seele stirbt in dir,“
sondern: „sie wird von dir gefordert,“ wie sie dir
gegeben ist. Die Seele wird also zurückgefordert, nicht
vernichtet. Wird sie zurückgefordert, so bleibt sie
auch; sie bliebe nicht, wenn sie stürbe. Wie kann aber
die Seele sterben, wenn die göttliche Weisheit mahnt.
Denjenigen nicht zu fürchten, der den Leib tödten, aber
die Seele nicht töten kann? So sagt auch der Prophet:
„Meine Seele ist immerdar in deinen Händen.“ „Immerdar“
sagt er, nicht: „für einige Zeit.“
44. So empfiehl
denn auch du deine Seele in die Hände des Herrn; — nicht
bloß in dem Augenblicke, wo sie aus dem Leibe scheidet,
sondern auch, während sie noch im Leibe weilt, ruht sie
in Gottes Hand: du freilich siehst nicht, woher sie
kommt, wohin sie geht. In dir ist deine Seele, aber sie
ist auch mit Gott vereinigt. Auch das Herz des Königs
ist nach der Schrift in der Hand des Herrn und wird von
ihm regiert und geleitet. Das Herz wird nun erfüllt vom
Geiste, der ja die eigentliche Kraft der Seele ist; eine
Kraft, die sich nicht in äusseren Proben bewährt, (S.
410) sondern in billigen, frommen, gerechten
Entschlüssen kund gibt. Wenn man somit sagen darf, das
Herz eines Menschen sei in Gottes Hand, so gilt Das noch
viel mehr von der Seele. Ist aber die Seele in Gottes
Hand, so kann sie auch niemals im Grabe mit dem Leibe
eingeschlossen, niemals mit ihm verbrannt werden: sie
erfreut sich vielmehr nach ihrem Hinscheiden seliger
Ruhe. Darum bauen denn auch die Menschen eigentlich ohne
Grund kostbare Grabmäler, als wären dieselben für die
Seelen, nicht aber für den Leib bestimmt.
45. Daß die
Wohnungen für die Seelen im Jenseits liegen, wird durch
das Zeugniß der heiligen Schrift vollauf bestätigt.
Lesen wir ja auch in den Büchern Esdras:[49]
„Wenn
dereinst der Tag des Gerichts kommt, dann wird die Erde
die Leiber der Gestorbenen zurückgeben; aus dem Staube
des Grabes werden sich die Gebeine Derer erheben, die
dort ihre Ruhe gefunden haben. Die himmlischen Wohnungen
werden alsdann die Seelen, die dort weilen, zurückgeben,
und der Allerhöchste wird sich offenbaren auf dem Throne
des Gerichtes.“ Das sind die Wohnungen, von denen der
Herr sagt, daß ihrer viele im Reiche seines Vaters
seien, und daß er, zum Vater gehend, seinen Jüngern
diese Wohnungen bereiten würde. Das Wort des Esdras
führte ich an, um festzustellen, daß Das, was in den
Büchern der Weltweisen bewundert wird, im Grunde aus
unseren heiligen Büchern genommen ist: wenn jene
Philosophen nur nicht in törichter Weise allerlei
überflüssige, unnütze Dinge eingemischt hätten. Sie
behaupten, zwischen den Seelen der Menschen und Thiere
bestehe kein Unterschied; darin aber liege ein erhabener
Trost, daß die Seelen der Philosophen sich Bienen oder
Nachtigallen zum Wohnsitze (S. 411) nahmen; vordem
hätten sie durch ihre Reden die Menschen genährt und
gefesselt, jetzt aber erquickten sie dieselben durch die
Süßigkeit des Honigs oder durch die Lieblichkeit ihres
Gesanges. Im Grunde war es schon ausreichend, daß sie
gesagt hatten, die vom Leibe befreiten Seelen stiegen
zum Hades hinab; damit bezeichneten sie den Ort, der in
der lateinischen Sprache allgemein Unterwelt heißt; sie
sagten „Hades“, weil er von Niemandem gesehen werden
kann.[50]
46. So
bezeichnet denn also auch die Schrift die Leibeshüllen
als Wohnungen. Um der Klage entgegen zu treten, die
früher hingeschiedenen Gerechten würden für die ganze
Zeit, welche bis zum Tage des Gerichtes vergeht, ihres
vollen Lohnes beraubt, sagt die Schrift, daß jener
Gerichtstag einer Heereskrönung wunderbar ähnlich sehe:
da sei von einer Zögerung der letzten ebenso wenig die
Rede, wie von einer Beeilung derer, welche zuerst
gekommen. Der Tag der Siegeskrönung wird von Allen in
gleicher Weise erwartet: an diesem Tage sollen die
Besiegten der Beschämung verfallen, während die Sieger
die Siegeskrone erhalten. Die Schrift läßt aber auch
jenen anderen, eben erwähnten Umstand nicht im Dunkel;
sie nimmt das Gleichniß von der gewöhnlichen
menschlichen Geburt. Wie Diejenigen, welche von
jugendlichen Eltern geboren werden, stärker sind,
während die im Alter der Eltern Geborenen schwächer
werden: so erscheinen auch die früher Geborenen an jenem
Tage edler, höher, die Späteren dagegen schwächer. Es
ist ja, als wenn auch die Zeit, der Mutter vergleichlich,
wegen der großen Menge ihrer Kinder schwächer werde, als
wenn die alternde Schöpfung die Stärke der Jugend mit
der schwindenden Frische ihrer Kraft verlöre.
47. Während nun
die Fülle der Zeit erwartet wird, harren auch die Seelen
ihres verdienten Lohnes. Die Einen (S. 412) erwartet
Strafe, die Andern Ruhm und Ehre: gleichwohl sind Jene
auch inzwischen nicht ohne Pein, wie Diese nicht ohne
Lohn sind. Wenn Jene sehen, daß Denjenigen, welche das
Gesetz Gottes beobachten, der Lohn ewiger Glorie
hinterlegt ist, daß ihre Leibeshüllen von Engeln bewacht
werden, während sie selbst für sich die Strafen der
Heuchelei und hartnäckiger Widersetzlichkeit, Schande
und Schmach nämlich erwarten müssen: dann müssen sie im
Aufblicke zur göttlichen Majestät sich scheuen, vor das
Angesicht ihres Gottes zu treten, dessen Gebote sie
leichtfertig verachtet haben. Übertretung und
verwirrende Scham sind hier verbunden wie bei Adam. Er
hatte in sorgloser Leichtfertigkeit das himmlische Gebot
übertreten und verbarg sich dann im Gefühle der Scham
über einen solchen Fall, weil er nicht wagte, mit seinem
schuldbeladenen Gewissen in den Glanz der göttlichen
Gegenwart zu treten: gerade so werden auch die Seelen
der Sünder den Glanz des strahlenden Lichtes nicht
ertragen, wenn sie sich erinnern, daß dieses Licht der
Zeuge ihrer Verirrungen war.
11.
Die siebenfache Freude der Gerechten nach dem Tode:
Mahnung, allezeit Gott zuzustreben und vor dem Ende des
Lebens nicht zu erschrecken.
. Die Freude der
Seelen der Gerechten kann man in gewisser Reihenfolge
sich denken. Vor Allem freuen sie sich, daß sie das
Fleisch besiegt und den Lockungen desselben widerstanden
haben. Dann aber ist ihre Freude groß, weil sie zum
Lohne für ihre Treue und für ihre Unschuld volle
Sicherheit erlangen, nicht, wie die Seelen der
Gottlosen, allerlei Verwirrungen anheimfallen, durch das
Gedächtniß ihrer Laster gequält und durch die Gluth
verzweifelnder Sorge gepeinigt weiden. An dritter Stelle
entspringt die Freude dem Bewußtsein, daß sie durch
göttliches Zeugniß ihre Treue gegen die Gebote derart
bestätigt sehen, daß sie einen ungewissen Abschluß ihrer
Lebensarbeit im höchsten Gerichte nicht zu fürchten
brauchen. Dann folgt die Freude auf die Erkenntniß, daß
sie der Ruhe und der ewigen Glorie theil- (S. 413)
haftig werden, und in diesem süßen Troste wird auch der
Leib im Grabe unter dem Schutze der heiligen Engel im
tiefsten Frieden ruhen. Die fünfte Steigerung ihrer
Freude enthält eine Fülle reichsten Jubels, weil sie aus
dem Kerker des gebrechlichen Leibes zum ewigen Lichte,
zur ewigen Freiheit gelangt sind und die ihnen
verheissene Erbschaft in Besitz nehmen. Darin ist die
Gewißheit der Ruhe wie der künftigen Auferstehung
eingeschlossen, wie der Apostel sagt: „Gleichwie in Adam
Alle sterben, so werden auch in Christo Alle lebendig
gemacht werden. Ein Jeder aber in seiner Ordnung. Der
Erstling ist Christus; darnach die, welche Christo
angehören und an seine Ankunft geglaubt haben, dann ist
das Ende.“[51]
Es wird also eine verschiedene Ordnung der Herrlichkeit
und Glorie sein nach der Verschiedenheit der Verdienste.
An sechster Stelle wird ihnen offenbar, daß ihr Antlitz
zu leuchten beginnt gleich der Sonne und das Licht der
Sterne überstrahlt, so daß sie von der Verwesung Nichts
mehr empfinden. Endlich aber werden sie mit vollem
Vertrauen, ohne Wanken, in voller Gewißheit jubelnd sich
freuen, weil sie hineilen, das Antlitz Desjenigen zu
schauen, welchem sie den Dienst steter Treue gewidmet
haben: von ihm dürfen sie in dem Bewußtsein ihrer reinen
Unschuld erhabenen Lohn für ihre geringe Arbeit und Mühe
erwarten, und damit fangen sie auch an zu erkennen, daß
alle Leiden dieser Zeit nicht würdig sind, solch
wunderbar seligen Lohn zu empfangen. Das ist die Ruhe
der Seelen der Gerechten nach den sieben Steigerungen,
wie sie das Buch Esdras beschreibt: Das ist der erste
Genuß der künftigen Glorie, bevor noch die Seele der
Wiedervereinigung mit ihrer Leibeswohnung sich erfreut.
Deßhalb sagt auch der Prophet zu dem Engel: „Es wird
also den Seelen, nachdem sie vom Leibe geschieden sind,
wie du versicherst, Zeit gewährt, um alles Dieses zu
erkennen? Der Engel aber erwidert: „Sieben Tage wird die
Freiheit dieser (S. 414) Seelen währen, damit sie Alles
sehen, was in diesen Worten ihnen vorhergesagt ist;
darnach aber werden sie in ihren Wohnungen Aufnahme
finden.“[52]
Es darf uns nicht wundern, daß diese Offenbarungen so
ausführlich von den steigenden Freuden des Gerechten
handeln, während sie von den Qualen der Sünder
schweigen: es ist ja weit besser, zu erfahren, wie die
Schuldlosen beglückt, als wie die Sünder gequält
werden.
49. Weil also
die Gerechten so wunderbaren Lohn empfangen, daß sie das
Angesicht Gottes und jenes Licht schauen, das jeden
Menschen erleuchtet: so wollen auch wir von nun an
unausgesetzt streben, daß unsere Seele Gott nahe kommt,
daß unsere Gebete bei ihm weilen, daß unser Verlangen
ihm gehört, daß wir niemals von ihm getrennt werden. So
lange wir hier auf Erden weilen, wollen wir im Lesen,
Betrachten und Wünschen mit Gott uns vereinigt halten;
wollen wir bestrebt sein, ihn zu erkennen, so gut wir
Das vermögen. Wir erkennen ihn freilich hier nur zum
Teil, weil hier Alles unvollkommen ist, wie dort die
höchste Vollkommenheit herrscht: hier sind wir wie
Kinder, dort sind wir in voller Kraft. „Hier sehen wir
durch einen Spiegel räthselhaft; dort aber sehen wir von
Angesicht zu Angesicht.“[53]
Dort wird uns gestattet sein, die Herrlichkeit Gottes in
klarer Enthüllung zu schauen, die wir in die Glieder
unseres Leibes gebannt, umschattet von den Gebrechen und
Mängeln unseres Fleisches nicht erblicken können. „Wer,
o Herr,“ ruft Moses, „könnte dein Angesicht schauen und
leben?“[54]
Er hat Recht. Wenn unsere Augen nicht einmal das Licht
der Sonne ertragen können; wenn versichert wird, daß
Jemand, der zu lange dorthin seinen Blick richtet,
erblinden muß; wenn also das Geschöpf ein Geschöpf nicht
ohne eigenen Nachtheil, nicht ohne eigenes (S. 415)
Verderben anschauen kann: wie könnte dann der Mensch in
dieser Fleischeshülle ohne Gefahr für sich das
strahlende Antlitz des ewigen Schöpfers schauen? Wer ist
denn auch rein im Angesichte Gottes, da nicht das Kind
von einem Tage rein ist von Schuld, und da Niemand sich
der Lauterkeit und Reinheit seines Herzens rühmen kann?
50. Fürchten wir
also nicht, von unseren Mitmenschen dereinst aufgenommen
zu werden; scheuen wir das Ende nicht, das Allen gesetzt
ist! Esdras findet in ihm den Lohn für seine Hingebung,
da der Herr ihm sagt: „Du wirst aufgenommen werden von
den Menschen, aber du wirst deine Zuflucht haben mit
meinem Sohne und mit deines Gleichen.“[55]
Ihm erschien es schon ruhm- und freudenreich, mit seines
Gleichen zu verkehren: wie viel glorreicher wird es für
uns sein, zu den heiligeren, besseren Geistern zu
kommen, deren Taten wir lobpreisend bewundern?!
51. Wer hat nun
früher so gesprochen: Esdras oder Plato? Paulus ist doch
nicht den Worten Plato’s, sondern denen Esdras’ gefolgt.
Esdras hat in der göttlichen Offenbarung, die ihm zu
Theil ward, erkannt, daß die Gerechten mit Christus und
den Heiligen sein werden: so sagt auch Sokrates, daß er
zu seinen Göttern und den besten Männern eile. Was wir
in den Schriften der Philosophen lesen, ist also unser
geistiges Eigentum; Plato hat daraus geschöpft, weil er
eigene Wissenschaft darüber nicht besaß: wir aber haben
das Ansehen göttlichen Ausspruches für uns. Moses und
Elias erschienen mit Christus vereint auf dem Tabor;
Abraham nahm die beiden Gäste mit seinem Gotte bei sich
auf. Jakob erblickte da Doppellager Gottes; Daniel sah
die Gerechten glänzen, wie Sonne und Sterne am Himmel
erglänzen. (S. 416)
12.
Die ewige Seligkeit, die uns allen von Gott
vorherbestimmt wurde, ist das Land der Lebendigen.
. So wollen wir
denn in festem Vertrauen unverzagt zu unserem Erlöser
Jesus Christus gehen. Ohne Zagen wollen wir, wenn unser
Tag kommt, zu unserem Vater Abraham und zur Versammlung
der Patriarchen eilen; aufnehmen möge uns die Schaar der
Heiligen und Gerechten. Zu unseren Vätern, zu den
Lehrern unseres Glaubens werden wir gehen; fehlen dann
die heiligen Werke, so möge unser Glaube eintreten zur
Verteidigung der Himmelserbschaft. Dorthin werden wir
eilen, wo Abrahams Schooß bereit ist, die Armen
aufzunehmen, wie er Lazarus aufgenommen hat: dort werden
ja Alle Ruhe finden, die im Leben Mühsal und Beschwerden
erduldet haben.
53. Breite denn,
heiliger Patriarch, deine Arme aus, diesen Elenden
aufzunehmen; weite deinen Schooß, um noch Mehrere
aufzunehmen, weil ja so Viele an den Herrn geglaubt
haben. Freilich droht die Gefahr, daß die Gottlosigkeit
überhand nimmt, daß die Liebe erkaltet, während der
Glaube wächst. Wir wollen zu Denen eilen, die im Reiche
Gottes mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tische sitzen:
sie haben, da sie geladen waren, keine törichte
Entschuldigung vorgebracht. Wir werden dorthin eilen, wo
das Paradies der Wonne ist, wo Adam, der unter die
Räuber fiel, nicht länger seine Wunden beweint; wo der
Schächer, selbst ein Räuber, der seligen Gemeinschaft
sich erfreut, wo keine Wollen, keine Donner und Blitze,
keine Stürme und Finsternisse, kein Abend, keine Nacht
den ewigen Frieden unterbrechen; wo allein die
Herrlichkeit Gottes erglänzt. Ja der Herr ist das Licht;
und dieses wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet,
wird dort Allen erglänzen. Wir werden dorthin gehen, wo
der Herr Jesus seinen Dienern die Wohnungen bereitet
hat, damit wir dort seien, wo er ist. So hat er es
gewollt. Darum hat er gesagt: „In (S. 417) meines Vaters
Hause sind viele Wohnungen;“ und wiederum: „Ich komme
und rufe euch zu mir, damit ihr seid, wo ich bin.“[56]
54. Man könnte
einwenden, daß der Herr nur seinen Jüngern jene seligen
Wohnungen zugesagt habe. Aber hatte er denn bloß den elf
Jüngern Wohnungen bereitet? Und wo wären dann jene
Wohnungen, in denen die Gerechten von allen Enden der
Welt erscheinen sollen, um im Reiche Gottes zu Tische zu
sitzen? Zweifeln wir etwa an der Kraft und Wirksamkeit
des göttlichen Willens? Aber Christus braucht ja nur zu
wollen, um wirksam zu vollbringen. Er hat ausserdem den
Weg offen gelegt, wie er den Ort bezeichnet hat: „Ihr
wisset, wohin ich gehe, und ihr kennet auch den Weg.“
Der Ort der Seligkeit ist beim Vater; der Weg ist
Christus, wie er selbst gesagt hat: „Ich bin der Weg.
die Wahrheit und das Leben. Keiner kommt zum Vater,
ausser durch mich.“ Diesen Weg wollen wir dann betreten,
an dieser Wahrheit wollen wir uns halten, diesem Leben
wollen wir zustreben. Jener Weg ist es, der uns hinführt
zu der Wahrheit, die uns stärkt; zu dem Leben, das durch
sich selbst uns gegeben wird. Um aber seine
Willensmeinung über jeden Zweifel festzustellen, fügt
der Herr hinzu: „Vater, ich will, daß Die, welche du mir
gegeben hast, da seien, wo ich bin, daß sie mit mir
seien, damit sie meine Herrlichkeit sehen.“ In der
Wiederholung, deren der Herr sich bedient, liegt festere
Bekräftigung. Wir finden dasselbe in dem doppelten Rufe:
„Abraham, Abraham!“ wie in der Ausdrucksweise des
Propheten: „Ich bin es, ja ich bin es, der alle deine
Missethat tilgt.“ Für uns ist es aber erquickend, daß
der Herr Dasselbe, was er uns versprochen hat, auch von
seinem Vater für uns erfleht. Erst hat er es
versprochen, dann hat er es erfleht: ver- (S. 418)
sprochen hat er es als der allmächtige Richter: erfleht
hat er es in dem treuesten Ausdrucke seiner völligen
Hingabe an den Vater. Er ließ aber das Gebet dem
Versprechen nicht vorangeben, um nicht den Schein zu
begünstigen, als könne er nur Dasjenige gewähren, was er
erflehte, während er doch aus eigener Macht Alles
gewähren kann, was er verspricht. Gleichwohl ist das
Gebet nicht überflüssig; es drückt die volle
Übereinstimmung mit dem Willen des himmlischen Vaters
aus.
55. Wir folgen
dir also, Herr Jesus, um von dir gerufen zu werden; denn
ohne dich kann Niemand emporsteigen. Du, o Herr, bist ja
allein der Weg, die Wahrheit und das Leben; nur durch
dich können wir den rechten Weg finden, die Wahrheit
erlangen, das Leben empfangen. So nimm uns denn an auf
dem Wege, stärke uns mit deiner Wahrheit, spende das
Leben! Zeige uns jenes Gut, welches David zu schauen
gelüstete. „Wer wird uns das Gute sehen lassen?“ fragt
er.[57]
An einer andern Stelle aber sagt er: „Ich glaube die
Güter des Herrn zu sehen im Lande der Lebendigen.“[58]
Dort sind diese Güter, wo das ewige Leben ohne Sünde und
Gefahr ist. Wiederum sagt er: „Wir werden satt werden
von den Gütern deines Hauses.“[59]
Erschließe uns jenes himmlische Gut, in dem wir leben,
in dem wir uns bewegen und sind. Wir bewegen uns auf dem
Wege, wir sind in der Wahrheit, wir leben im ewigen
Leben. Zeige uns jenes Gut, unveränderlich,
unzerstörbar, wie du selbst: in ihm sind wir selbst ewig
in der Erkenntniß jeglichen Gutes, wie Paulus bezeugt:
„Um deßwillen ist er auf kurze Zeit entwichen, damit du
ihn auf ewig wieder bekämest.“[60]
Die Ewigkeit legt Paulus dem Diener Gottes bei: die
Überzeugung, daß er alles Gute in den Heiligen erkennen
werde, soll um so fester den Glauben (S. 419) an Jesus
Christus begründen. In diesem ewigen Gute ist selige
Ruhe, unsterbliches Licht, dauernde Huld und Gnade, die
sichere und heilige Erbschaft, die dem Tode nicht mehr
unterworfen, sondern demselben für immer entrissen ist.
Keine Träne fließt dort ferner, wo kein Fall ist. Frei
sind dort deine Heiligen von Irrtum und Sorgen, frei von
Unwissenheit, Torheit und Irrung; frei von Furcht und
Schrecken, wie von Begierden und Leidenschaften: darum
ist dort das Reich der wahrhaft Lebendigen. Wieder
können wir uns auch hier auf das Zeugniß des Propheten
berufen: „Kehre zurück,“ sagt er, „meine Seele, in deine
Ruhe; denn der Herr hat dir wohlgetan; er errettete
meine Seele vom Tode, meine Augen von den Tränen, meine
Füße vom Falle. Ich will gefallen dem Herrn im Lande der
Lebendigen.“[61]
Er sagt: „Ich will gefallen,“ nicht: „Ich gefalle;“
seine Hoffnung geht auf die künftige Zeit. Die Gegenwart
steht der Zukunft gegenüber, wie die Zelt der Ewigkeit.
Weil also dort das Land der Lebendigen ist, darum ist
hier das Reich der Toten.
56. Oder ist das
Land der Toten etwa nicht da, wo der Schatten und die
Pforte, ja wo der Leib des Todes ist? Dem Petrus ward
zugesagt, daß die Pforten der Unterwelt Nichts wider ihn
vermögen sollen: hier auf Erden sind aber diese Pforten.
Deßhalb heißt es beim Psalmisten: „Du hebst mich empor
aus den Pforten des Todes.“[62]
Wie die Pforten der Gerechtigkeit es sind, in denen die
Heiligen Gott bekennen, so sind es die Pforten der
Ungerechtigkeit in denen die Gottlosen Gott verleugnen.
Hier ist also das Reich der Toten. Im Gesetze heißt es:
„Wenn Jemand einen Toten berührt, so soll er unrein
sein.“ Unrein ist in den Augen Gottes der Sünder; unrein
ist also Derjenige, welcher die Sünde berührt. „Die in
Lüsten lebt,“ sagt der sagt der Apostel, „der ist lebend
todt!“[63]
Auch die (S. 420) Ungläubigen steigen lebend zur Hölle
hinab; uns scheinen sie zu leben, aber das Totenreich
hat sie in Besitz genommen. Wenn Jemand Wucherzinsen
nimmt, so begeht er einen Raub, das Leben ist nicht in
ihm. Wenn aber ein Gerechter die Gesetze und Rechte des
Herrn beobachtet, „so wird er leben, ja leben.“[64]
Er ist also im Lande der Lebendigen, in jenem Lande, wo
das Leben nicht verborgen, sondern offen und frei, wo
nicht ein Schatten, sondern die ewige Glorie selbst ist.
Hienieden aber lebte selbst Paulus nicht in der Glorie;
er seufzte vielmehr im Leibe des Todes. Höre nur seine
Versicherung: „Euer Leben ist jetzt verborgen mit
Christo in Gott. Wenn Christus, euer Leben, erscheinen
wird, dann werdet auch ihr erscheinen mit ihm in
Herrlichkeit.“[65]
57. So lasset
uns denn hineilen zum Leben: wenn Jemand das Leben
berührt, so wird er leben. So berührte jenes Weib, das
den Saum des Kleides berührte, in Wahrheit das Leben:
darum hörte sie das gnadenreiche Wort: „Dein Glaube hat
dir geholfen; gehe hin in Frieden!“ Wenn Derjenige,
welcher einen Toten berührt, unrein wird, so ist
Derjenige, welcher den Herrn des Lebens berührt, dadurch
gerettet. So suchen wir ihn denn, aber nicht unter den
Toten, damit nicht auch uns gesagt wird, wie jenen
Frauen: „Was suchet ihr den Lebendigen bei den Toten? Er
ist nicht hier, sondern auferstanden.“ Zeigt uns doch
der Herr selbst, wo wir ihn suchen sollen, wenn er sagt:
„Gehe hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: ich steige
auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu eurem und
meinem Gott.“[66]
Suchen wir ihn, wo Johannes ihn suchte und fand: er
suchte ihn „im Anfange“ und fand den Lebendigen beim
Lebendigen, den Sohn beim ewigen Vater. Wir sollen ihn
suchen am Ende der Zeiten, wir (S. 421) sollen seine
Füße umschließen, ihn anbeten und sein Wort vernehmen:
„Fürchtet euch nicht!“ Fürchtet euch nicht vor den
Sünden dieser Welt, nicht vor den Ungerechtigkeiten der
Zeit, nicht vor den Stürmen der Leidenschaften: ich bin
die Verzeihung der Sünden. Fürchtet euch nicht vor der
Finsterniß, denn ich bin das Licht der Welt; fürchtet
euch nicht vor dem Tode, denn ich bin das Leben. Wer
immer zu mir kommt, der wird den Tod nicht sehen in
Ewigkeit. Ja, er ist die Fülle der Gottheit; ihm ist
Ruhm und Ehre und ewige Glorie jetzt und immer und in
alle Ewigkeit. Amen.
Die hier zugänglichen Texte dienen einem schnellen
Nachschlagen oder einem gemütlichen Schmökern. Sie
können und wollen jedoch in keiner Weise moderne
Textausgaben ersetzen: Wer wissenschaftlich mit diesen
Texten arbeiten will oder muss, kommt um die
Konsultation moderner Übersetzungen und Editionen nicht
herum. Besonders Studierende sollten sich vor der
Versuchung hüten, diese Texte würden sie vor einem Gang
in die Universitätsbibliothek bewahren. Textquelle
Dr. Gregor Emmenegger
Université Fribourg CH:
http://www.unifr.ch/bkv/ |