Ambrosius von Mailand (340-397)
Von den Pflichten der Kirchendiener (De Officiis)
Erstes Buch: Vom Sittlichguten
I.
Kapitel
Vom
Sittlichguten: Nach dem Vorgang Davids (1) will
Ambrosius aus priesterlichem Pflichtgefühl (2) und
lehramtlichem Eifer (3), wenn auch im Bewußtsein
mangelnder theologischer Vorbildung (4) an die
Unterweisung seiner ‚Söhne‘ gehen.
1.
Ich glaube nicht anmaßend zu erscheinen, wenn ich im
Kreise meiner Söhne[1]
dem Herzenswunsch zu lehren stattgeben möchte. Spricht
doch ein Lehrer der Demut selbst: „Kommt, Söhne, hört
mich! Die Furcht des Herrn will ich euch lehren“[2].
Man mag hierin einen Ausdruck seiner ebenso demütigen
wie zarten Gottesfurcht erblicken. Denn mit der Wendung
‚Furcht Gottes‘, die offenbar eine gemeinsame Pflicht
aller ist, gab er das Losungswort für die
Gottesfürchtigkeit aus. Doch da gerade die Furcht „der
Anfang der Weisheit“[3]
und die Seligmacherin ist — denn „selig, die Gott
fürchten“[4]
—,
bezeichnete er sich deutlich auch als Lehrer der
Weisheit und als Wegweiser zur Seligkeit.
2.
Auf die Nachahmung seiner Gottesfürchtigkeit bedacht und
zu einem Gnadenerweis nicht unberechtigt, wollen denn
auch wir die Lehren, die der Geist der Weisheit jenem
eingegossen hat, euch als unseren Söhnen mitteilen, wie
sie uns durch ihn erschlossen wurden und durch
Anschauung und Beispiel bekannt sind. Können wir uns
doch nunmehr der Pflicht des Lehrens, die uns das wider
Willen aufgenötigte Priesteramt[5]
auferlegte, nicht entschlagen. „Gott hat ja die einen zu
Aposteln, andere aber zu Propheten, andere hingegen zu
Evangelisten, andere aber zu Hirten und Lehrern
eingesetzt“[6].
3.
Nicht den Ruhm der Apostel maße ich mir an — wer dürfte
dies denn außer den Jüngern, die der Sohn Gottes selbst
hierzu erwählt hat? —, nicht der Propheten Gnadengabe,
nicht die Gewalt der Evangelisten, nicht der Hirten
Sorgfalt: nur jenen Fleiß und Eifer in Sachen der
göttlichen Schrift verlange ich mir, welche der Apostel
an letzter Stelle unter den Ämtern der Heiligen
aufführte, und auch diesen nur, um aus dem eifrigen
Lehren lernen zu können. Denn nur einen wahren Lehrer
gibt es[7]:
er allein brauchte nicht lernen, was er alle lehrte;
Menschen aber müssen erst lernen, was sie lehren, und
empfangen von ihm, was sie anderen überliefern sollen.
4.
Doch nicht einmal das trifft bei mir zu. Man hat mich ja
von Richterstuhl und Amtsbinde weg jählings ins
Priesteramt entführt[8].
So fing ich an, euch zu lehren, was ich selbst nicht
gelernt habe; so geschah es, daß ich eher zu lehren als
zu lernen anhub. Lernen und lehren zugleich muß ich
sonach, weil mir keine Zeit zum Lernen erübrigte.
II.
Kapitel
Die
Pflicht des Schweigens: Schweigen behütet vor Sünde,
verrät den Weisen (5). Die Heiligen liebten es (6), die
Schrift mahnt hierzu (7). Welche Schuld und Strafe
ziehen übereilte Worte und gottlose Reden nach sich (8)!
5.
Was sollten wir vor allem anderen lernen als schweigen,
um reden zu können, auf daß nicht mein Wort mich
verurteilt, bevor ein fremdes mich losspricht? Denn es
steht geschrieben: „Aus deinen eigenen Worten wirst du
verurteilt werden“[9].
Wozu mit Reden die Gefahr der Verurteilung gewärtigen,
wenn mit Schweigen sich sicherer leben läßt? Gar viele
sah ich mit Reden in Sünde geraten, kaum einen mit
Schweigen. Zu schweigen wissen, ist nun schwieriger als
zu reden. So mancher, wie ich weiß, redet, da er nicht
zu schweigen versteht. Nur selten kommt es vor, daß
einer schweigt, da ihm reden frommen würde. Weise ist
sonach, wer zu schweigen versteht. So sprach denn auch
die Weisheit Gottes: „Der Herr gab mir eine kundige
Zunge, wenn es nötig wäre zu sprechen“[10].
Mit Recht also ist weise, wer vom Herrn es empfängt,
wann er sprechen soll. Daher das treffliche Schriftwort:
„Der Weise schweigt bis zu seiner Zeit“[11].
6.
Die Heiligen des Herrn liebten es darum zu schweigen,
weil sie wußten, daß gar häufig die Zunge des Menschen
das Sprachrohr der Sünde, und das Wort des Menschen der
Anfang zur menschlichen Verirrung ist. So beteuert denn
ein Heiliger des Herrn: „Ich habe es gesagt: ich will
achthaben auf meine Wege, um nicht zu sündigen mit
meiner Zunge“[12].
Er wußte nämlich und hatte es gelesen[13],
daß der Mensch nur mit Gottes Hilfe „vor seiner Zunge
Geißel“ und vor seines Gewissens Zeugnis geborgen sei.
Wir bekommen nämlich Schläge vom stillen Vorwurf unseres
Denkens und vom Urteilsspruch des Gewissens; wir
bekommen auch Schläge von unserer Zunge Geißel, wenn wir
Dinge reden, deren Laut unserer Seele Hiebe und dem
Geiste Wunden versetzt. Wer aber würde sein Herz von
Sündenunrat rein haben oder mit seiner Zunge nicht
fehlen? Deshalb nun, weil er (David) sah, daß kein
Heiliger den Mund von unreiner Rede rein bewahren kann,
legte er sich selbst im Stillschweigen das Gesetz der
Unschuld auf: er wollte durch Schweigen die Schuld
meiden, der er durch Reden schwerlich entgehen konnte.
7.
So hören wir denn auf den Lehrer der Behutsamkeit! „Ich
habe es gesagt: ich will achthaben auf meine Wege“; d.
i. ich habe es mir gesagt, im stillen Denken habe ich
mir das Gebot auferlegt, achtzuhaben auf meine Wege.
Manche Wege gibt es, denen wir folgen, andere, auf
welche wir achthaben sollen: folgen sollen wir den Wegen
des Herrn, achthaben auf die unsrigen, daß sie nicht zur
Sünde führen. Man kann sich aber in acht nehmen, wenn
man nicht voreilig spricht. Das Gesetz sagt: „Höre,
Israel, den Herrn deinen Gott!“[14]
Es heißt nicht ‚rede‘, sondern ‚höre‘. Deshalb fiel Eva,
weil sie zu ihrem Manne etwas redete, was sie vom Herrn
ihrem Gott nicht gehört hatte. Das erste Wort aus Gottes
Mund mahnt dich: „höre!“ Hörst du, so hast du acht auf
deine Wege und machst es rasch wieder gut, wenn du
gefallen. „Wodurch macht denn ein Jüngling seinen Wandel
gut? Dadurch, daß er auf die Worte des Herrn acht hat“[15].
So schweig erst und höre, um nicht mit der Zunge zu
sündigen!
8.
Unselig das Verdammungsurteil, das einer mit eigenem
Munde über sich sprechen muß! Denn wenn jeder schon für
ein müßiges Wort Rechenschaft geben wird[16],
wieviel mehr für ein unlauteres und schimpfliches Wort?
Schwerer fallen ja schlüpfrige als müßige Worte auf die
Wagschale. Wenn schon für ein müßiges Wort Rechenschaft
gefordert wird, wie unvergleichlich größere Strafe wird
über gottlose Rede verhängt?
III.
Kapitel
Vom
Stillschweigen: Es darf kein ständiges, kein müßiges
sein (9). Von der Wachsamkeit über Herz und Mund den
inneren Leidenschaften gegenüber (10-13).
9.
Wie nun? Sollen wir stumm sein? Keineswegs. Denn ,,es
gibt eine Zeit zum Schweigen, und es gibt eine Zeit zum
Reden“[17].
Wenn wir ferner über ein müßiges Wort Rechenschaft geben
müssen, sehen wir zu, daß wir nicht auch über ein
müßiges Schweigen es tun müssen. Es gibt nämlich auch
ein wirksames Schweigen. So war es bei Susanna, die
durch Schweigen mehr bewirkte, als wenn sie gesprochen
hätte. Während sie nämlich vor den Menschen schwieg,
redete sie zu Gott und fand keinen beredteren Zeugen für
ihre Keuschheit als das Schweigen. Das Gewissen redete,
wo keiner Zunge Laut vernehmlich war. Und kein
menschliches Urteil verlangte sie sich, da sie des Herrn
Zeugnis für sich hatte. Von dem wollte sie ihre
Lossprechung haben, der sich, wie sie wußte, nicht
täuschen läßt[18].
Der Herr selbst wirkte im Evangelium schweigend das Heil
der Menschen[19].
Mit Recht also legte sich David nicht beständiges
Schweigen, sondern nur Behutsamkeit hierin auf[20].
10.
Wachen wir also über unser Herz, wachen wir über unseren
Mund! Denn beides steht geschrieben: an unserer Stelle,
daß wir den Mund bewahren sollen; an einer anderen die
Mahnung: „Mit aller Behutsamkeit wahre dein Herz!“[21]
Wenn David es wahrte, willst du es nicht wahren? Wenn
ein Isaias unreine Lippen hatte, da er bekannte[22]:
„O ich Unseliger, weil von Gewissensbissen gequält! Ein
Mensch bin ich ja mit unreinen Lippen“ — wenn der
Prophet unreine Lippen hatte, wie sollten wir reine
haben?
11.
Und wem anders als jedem von uns gilt das Schriftwort:
„Umhege dein Besitztum mit Dornen und kette fest dein
Silber und Gold und mache deinem Munde Tor und Riegel
und deinen Worten Joch und Wage“?[23]
Dein Besitztum ist dein Geist, dein Gold dein Herz, dein
Silber deine Rede: „Die Reden des Herrn sind reine
Reden, Silber im Feuer erprobt“[24].
Ein gutes Besitztum ist ein guter Geist; ein kostbares
Besitztum endlich ein reiner Mensch. Umhege denn dieses
Besitztum und umfriede es mit dem Walle der Gedanken,
schirme es mit den Dornen ängstlicher Sorgfalt, daß
nicht die unvernünftigen Leidenschaften des Fleisches
darüber herfallen und es als Beute fortschleppen, daß
nicht heftige Regungen darin eindringen, daß nicht des
Weges Ziehende dessen Weinernte plündern! Behüte deinen
inneren Menschen! Mißachte und verachte ihn nicht als
etwas Geringwertiges! Denn er ist ein kostbares
Besitztum. Mit Recht ein kostbares, weil seine Frucht
nicht hinfällig und vergänglich ist, sondern ein
dauerndes und ewiges Heil birgt. So bebaue denn dein
Besitztum, um Fruchtfelder zu gewinnen!
12.
Binde deine Rede, daß sie nicht zu üppig treibe, nicht
zu geil wuchere und durch Schwatzhaftigkeit zur
Sündenlese führe! Der Redestrom bleibe mehr eingedämmt
und in seine Ufer gebannt! Der austretende Strom
schwemmt rasch Schlamm an. Binde deinen Sinn! Er sei
nicht lose und ausgegossen, daß man nicht von dir sage:
„Da läßt sich kein Umschlag, kein Öl, kein Verband
anlegen“[25].
Ein vernünftiger Geist hat seine Zügel, durch die er
gelenkt und geleitet wird.
13.
Dein Mund habe, sobald es nottut, ein Tor zum
Verschließen und Versperren[26],
daß niemand deine Zunge zum Zorn reize, und du
Beschimpfung mit Beschimpfung vergeltest! Du hörtest
heute die Lesung: „Zürnet, doch sündiget nicht!“[27]
Mag uns also auch Zorn anwandeln, weil er eine
natürliche Regung ist und nicht in unserer Gewalt steht,
so sollen wir doch kein böses Wort aus unserem Munde
hervorkommen lassen, um nicht in Schuld zu geraten,
„Joch und Wage sei vielmehr deinen Worten“[28],
d. i. Demut und Mäßigung, daß deine Zunge dem Geiste
Untertan sei! Mit des Zaumes Fesseln muß sie gezähmt
werden. Ihre Zügel braucht sie, um durch sie zum
Maßhalten angehalten werden zu können. Reden, auf der
Wage der Gerechtigkeit abgewogen, bringe sie hervor! Der
Gesinnung muß Ernst, der Rede Gewicht, den Worten Maß
innewohnen.
IV.
Kapitel
Vom
Stillschweigen: Achtsamkeit im Reden frommt der Tugend,
Unbedachtsamkeit der Leidenschaft (14). Letzterer
bedient sich der unsichtbare Widersacher als Waffe und
Fallstrick (15—16).
14.
Ist einer im Reden behutsam, wird er milde, sanft,
bescheiden. Wenn er nämlich seinen Mund hält und seine
Zunge wahrt und nicht redet, bevor er nicht seine Worte
prüft und überschlägt und abwägt, ob dies zu sagen sei,
ob es diesem gegenüber zu sagen sei, ob es der rechte
Zeitpunkt zu solcher Rede sei, so übt er in der Tat
Bescheidenheit und Sanftmut und Geduld. Er wird nicht
aus Ungehaltenheit und Zorn in Worte ausbrechen, in
seinen Aussprüchen keinerlei Leidenschaft verraten und
nicht merken lassen, daß die Glut sinnlicher Lust in
seiner Rede lodert und seine Äußerungen den Stachel des
Jähzornes bergen; die Rede soll schließlich nicht, statt
eine Empfehlung für die innere Gesinnung zu sein,
irgendeine sittliche Blöße aufdecken und verraten.
15.
Gerade dann macht der Widersacher in seinen
Nachstellungen die größten Anstrengungen, wenn er
etwelche Leidenschaften von uns in der Entstehung
begriffen sieht. Da legt er den Zunder, legt er den
Fallstrick. Nicht mit Unrecht spricht daher der Prophet,
wie du heute verlesen hörtest: „Er hat mich befreit vom
Stricke der Jäger und von herber Rede“[29].
Symmachus[30]
gebrauchte den Ausdruck ‚Wort der Aufreizung‘ (λόγος
ἐπηρείας), andere[31]
‚Wort der Verwirrung‘ (λόγος ταραχώδης). Der Strick des
Widersachers ist unsere Rede, aber auch sie selbst ist
nicht weniger unser Widersacher. Wir reden so häufig
etwas: der Feind fängt es auf und verwundet uns
gleichsam mit unserem eigenen Schwert. Wie ist es
unvergleichlich erträglicher, durch fremdes Schwert als
durch das eigene umzukommen!
16.
So kundschaftet denn der Widersacher unsere Waffen aus
und prüft seine eigenen Geschosse. Sieht er mich in
Erregung, setzt er seine Stachel an und weckt die Saat
der Zankworte. Lasse ich ein unschickliches Wort
entschlüpfen, zieht er seine Schlinge zusammen. Zuweilen
stellt er mir gleichsam als Köder die Gelegenheit zu
einer Rache vor Augen, damit ich mich selbst, während
ich nach Rache dürste, in die Schlinge verwickle und den
Knoten des Todes mir schürze. Wenn darum jemand die Nähe
dieses Widersachers merkt, dann muß er um so ängstlicher
auf seinen Mund achthaben, um dem Widersacher nicht
stattzugeben. Doch nicht viele gewahren sein.
V.
Kapitel
Vom
Stillschweigen: Auch gegen den menschlichen Widersacher
bildet es eine bewährte Waffe (17—18), insbesonders eine
Schutzwaffe der Demut (19) wider Versuchung und Sünde
(20).
17.
Aber auch vor jedem sichtbaren Widersacher, der reizt,
der stachelt, der den Zunder der Lust oder Sinnlichkeit
legt, hat man sich in acht zu nehmen. Wenn uns also
einer schmäht, neckt, zu Tätlichkeit reizt, zu Zank
herausfordert, dann laßt uns Schweigen üben! Dann laßt
uns nicht schämen zu verstummen! Denn ein Sünder ist es,
der uns herausfordert, der unrecht tut und uns zu
seinesgleichen haben möchte.
18.
So spricht er denn gerne, wenn du schweigst, wenn du dir
nichts merken läßt: Was schweigst du? Sprich, wenn du
dich getraust! Doch du getraust dich nicht, du bist
stumm, ich habe dich sprachlos gemacht. Schweigst du,
zerschreit er sich noch mehr, hält sich für besiegt,
genarrt, verachtet und verspottet. Erwiderst du, fühlt
er sich als der Überlegene, weil er seinesgleichen
gefunden hat. Schweigst du, so heißt es: er hat diesen
beschimpft, dieser ihn mit Verachtung gestraft.
Erwiderst du das Geschimpfe, heißt es: beide haben sich
in Schmähungen ergangen; jeden straft das Urteil, keinen
spricht es frei. Er geht also geflissentlich darauf aus,
mich zu reizen, daß ich Ähnliches rede, Ähnliches tue
wie er. Am Gerechten aber ist es, sich nichts merken zu
lassen, nichts zu erwidern, die Frucht des guten
Gewissens zu wahren, mehr dem Urteile der Guten, als der
Unverschämtheit eines Lästermaules anheimzustellen und
damit zufrieden zu sein, die Würde im Verhalten bewahrt
zu haben. Das nämlich heißt „ob des Guten schweigen“[32];
denn wer ein gutes Gewissen hat, darf sich nicht über
falsche Anschuldigungen aufregen und nicht glauben,
fremder Schimpf wiege schwerer als das Selbstzeugnis.
19.
So kommt es, daß er auch die Demut wahrt. Will er
hingegen nicht allzu demütig erscheinen, sinnt er also
und spricht bei sich selbst: Wie, der will mich
verachten und unter meinen Augen solche Reden wider mich
führen, als könnte ich nicht den Mund gegen ihn auf tun?
Warum sollte nicht auch ich etwas sagen, womit ich ihn
ärgern kann? Wie, der will mir Beleidigungen zufügen,
als wäre ich kein Mann, als könnte ich mich nicht
rächen? Der will mich verunglimpfen, als könnte ich
nicht noch Schlimmeres wider ihn vorbringen?
20.
Wer so spricht, ist nicht sanft und demütig[33],
ist nicht frei von Versuchung. Der Versucher stachelt
ihn auf, er speit ihm solche Gedanken ein. Meist bedient
sich der böse Geist eines Menschen hierzu und zieht ihn
bei, daß er so zu ihm spreche. Doch du wandle fest auf
Felsenpfad! Mag selbst ein Sklave eine Beleidigung
sprechen, der Gerechte schweigt; mag ein Schwächling
Schimpfworte ausstoßen, der Gerechte schweigt; mag ein
Armer in Schmähungen sich ergehen, der Gerechte erwidert
nicht. Das sind die Waffen des Gerechten. Durch
Nachgeben trägt er den Sieg davon. So pflegen auch
geübte Speerwerfer durch Ausweichen zu siegen und im
Fliehen dem Verfolger die schwersten Wunden zu schlagen.
VI.
Kapitel
Vom
Stillschweigen: David ein Vorbild der Schweigsamkeit und
der Selbstverdemütigung (21). Gegenteiliges Verhalten
ist zu meiden (22).
21.
Was braucht es denn der Aufregung, wenn wir Schmähungen
hören? Warum wollten wir nicht jenen nachahmen, der
bekennt: „Ich verstummte und demütigte mich und schwieg
ob des Guten“[34]
Oder sprach David nur so, handelte er nicht auch so?
Gewiß, er handelte auch so. Denn als Semeis Sohn ihn
schmähte, schwieg David. Obschon von Bewaffneten
umgeben, erwiderte er die Beschimpfung nicht, drang
nicht auf Rache: so wenig, daß er dem Sohne Sarvias, der
zu ihm sagte, er wolle Rache an jenem nehmen, es nicht
erlaubte[35].
So ging er denn gleichsam stumm und demütig, ging
schweigend des Weges. Er regte sich über den Namen
‚Blutmensch‘ nicht auf, indem er seiner Sanftmut
eingedenk blieb; er regte sich über die Beschimpfungen
nicht auf, indem er sich seiner guten Werke vollbewußt
war.
22.
Wer sonach durch Beleidigung sich schnell aufregen läßt,
erweckt, während er das Unverdiente seiner Beschimpfung
beweisen will, den Anschein, als ob er sie verdienen
würde. Besser der, welcher sich über die Beleidigung
hinwegsetzt, als der, welcher sich darüber abhärmt. Denn
wer sich darüber hinwegsetzt, verachtet sie, als fühlte
er sie nicht; wer sich aber darob abhärmt, leidet
darunter, als fühlte er sie.
VII.
Kapitel
Die
Betrachtung des 38. Psalmes der Anlaß zur Schrift über
die Pflichtenlehre (23). Mehr als Cicero drängte
Ambrosius die Liebe zu seinen Söhnen zu deren Abfassung
(24).
23.
Nicht ohne Vorbedacht habe ich mich in meiner Schrift an
euch, meine Söhne, dieses Psalmes als Einleitung
bedient. Der Prophet David gab diesen Psalm dem heiligen
Idithum zu singen[36];
ich rate euch, von seinem tiefen Sinn und seinen
gewaltigen Gedanken entzückt: haltet ihn fest! Denn wir
merkten schon aus dem Wenigen, was wir kurz gestreift
haben, wie sowohl das Sichgedulden im Schweigen, als
auch das Reden zur rechten Zeit, sowie in den folgenden
Versen die Verachtung des Reichtums in diesem Psalme
gelehrt werden: Dinge, welche die wichtigsten Grundlagen
des Tugendlebens bilden. Bei der Betrachtung dieses
Psalmes nun kam ich auf den Gedanken, eine
Pflichtenlehre zu schreiben.
24.
Wenn auch hierüber einige Philosophen geschrieben haben,
wie bei den Griechen Panätius[37]
und sein Sohn, bei den Römern Tullius, so hielt ich es
doch nicht für unangemessen für mein Amt, auch
meinerseits darüber zu schreiben, und zwar, wie Tullius
zur Belehrung seines Sohnes[38],
so auch ich zu eurer Unterweisung, meine Söhne. Denn
nicht weniger bin ich euch, die ich im Evangelium
erzeugt habe[39],
in Liebe zugetan, als wenn ich euch aus der Ehe bekommen
hätte. Nicht heftiger drängt die Natur als die Gnade zum
Lieben. Mehr Liebe schulden wir gewiß denen, die nach
unserer Überzeugung ewig mit uns sein werden, als jenen,
die es nur in dieser Welt sind. Diese sind häufig
entartete Sprößlinge, die dem Vater Schande bereiten,
euch habe ich erst zu meinen Lieblingen erkoren. Ihre
Liebe beruht auf Verwandtschaft, die kein hinlänglich
geeigneter und beständiger Lehrer dauernder Liebe ist;
die Liebe zu euch auf getroffener Entscheidung, die zum
natürlichen Hang ein schwerwiegendes Moment der Liebe
fügte: die Prüfung der Lieblinge und die Liebe zu den
Erkorenen.
VIII. Kapitel
Der
Name Pflichtenlehre nicht bloß den Philosophen, sondern
auch den Hagiographen geläufig (25). Erklärung desselben
(26).
25.
Rechtfertigen nun die Personenumstände die Abfassung der
Pflichtenlehre, so laßt uns sehen, ob dieselbe auch
sachlich sich rechtfertigen läßt, und ob diese
Bezeichnung nur ein philosophischer Schulausdruck ist
oder auch in den göttlichen Schriften sich findet. Gut
fügte es sich nun, daß uns bei der heutigen
Evangeliumverlesung der Heilige Geist, als wollte er zum
Schreiben mahnen, eine Stelle zu lesen gab, die uns nur
bestärken mußte, daß auch wir von officium (Pflicht)
sprechen können. Denn als der Priester Zacharias im
Tempel stumm ward und nicht sprechen konnte, „da geschah
es“, so heißt es, „sobald die Tage seines
Pflichtdienstes (officium) abgelaufen waren, ging er
hinweg in sein Haus“[40].
Auch wir können also nach dem verlesenen Texte von
officium (Pflicht) sprechen.
26.
Auch die wissenschaftliche Erwägung widerspricht dem
nicht. Das Wort officium (Pflicht) kommt nämlich unseres
Erachtens von efficere (verrichten), besagt also
gleichsam ein efficium (Pflichtverrichtung) — des
besseren Wortklanges wegen sagte man aber mit
Veränderung eines Buchstabens officium — oder besagt
doch ein Handeln, das niemand schadet (officiat), allen
frommt[41].
IX.
Kapitel
Der
Philosophie gilt das Sittlichgute und das Nützliche als
Einteilungsgrund der drei, bezw. fünf Arten von
Pflichten (27), für uns nur das Sittlichgute, gemessen
am Maßstabe des Ewigen (28); daher die Darstellung der
christlichen Pflichtenlehre nicht überflüssig (29).
27.
Die Pflichten, meinte man[42],
leiten sich her vom Sittlichguten und Nützlichen und von
der Wahl des Besseren zwischen diesen beiden; es könne
ferner der Fall eintreten, daß es sich um ein zweifaches
Gute und ein zweifaches Nützliche zugleich handle und
die Frage entstehe, was das Bessere und was das
Nützlichere davon sei. So ergibt sich denn zunächst eine
dreifache Einteilung des Pflichtmäßigen: in das
Sittlichgute, das Nützliche und das, was das Bessere
ist. Sodann teilte man diese drei Arten in fünf weitere
ein: in ein zweifaches Sittlichgute, in ein zweifaches
Nützliche und in die Wahl und Entscheidung darüber. Die
ersteren betreffen, wie man sagt, das Schickliche und
das Ehrbare im Leben, die beiden folgenden die
Glücksgüter des Lebens: Besitz, Reichtum und Vermögen;
die Wahl hierüber stehe dem Urteil zu. So jene Autoren.
28.
Wir aber bemessen ausschließlich nur das Schickliche und
Ehrbare[43],
mehr mit dem Maßstab des Zukünftigen als des
Gegenwärtigen, und bezeichnen nur das für nützlich, was
der Seligkeit des ewigen Lebens, nicht was der Lust des
gegenwärtigen frommt. Wir erblicken auch keinerlei
Vorteile in Reichtum und Vermögensschätzen, sondern
halten diese für Nachteile, wenn man nicht darauf
verzichtet. Schwerer drückt ihre Last, wenn sie
vorhanden sind, als ihr Verlust, wenn sie abhanden
kommen.
29.
Unsere schriftliche Arbeit ist daher nicht überflüssig,
weil wir an den Pflichtbegriff einen anderen Maßstab
anlegen, als jene Autoren es getan haben. Sie halten die
irdischen Glücksgüter für etwas Gutes, wir halten sie
geradezu für einen Nachteil, weil einer, der gleich
jenem Reichen hier Gutes empfängt, dort gepeinigt wird,
ein Lazarus dagegen, der hier Schlimmes erduldete, dort
seinen Trost findet[44].
Wer jene Werke nicht liest, mag nach Gutdünken unsere
Zeilen lesen, wenn es ihm sonst nicht um Wortgepränge
und Redekunst, sondern um die schlichte Schönheit der
Sache zu tun ist.
X.
Kapitel
Schweigen ein Gebot der Hl. Schrift (30). Dieser, nicht
der Philosophie, kommt die Priorität hierin zu (31).
Schweigen eine Kunst, die geübt werden muß (32—33). Vom
rechten Maßhalten im Schweigen, Reden und Handeln
(34—35).
30.
An erster Stelle waren es unsere Schriften, worin das
Geziemende, griechisch πρέπον genannt, näher festgesetzt
wurde. Wir werden darüber aufgeklärt und belehrt, wenn
wir lesen: „Dir geziemt Lobgesang, o Gott, auf Sion“,
oder im Griechischen: Σοὶ πρέπει ὕμνος ὁ θεὸς ἐν Σιών[45].
Auch der Apostel mahnt: „Rede, was sich für eine gesunde
Lehre geziemt!“[46]
Und an einer anderen Stelle: „Es ziemte sich aber dem,
durch welchen alle Dinge und um dessentwillen alle Dinge
sind, und welcher viele Kinder zur Herrlichkeit
herbeiführte, den Führer ihres Heils durch Leiden zu
vollenden“[47].
31.
Hat etwa Panätius, hat Aristoteles, der ebenfalls von
der Pflicht handelte, früher gelebt als David? Ist doch
selbst Pythagoras, der an Alter, wie wir lesen, über
Sokrates hinaufreicht, dem Propheten David gefolgt, da
er den Seinigen das Gesetz des Schweigens gab. Doch er
wollte seinen Schülern fünf Jahre lang das Sprechen
überhaupt verbieten, während David diese Naturgabe nicht
beeinträchtigen wollte, sondern nur Bedachtsamkeit im
Reden lehrte. Näherhin wollte Pythagoras mittels des
Nichtsprechens das Sprechen lehren; nach David sollten
wir mehr durch Sprechen das Sprechen lernen. Wie wäre
denn eine Unterweisung ohne Schulung oder ein
Fortschritt ohne Übung denkbar?
32.
Wer im Kriegsfach sich ausbilden will, der übt sich
täglich in den Waffen, tritt in voller Rüstung gleichsam
in das Vorspiel des Kampfes ein, sucht Deckung, als
stünde der Feind schon vor ihm, und erprobt seine Arme
im gewandten und kräftigen Speerwerfen oder weicht dem
Geschosse des Gegners aus und entgeht ihm wachsamen
Auges. Wer ein Schiff auf dem Meere durch Steuer zu
lenken oder durch Ruder zu leiten begehrt, übt sich
zuvor auf einem Flusse. Wer einen lieblichen Sang und
eine schöne Stimme erstrebt, bildet erst nach und nach
die Stimme im Singen aus. Und wer durch Körperkraft und
regelrechten Wettkampf nach der Siegeskrone auslangt,
übt sich täglich in der Ringkunst, stählt seine Glieder,
nährt seine Ausdauer, um sich erst mühsam daran zu
gewöhnen.
33.
Das lehrt uns die Natur schon am kleinen Kinde. Es
bemüht sich zunächst um die Sprachlaute, um das Sprechen
zu lernen; der Laut ist gleichsam die Schule und der
Ringplatz für die Stimme. So sollen denn auch die,
welche Behutsamkeit im Reden lernen wollen, die Gabe der
Natur nicht verleugnen, das Gebot der Wachsamkeit
hingegen üben gleich wachestehenden Posten, die wachend,
nicht schlafend auslugen. Jedes Ding findet nämlich
durch Schulung, die seiner Eigenart und natürlichen
Beschaffenheit entspricht, Förderung.
34.
David schwieg nicht immer, sondern wenn es der
Augenblick erforderte; er verweigerte nicht ständig und
nicht jedermann die Antwort, sondern nur dem Gegner, der
ihn reizte, dem Sünder, der ihn herausforderte[48].
Und er hörte, wie er an einer anderen Stelle versichert,
nur auf solche nicht, welche Eitles redeten und Trug
sannen; und öffnete ihnen wie taub und stumm seine
Stimme nicht[49].
Auch anderswo liest man: „Antworte dem Törichten nicht
auf seine Torheit, damit du ihm nicht ähnlich werdest!“[50]
35.
Die erste Pflicht ist sonach das Maßhalten im Reden. Das
heißt Gott ein Lobopfer darbringen; das heißt Ehrfurcht
wahren bei der Schriftlesung; das heißt den Eltern
Ehrerbietung erweisen. Ich weiß, daß man gar häufig nur
redet, weil man nicht zu schweigen versteht. Selten
schweigt einer, wenn schon das Reden ihm nicht frommt.
Der Weise überlegt erst viel, wenn er reden soll: was er
sprechen soll, zu wem er sprechen soll, an welchem Ort,
zu welcher Zeit. So gibt es denn ein Maßhalten sowohl im
Schweigen wie im Reden, aber auch ein Maßhalten im
Handeln. Schön ist es, hierin das Pflichtmaß
einzuhalten.
XI.
Kapitel
Die
Einteilung der Pflichten in vollkommene und mittlere
kennt auch die Hl. Schrift (36—37). Zu den ersteren
zählt die Barmherzigkeit (38—39).
36.
Jede Pflicht ist entweder eine mittlere oder eine
vollkommene[51].
Auch das können wir gleicherweise an der Hand der
Schrift nachweisen. Wir lesen nämlich im Evangelium den
Ausspruch des Herrn: „Willst du zum ewigen Leben
gelangen, so halte die Gebote. Da sprach jener: welche?
Jesus aber sprach zu ihm: Du sollst nicht töten; du
sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du
sollst nicht falsches Zeugnis geben; ehre Vater und
Mutter; und liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“[52].
Das sind mittlere Pflichten, denen etwas fehlt.
37.
So spricht denn auch der Jüngling zu ihm: „Das alles
habe ich von Jugend auf beobachtet: was fehlt mir noch?
Da entgegnete ihm Jesus: Willst du vollkommen sein, so
geh, verkaufe alle deine Güter und gib sie den Armen,
und du wirst einen Schatz im Himmel haben, und komm und
folge mir nach!“[53]
Im Vorausgehenden findet sich die Schriftstelle mit der
Mahnung, die Feinde zu lieben, für unsere Verleumder und
Verfolger zu beten und die, welche uns fluchen, zu
segnen[54].
So müssen wir es halten, wenn wir vollkommen sein wollen
wie unser Vater, der im Himmel ist, der über Gute und
Böse die Sonne ihre Strahlen ausgießen läßt und
unterschiedslos die Lande aller mit Regen und Tau
befruchtet[55].
Das nun ist die vollkommene Pflicht, von den Griechen
κατόρθωμα genannt. Durch sie gelangt alles, was
irgendwie zu Fall kommen konnte, zur Besserung.
38.
Gut ist auch die Barmherzigkeit; denn auch sie macht den
Menschen vollkommen, weil sie den vollkommenen Vater
nachahmt. Nichts empfiehlt eine christliche Seele so,
wie die Barmherzigkeit, vor allem gegen die Armen. Als
Gemeingut soll man die Erzeugnisse der Natur betrachten,
welche die Früchte der Erde für alle hervorbringt. Dem
Armen sollst du daher von deiner Habe mitteilen und den
unterstützen, der Los und Gestalt mit dir teilt. Du
reichst eine Münze: er empfängt seinen Lebensunterhalt;
du gibst ein Geldstück: er sieht darin seine ganze Habe.
Dein Denar ist sein Vermögen.
39.
Mehr bietet dir verhältnismäßig der Arme: er ist
Schuldner des Heils. Kleidest du einen Nackten,
schmückst du dich selbst mit dem Kleide der
Gerechtigkeit[56].
Nimmst du einen Fremden unter dein Dach auf, nimmst du
dich eines Notleidenden an, verschafft er dir die
Freundschaft der Heiligen und die ewigen Wohnungen[57].
Nicht wenig bedeutet solcher Gnadenerweis. Leibliche
Saat streust du aus, geistige Frucht erntest du. Du
wunderst dich über das Gericht des Herrn, das über den
heiligen Job hereinbrach?[58]
Bewundere dessen Tugend! Konnte er doch sprechen: „Auge
war ich der Blinden, der Lahmen Fuß. Ich war der Vater
der Schwachen“[59].
„Mit dem Fell meiner Lämmer wurden ihre Schultern
erwärmt“[60].
„Kein Fremder wohnte draußen; meine Türe stand vielmehr
jedem Ankömmling offen“[61].
Selig fürwahr, von dessen Haus kein Armer je mit leerer
Tasche fortging! Denn niemand ist seliger, als wer der
Not des Armen und der Trübsal des Schwachen und
Dürftigen gedenkt. Am Tage des Gerichtes wird er Heil
finden vom Herrn[62],
indem er ihn zum Schuldner seines Erbarmens haben wird.
XII.
Kapitel
Von
der göttlichen Vorsehung: Nur ein Schwächling wird
angesichts des Scheinglückes der Gottlosen oder des
Unglückes der Gerechten an derselben irre; anders Job
(40—42). In Wahrheit ist jeder Gottlose ein
Unglücklicher, jeder Gerechte ein Glücklicher (43—46).
40.
Doch so manche lassen sich in der Pflicht der
mitteilsamen Barmherzigkeit irre machen. Wenn sie
nämlich sehen, wie Sünder im Reichtum schwimmen, der
Ehren, der Gesundheit, der Kinder sich erfreuen,
Gerechte hingegen in Not, in Verachtung, kinderlos,
siech am Leibe, oft von Trauer heimgesucht ihr Leben
fristen, dann glauben sie, der Herr kümmere sich nicht
um das Tun des Menschen; oder er wisse nicht, was wir im
Verborgenen treiben, woran unser Gewissen sich hält;
oder aber sein Gericht erscheine keineswegs als gerecht.
41.
Nicht unwichtig ist diese Frage. Erklärten doch jene
drei königlichen Freunde Jobs ihn deshalb für einen
Sünder, weil er, wie sie sahen, aus einem Reichen ein
Armer, aus einem mit Kindern reichgesegneten Vater ein
kinderloser geworden war, mit Geschwüren überdeckt, von
Schwielen strotzend, vom Haupt bis zu den Füßen von
Beulen zerwühlt[63].
Der heilige Job gab ihnen nun Folgendes zu bedenken:
Wenn ich meiner Sünden wegen dies leide, „warum leben
dann die Gottlosen? Alt aber sind sie geworden, und ihre
Nachkommen schwelgen im Reichtum nach Wunsch, ihre
Kinder gedeihen vor ihren Augen, ihre Häuser mehren sich
in Überfluß: nirgends aber eine Frucht; keine Geißel
Gottes ruht auf ihnen“[64].
42.
Ein Schwächling, der dies sieht, wird in seinem Herzen
irre und seinem Eifer abwendig. Was er vorbringen kann,
dem hat der hl. Job zum voraus mit den Worten Ausdruck
verliehen: „Ertraget mich! Ich aber will reden: dann
verlacht mich nicht! Denn werde ich auch der Sünde
geziehen, werde ich als Mensch derselben geziehen. So
traget denn die Last meiner Worte!“[65]
Ich werde, will er sagen, sprechen, was ich nicht
billige; aber zu euerer Widerlegung will ich die
sündhaften Worte aussprechen. Oder doch, weil der Vers
so lautet: „Wie aber? Werde ich wohl von einem Menschen
der Sünde geziehen?“[66]
folgendermaßen: Kein Mensch kann mich der Sünde zeihen,
ob ich auch Tadel verdiene; denn nicht auf offenkundige
Schuld gründet sich euer Tadel, sondern aus den
Schicksalsschlägen, die ich erlitten, schließt ihr auf
das Mißverdienst von Vergehungen. Angesichts der
Tatsache nun, daß Ungerechte im Überfluß des Glückes
schwelgen, er selbst aber von Unglück heimgesucht wird,
spricht der Schwächling zum Herrn: „Geh weg von mir! Ich
will nichts wissen von Deinen Wegen. Was nützt es, daß
wir ihm gedient, was frommt es, daß wir ihm uns geweiht
haben? In ihren Händen häufen sich alle Güter; die Werke
der Gottlosen aber sieht er nicht“[67].
43.
Man lobt an Plato, daß er in seiner Staatslehre[68]
einen, der die Rolle des Anwalts wider eine gerechte
Sache übernommen hatte, ob der Worte, die er selbst
nicht billigen konnte, um Entschuldigung bitten und
versichern läßt, daß ihm jene Rolle nur übertragen
worden sei, um der Wahrheit auf den Grund zu kommen und
Frage und Antwort auf ihren Gehalt prüfen zu können. Und
dieses Verfahren billigte Tullius so sehr, daß auch er
in seinen Büchern über den Staat[69]
für diese Ansicht eintreten zu sollen glaubte.
44.
Wie bedeutend älter als jene Denker ist Job, der zuerst
auf diesen Gedanken kam und nicht nur zur rednerischen
Ausschmückung, sondern zur Erhärtung der Wahrheit das
vorausschicken zu sollen glaubte. Sofort ließ er die
Lösung der Frage folgen mit der Beteuerung, daß „die
Leuchte der Gottlosen ausgelöscht werde und ihr
Untergang bevorstehe“[70].
Gott, der Lehrer der Weisheit und der Zucht, lasse sich
nicht täuschen, sondern sei Richter über die Wahrheit[71].
Darum dürfe die Glückseligkeit der einzelnen nicht nach
dem äußeren Überfluß bemessen werden, sondern nach dem
inneren Gewissen, das zwischen Verdienst und
Mißverdienst der Schuldlosen und Lasterhaften
unterscheide: ein wahrhafter und unbestechlicher
Schiedsrichter über Strafe und Lohn! Der Schuldlose
stirbt als Mächtiger im Reich der Unschuld, als
überreicher Herr des eigenen Willens, im Besitze einer
Seele, die gleichsam „voll Fett“ ist[72].
Dagegen aber bringt der Sünder, ob er auch äußerlich im
Überfluß schwimmt, in Vergnügungen schwelgt und von
Salben duftet, das Leben „in der Bitterkeit seiner
Seele“[73]
zu und beschließt den letzten Tag, ohne etwas Gutes von
seinen Genüssen mitnehmen, ohne etwas anderes mit sich
fortnehmen zu können als den Preis seiner Verbrechen.
45.
Bedenke das und leugne, wenn du kannst, daß es eine
Vergeltung im göttlichen Gerichte gibt! Jenen macht das
eigene Herz glücklich, diesen unglücklich. Jenen spricht
das eigene Urteil frei, diesen schuldig. Jenen überkommt
Freude beim Hinscheiden, diesen Trauer. Wer könnte auch
einen Menschen freisprechen, der nicht einmal vor sich
selbst schuldlos dasteht? „Sagt mir“, heißt es, „wo ist
der Schutz seiner Hütten?“[74]
Keine Spur von ihm wird man finden[75].
Denn das Leben des Lasterhaften ist wie ein Traum; er
schlägt die Augen auf: dahin ist seine Ruhe,
entschwunden das Ergötzen[76].
Selbst die äußere Ruhe der Gottlosen, die zu ihren
Lebzeiten in die Erscheinung tritt, gehört der Hölle an;
denn lebendig fahren sie zur Hölle[77].
46.
Du siehst das Gastmahl eines Sünders: frage sein
Gewissen! Riecht es nicht übler denn alle Gräber? Du
schaust sein vergnügtes Leben, staunst über seine
leibliche Gesundheit, über die überreiche Zahl an
Kindern und Schätzen: schau hin auf die Beulen und
Striemen seiner Seele und die Trübsal seines Herzens!
Was soll ich denn ein Wort verlieren über seine Schätze?
Liest du doch: „Nicht vom Überfluß hängt sein Leben ab“[78];
weißt du doch, daß er, ob er dir auch reich erscheint,
selbst arm sich dünkt und mit seinem Urteil das deinige
Lügen straft. Was soll ich desgleichen über seine vielen
Kinder und sein Freisein von Leid ein Wort verlieren?
Muß er doch sich selbst bedauern und sich sagen, daß er
ohne Erben bleiben werde, nachdem er seinesgleichen
nicht zu Erben haben will. Der Sünder hinterläßt
überhaupt kein Erbe. So ist also der Gottlose sich
selbst zur Strafe, der Gerechte hingegen sich selbst zur
Freude, und jeder von ihnen erntet den Lohn der
Selbstvergeltung, sei es für die guten, sei es für die
bösen Werke.
XIII. Kapitel
Von
der göttlichen Vorsehung: Der vorausgehende Exkurs nicht
zwecklos (47). Widerlegung der aristotelischen und
epikureischen Auffassung (48—50).
47.
Doch kehren wir zum Thema zurück, damit es nicht
scheine, wir hätten die Einteilung, die wir machten,
vergessen, weil wir der Meinung derer entgegentraten,
die deshalb, weil sie die lasterhaftesten Menschen in
Reichtum, Vergnügen, Ehren und Macht sehen, während so
viele Gerechte darben und kranken, wähnen, Gott kümmere
sich entweder keinen Deut um uns, wie die Epikureer
behaupten, oder aber er wisse um das Treiben des
Menschen nicht, wie die Lasterhaften meinen, oder er
sei, wenn allwissend, ein ungerechter Richter, der die
Guten darben, die Ungerechten in Überfluß leben lasse.
Nicht überflüssig war der ‚Exkurs‘, wenn ich so sagen
darf. Es sollte einer derartigen Auffassung gerade das
seelische Empfinden derer Antwort stehen, die sie
glücklich preisen, während sie sich selbst für
unglücklich halten; denn mich dünkte, sie würden ihnen
selbst eher Glauben schenken als uns.
48.
Nach dieser Darlegung erachte ich es für leicht, die
übrigen Einwände zu widerlegen: zunächst die Behauptung
derer, die glauben, Gott kümmere sich keineswegs um die
Welt. So behauptet Aristoteles, seine Vorsehung reiche
nur bis zum Monde[79].
Aber welcher Meister vergäße der Sorge um sein Werk? Wer
ließe das, was er selbst ins Dasein setzen zu sollen
glaubte, im Stiche und gäbe es preis? Wenn Regieren ein
Unrecht ist, liegt nicht im Erschaffen ein noch größeres
Unrecht? Würde doch, so wenig das Nichterschaffen
ungerecht ist, im Nichtsorgen die größte Grausamkeit
liegen.
49.
Gott, seinen Schöpfer, verleugnen, oder aber sich selbst
zu den Tieren und Bestien rechnen: was sollen wir zu
solchen Leuten sagen, die sich selbst so unrecht tun und
verurteilen? Sie behaupten selbst, Gott durchdringe
alles und auf seiner Kraft beruhe alles, seine Macht und
Größe durchdringe alle Elemente, Erde, Himmel und Meere:
und wenn er den Geist des Menschen, das Erhabenste, was
er uns verliehen hat, durchdringt und mit dem Wissen
seiner göttlichen Majestät darin eindringt, so rechnen
sie ihm das als ein Unrecht an.
50.
Indes spotten die Philosophen selbst, soweit sie als
nüchtern gelten, über den Lehrer solcher Leute (Epikur)
als einen Trunkenbold und Anwalt der Lust. Was soll ich
aber von der Meinung des Aristoteles sagen, der glaubt,
Gott bescheide sich in die ihm gezogenen Grenzen und
friste sein Dasein innerhalb eines abgesteckten Reiches
gemäß jener Fabeldichtungen, wonach drei Herrscher in
der Weise in die Welt sich teilten, daß dem einen der
Himmel, dem anderen das Meer, dem dritten die Unterwelt
durch das Los zur Beherrschung zufiel; und wonach sie
sich hüteten, um fremde Gebietsteile sich zu kümmern und
so Krieg unter sich heraufzubeschwören? Ähnlich, so
behauptet er, kümmert sich auch Gott nicht um die Erde,
wie er sich auch um das Meer oder die Unterwelt nicht
kümmert. Wie wollen sie denn die Dichter ablehnen[80],
denen sie folgen?
XIV.
Kapitel
Von
der göttlichen Vorsehung: Gottes Allwissenheit leugnen
die Weltweisen vergeblich (51). Schon das Alte Testament
nimmt Stellung gegen letztere (52). Schriftbeweis (53).
Hinter der Leugnung birgt sich sündhaftes Tun (54). Auch
die Sonne bietet einen Kongruenzbeweis (55—56).
51.
Nun der weitere Einwand, ob nicht Gott, wenn nicht die
Sorge, so doch das Wissen um seine Schöpfung abgehe? Er
also, „der das Ohr gepflanzt, soll nicht hören, und der
das Auge gebildet, nicht sehen“[81],
nicht schauen!
52.
Dieses Hirngespinst entging den heiligen Propheten
nicht. So führt denn schon David solche Leute redend
ein, wobei er sie der Aufgeblasenheit vor Hochmut
bezichtet. Was wäre denn auch, nachdem sie selbst doch
unter der Sünde schmachten, so dünkelhaft als ihr
Unwille darüber, daß andere Sünder am Leben sind, indem
sie in die Klage ausbrechen: „Wie lange, Herr, werden
die Sünder sich noch brüsten?“[82]
Und im Folgenden: „Und sie sprachen: Nicht wird der Herr
es sehen und nicht merken der Gott Jakobs“[83].
Darauf nun antwortet ihnen der Prophet: „Kommt jetzt zur
Einsicht, ihr Unverständigen im Volke, und endlich zur
Vernunft, ihr Toren! Der das Ohr gepflanzt, hört nicht,
und der das Auge gebildet, sieht nicht? Der die Völker
züchtigt, soll nicht strafen: er, der den Menschen das
Wissen lehrt? Der Herr kennt die Gedanken der Menschen,
daß sie eitel sind“[84].
Er, der alles Eitle gewahrt, soll über das Heilige in
Unwissenheit sein und, was er selbst geschaffen hat,
nicht kennen? Kann ein Künstler in Unwissenheit über
sein Werk sein? Nur ein Mensch ist er und versteht die
heimlichen Dinge an seinem Werke: und Gott soll sein
Werk nicht kennen? Ist das Werk abgrundtiefer als der
Meister? Und hat er etwas geschaffen, was an Erhabenheit
ihn übertrifft? dessen Verdienst der Schöpfer nicht
kennt? dessen Gesinnung der Richter nicht weiß? Soviel
wider jene.
53.
Im übrigen genügt uns das Zeugnis eben dessen, der
beteuerte: ,,Ich bin es, der Herzen und Nieren
durchforscht“[85].
Und im Evangelium spricht der Herr Jesus: „Was denkt ihr
Böses in eurem Herzen?“[86]
Er wußte nämlich, daß sie Böses dachten. Das beteuert
denn auch der Evangelist mit den Worten: „Es wußte
nämlich Jesus ihre Gedanken“[87].
54.
Die Ansicht dieser Leute kann nicht viel Eindruck
machen, wenn wir ihr Tun ins Auge fassen. Sie wollen
über sich keinen Richter haben, dem nichts entgeht. Sie
wollen ihm keine Kenntnis des Verborgenen einräumen,
weil sie sich vor der Aufdeckung ihres verborgenen
Treibens fürchten. Und doch, der Herr kennt ihre Werke
und überantwortet sie der Finsternis: „In der Nacht“,
heißt es, „wird der Dieb sich einfinden, und das Auge
des Ehebrechers wird die Finsternis abwarten und
sprechen: mich wird kein Auge sehen. Er sorgte vor, daß
seine Person verborgen bleibe“Job 24, 14 f.). Denn
jeder, der das Licht flieht, liebt die Finsternis; er
bestrebt sich, verborgen zu bleiben. Und doch kann er
Gott nicht verborgen bleiben, der in der Tiefe des
Abgrundes und im Geiste des Menschen nicht bloß das
Gewordene, sondern auch das Werdende erkennt. So trifft
es denn auch bei jenem (Ehebrecher) zu, der im
Ekklesiastikus spricht: „Wer sieht mich? Sowohl die
Finsternis wie die Wände decken mich: wen brauche ich
fürchten?“[88]
Wiewohl er in seinem Bette liegend solches denkt, wird
er, wo er es nicht vermutete, beobachtet. „Und er wird
zuschanden werden“, heißt es, „weil er nicht wußte, was
Furcht Gottes ist“[89].
55.
Was aber wäre so einfältig als glauben, Gott könne etwas
entgehen, da selbst die Sonne, die Spenderin des
Lichtes, ihren Strahl ins Verborgene senkt und die Kraft
ihrer Wärme auf den Grund, oder in die geheimen Gemächer
eines Hauses dringt? Wer möchte leugnen, daß die milde
Frühlingsluft das Innere der Erde erwärmt, die des
Winters Eis in Fessel geschlagen hat? Man kennt die
verborgene Gewalt, welche Wärme und Kälte in den Bäumen
äußern, so groß, daß deren Wurzeln entweder vor Kälte
ersterben oder unter dem belebenden Hauch der Sonne zu
treiben anfangen. Wo milder Himmel lacht, da ergießt
sich denn auch die Erde in mannigfaltigen Fruchtsegen.
56.
Wenn nun der Sonnenstrahl sein Licht über die ganze Erde
ausgießt und in verschlossene Räume dringt und selbst
durch eiserne Riegel oder schwere Türbalken sich nicht
am Eindringen hindern läßt, wie sollte Gottes
unsichtbarer Lichtglanz nicht den Weg in des Menschen
Sinn und Herz sich bahnen können, die er erschaffen hat?
Wie sollte er vielmehr sein eigenes Werk nicht schauen
und bewirkt haben, daß die Geschöpfe besser sind und
mehr vermögen als er selbst, ihr Schöpfer, so daß sie
sich nach Belieben der Kenntnis ihres Schöpfers
entziehen können? Eine so fabelhafte Kraft und Macht
soll er unserem Geiste eingesenkt haben, daß er, selbst
wenn er wollte, sie nicht mehr zu beherrschen vermag?
XV.
Kapitel
Von
der göttlichen Vorsehung: Die Leugner einer
ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits straft die
Parabel vom armen Lazarus (57) und die Lehre des hl.
Paulus Lügen. Gott straft und lohnt einstens nach
Verdienst (58).
57.
Zwei Punkte haben wir erledigt, und nicht ungelegen kam
uns, wie wir glauben, diese Erörterung. Noch erübrigt
eine dritte Frage dieser Art: Warum haben Sünder
Überfluß an Schätzen und Reichtümern, zechen in
einemfort sonder Kummer, sonder Trauer, während dagegen
Gerechte Not leiden und den Verlust von Gatten und
Kindern zu beklagen haben? Solchen sollte jene Parabel
im Evangelium den Mund schließen. Der Reiche kleidete
sich in Byssus und Purpur und hielt täglich üppige
Gelage, der Arme aber sammelte, mit Geschwüren
vollbedeckt, die Überbleibsel von dessen Tisch. Nach dem
Tode beider aber befand sich der Arme, der Ruhe
genießend, im Schöße Abrahams, der Reiche hingegen in
Qualen[90].
Geht daraus nicht klar hervor, daß einen nach dem Tode
je nach Verdienst entweder Lohn oder Strafe erwartet?
58.
Und mit Recht harrt, weil Kampf Mühe erheischt, nach dem
Kampfe des einen Sieg, des anderen Beschämung. Oder wird
denn einem vor der Vollendung des Laufes die Palme
gereicht, die Krone verliehen? Mit Recht versichert
Paulus: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf
vollendet, den Glauben bewahrt. Im übrigen ist mir die
Krone der Gerechtigkeit hinterlegt, die mir der Herr an
jenem Tag geben wird, der gerechte Richter, nicht allein
aber mir, sondern auch denen, die seine Ankunft lieben“2
Tim. 4, 7 f.). ,,An jenem Tage“, heißt es, wird er sie
geben, nicht schon hier. Hier aber kämpfte er als ein
guter Streiter in Mühen, in Gefahren, in Schiffbrüchen;
denn er wußte, daß wir durch viele Trübsale ins Reich
Gottes eingehen müssen[91].
Keiner kann sonach den Preis empfangen, der nicht
rechtmäßig gekämpft hat. Und es gibt keinen ruhmvollen
Sieg ohne mühevollen Kampf.
XVI.
Kapitel
Von
der göttlichen Vorsehung: Die Siegeskrone winkt nur dem
Tugendstreiter (59), der Gottlose begnügt sich mit der
Rolle des müßigen Zuschauers (60). Seiner harrt die
Strafe (61). Mit zeitlichen Gütern gesegnet, soll er
dereinst keine Entschuldigung haben (62—64).
59.
Ist der nicht ungerecht, der den Preis gibt, bevor der
Kampf beendet ist? Daher der Ausspruch des Herrn im
Evangelium: „Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist
das Himmelreich!“[92]
Er sprach nicht: selig die Reichen, sondern: die Armen.
So fängt also nach göttlichem Urteil die Seligkeit da
an, wo menschliche Meinung nur Elend erblickt. „Selig
die Hungernden; denn sie werden gesättigt werden! Selig
die Trauernden; denn sie werden Trost finden! Selig die
Barmherzigen; denn ihrer wird auch Gott sich erbarmen!
Selig, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott
schauen! Selig, die um der Gerechtigkeit willen
Verfolgung leiden; denn ihrer ist das Himmelreich! Selig
seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und alles
Böse wider euch reden werden um der Gerechtigkeit
willen! Freut euch und frohlocket; denn euer Lohn ist
groß im Himmel!“[93]
Einen zukünftigen, nicht gegenwärtigen Lohn versprach
er; im Himmel, nicht auf der Erde ist er auszuzahlen.
Was forderst du hier, was dir an einem anderen Ort
gebührt? Was verlangst du vorzeitig die Krone, bevor du
siegst? Was wünschst du den Staub abzuschütteln, was
auszuruhen, was verlangst du nach Speise, bevor die
Rennbahn durchlaufen ist? Noch sieht das Volk zu, noch
stehen die Wettkämpfer auf dem Kampfplatz: und du
verlangst bereits nach Muße?
60.
Doch vielleicht möchtest du einwenden: Warum geben sich
die Gottlosen dem Vergnügen, warum der Ausgelassenheit
hin? Warum teilen nicht auch sie die Mühe und Arbeit mit
mir? Weil die, welche sich nicht um die Siegeskrone
bewerben, auch nicht zur Kampfesmühe sich angehalten
fühlen. Wer nicht in die Rennbahn tritt, salbt sich
nicht mit Öl, beschmutzt sich nicht mit Staub. Kämpfer,
deren Ruhm harren soll, erwartet Ungemach.
Salbenduftende Weichlinge pflegen zuzuschauen, nicht zu
kämpfen, nicht Sonne, Hitze, Staub und Regen zu
ertragen. Wohl mag auch an sie die Aufforderung der
Kämpfenden ergehen: Kommt, teilt die Kampfesmühe mit
uns! Doch als Zuschauer werden sie antworten: Wir
spielen hier inzwischen eure Richter; ihr aber werdet
euch auch ohne uns, wenn ihr siegt, den Ruhm sichern.
61.
Solche Leute nun, die ihr Sinnen und Trachten auf Genuß,
auf Völlerei, Erpressung, Erwerb und Ehren richten, sind
mehr Zuschauer denn Streiter. Sie ziehen Vorteil aus der
Arbeit, keine Frucht aus der Tugend. Sie pflegen des
Müßigganges, scharren in List und Ungerechtigkeit Haufen
von Reichtümern zusammen. Doch wenn auch spät: sie
werden für ihre Schlechtigkeit Strafe erleiden. Ihre
Ruhe ist in der Hölle, die deinige aber im Himmel; ihre
Behausung ist im Grabe, die deinige im Paradiese. Darum
der schöne Ausspruch Jobs: sie wachen im Grabe[94],
weil sie des Schlafes der Ruhe nicht genießen können,
den jener schlief, der auferstanden ist.
62.
Sei also nicht unverständig wie ein Kind, rede nicht wie
ein Kind, denke nicht wie ein Kind, maße dir nicht wie
ein Kind etwas an, was einer späteren Zeit vorbehalten
ist! Die Krone gebührt den Vollendeten. Mache dich
gefaßt, daß die Vollendung kommt! Dann magst du nicht im
rätselhaften Bilde, sondern von Angesicht zu Angesicht
die Gestalt der enthüllten Wahrheit selbst erkennen[95].
Dann wird offenbar werden, warum der Ungerechte und
Erpresser fremden Gutes reich, warum ein anderer
mächtig, warum ein dritter mit zahlreichen Kindern
gesegnet, wieder ein anderer mit Ehren bedacht war.
63.
Vielleicht soll zum Erpresser einmal gesprochen werden:
Du warst reich, warum raubtest du fremdes Gut? Nicht Not
trieb dich, nicht Armut zwang dich hierzu. Habe ich dich
nicht deshalb reich werden lassen, um dir keine Ausrede
zu ermöglichen? Ebenso soll zum Mächtigen gesprochen
werden: Warum standst du den Witwen, ferner den Waisen
nicht bei, da sie Unrecht litten? Warst du zu schwach
hierzu? Warst du außerstande, Hilfe zu leisten? Darum
habe ich dich mächtig gemacht, nicht daß du Gewalttat
übest, sondern verhütest. Galt dir nicht das
Schriftwort: „Rette den, dem Unrecht widerfährt“?[96]
Galt dir nicht das Schriftwort: „Befreiet den Armen und
Notleidenden aus der Hand des Sünders“?[97]
Desgleichen soll zum Reichen gesprochen werden: Mit
Kindern und Ehren habe ich dich reich bedacht, leibliche
Gesundheit dir geschenkt: warum befolgtest du meine
Gebote nicht? Mein Diener, was habe ich dir getan oder
womit dich betrübt? Habe nicht ich dir die Kinder
gegeben, die Ehren verliehen, die Gesundheit geschenkt?
Warum hast du mich verleugnet? Warum glaubtest du, dein
Tun dringe nicht zu meinem Wissen? Warum behieltest du
meine Gaben, hieltest du nicht meine Gebote?
64.
Am Verräter Judas mag man denn dies erschließen. Er war
zum Apostel unter den Zwölfen erkoren und erhielt die
Geldmünzen anvertraut, die er an die Armen verteilen
sollte. Es sollte nicht scheinen, als habe er den Herrn
verraten, weil er nicht genugsam geehrt, oder weil er in
Not war. Gerade deshalb gab sie ihm der Herr, daß er an
ihm gerechtfertigt würde. Nicht aus Erbitterung über ein
Unrecht, sondern aus Mißbrauch seines Gnadenamtes machte
er sich der um so größeren Beleidigung schuldig.
XVII. Kapitel
Von
den Pflichten der heranwachsenden Jugend (65). Biblische
Vorbilder (66).
65.
Da nun hinlänglich klar ist, daß einerseits der
Ungerechtigkeit Strafe, andrerseits der Tugend Lohn
harrt, wollen wir an die Besprechung jener Pflichten
herantreten, auf die wir von Jugend auf unser Augenmerk
richten sollen[98],
damit sie zugleich mit den fortschreitenden Jahren an
Wachstum zunehmen. Braven Jünglingen nun geziemt
Gottesfurcht, Ehrerbietung gegen die Eltern, Ehrfurcht
vor dem Alter, Wahrung der Keuschheit, unverdrossene
Übung der Demut, Liebe zur Sanftmut und zur Sittsamkeit,
welche das jüngere Alter zieren. Wie nämlich für das
Alter der Ernst und für die erwachsene Jugend der
Frohsinn, so bildet für die heranwachsende Jugend die
Sittsamkeit gleichsam die natürliche Mitgift, die sie
empfiehlt.
66.
Isaak war schon als Sprößling Abrahams gottesfürchtig
und von solcher Ehrerbietung gegen den Vater, daß er
sich wider des Vaters Willen nicht einmal dem Tod
widersetzte[99].
Auch Joseph war, obgleich es ihm geträumt hatte, daß die
Sonne und der Mond und die Sterne ihm huldigten, voll
Dienstbeflissenheit gegen den Vater, ferner keusch, so
daß er nur ehrbare Rede hören wollte, demütig bis zum
Sklavendienst, sittsam bis zur Flucht, geduldig bis zur
Kerkerhaft, zur Verzeihung des Unrechts bereit bis zur
Belohnung desselben. So groß war seine Schamhaftigkeit,
daß er, von einem Weibe ergriffen, lieber fliehend sein
Kleid in deren Händen zurücklassen als seine
Schamhaftigkeit preisgeben wollte[100].
Auch Moses und Jeremias, vom Herrn zur Verkündigung der
göttlichen Aussprüche an das Volk erwählt,
entschuldigten sich in heiliger Scheu über das
Unterfangen, zu dem sie kraft der Gnade ermächtigt waren[101].
XVIII. Kapitel
Von
der Sittsamkeit: Sie bekundet sich im Reden (67), noch
mehr im Schweigen (68). Sie ist die Genossin der
Keuschheit (69), macht das Gebet Gott wohlgefällig (70),
offenbart sich in Haltung und Gang (71—75). Von ihrer
Verletzung in Wort (76) und Blick (77). Die
Schamhaftigkeit gegen sich selbst ein Gebot der Natur,
der Sitte, der Hl. Schrift (78—80).
67.
Schön ist die Tugend der Sittsamkeit und hold ihr Reiz.
Nicht nur im Handeln, sondern selbst im Reden tritt sie
zutage: man überschreite nicht das Maß beim Sprechen;
die Rede lasse nichts Unziemliches verlauten! Im Worte
spiegelt sich ja so häufig das Bild des Geistes. Sogar
den Ton der Stimme wägt die Eingezogenheit ab, daß nicht
eine zu kräftige Stimme das Ohr des Hörers verletze. So
besteht schon beim Singen und überhaupt bei jedem
Gebrauch der Sprache die erste Schulung in bescheidener
Zurückhaltung. Erst nach und nach soll einer zu
psallieren oder zu singen oder endlich zu sprechen
anfangen, damit die bescheidenen Anfänge
vielversprechend für den Fortschritt werden.
68.
Gerade das Stillschweigen, die Mußezeit der übrigen
Tugenden, ist das Wichtigste in der Sittsamkeit.
Dasselbe gilt denn auch, wenn kindisches Unvermögen oder
aber Stolz dahinter vermutet wird, für eine Schande,
wenn Sittsamkeit, für etwas Lobenswertes. Susanna
schwieg in der Gefahr[102];
sie erachtete den Verlust der Schamhaftigkeit für
schlimmer als den des Lebens und glaubte nicht ihre
Reinheit auf das Spiel setzen zu sollen, um so ihr Leben
zu wahren. Nur mit Gott sprach sie[103],
mit dem sie sich in keuscher Sittsamkeit aussprechen
konnte. Sie vermied es, den Männern ins Gesicht zu
sehen; denn auch in den Augen verrät sich die
Schamhaftigkeit, so daß eine Frau weder Männer anblicken
noch davon sich anblicken lassen will.
69.
Niemand aber glaube, dieses Lob gebühre allein nur der
Keuschheit. Denn die Keuschheit hat zur Gefährtin die
Sittsamkeit, in deren Gefolge die Keuschheit selbst
sicherer ist. Eine gute Gefährtin und Führerin der
Keuschheit ist die Schamhaftigkeit. Indem sie ihren
Schild wehrend gegen die ersten Regungen der Gefahr
hält, läßt sie keine Verletzung der Keuschheit zu. Sie
vor allem nimmt die Schriftleser schon auf den ersten
Blick für die Mutter des Herrn ein und läßt als
vollgültige Zeugin dieselbe als würdig für die Erwählung
zu einem solchen Berufe erscheinen. Sie weilt im
Gemache, weilt allein, sie schweigt auf des Engels Gruß
und ist bestürzt bei dessen Eintritt, weil der Blick der
Jungfrau auf die ungewohnte Erscheinung einer
Mannesperson in Verwirrung gerät. Obschon demütig,
erwiderte sie doch aus Sittsamkeit den Gruß nicht und
antwortete erst dann, als sie von ihrer Berufung zur
Mutter des Herrn vernahm, um die Art des Vollzuges
kennen zu lernen, nicht um die Anrede zu erwidern[104].
70.
Auch bei unserem Gebete zieht die Eingezogenheit viel
Wohlgefallen nach sich und erwirbt uns viel Gnade bei
unserem Gott. Gereichte nicht sie dem Zöllner, der nicht
einmal seine Augen zum Himmel aufzuschlagen wagte, zur
Auszeichnung und Empfehlung. Er geht nach dem Urteil des
Herrn gerechtfertigter weg als der Pharisäer, den seine
Anmaßung so widerlich machte[105].
So laßt uns denn, wie Petrus mahnt, „in der
Unversehrtheit eines stillen und bescheidenen Geistes
beten, der vor Gott reich ist!“[106]
Etwas Großes muß es also um die Bescheidenheit sein, die
sogar, des eigenen Rechtes lieber entsagend, sich nichts
anmaßt, nichts aneignet, und mehr auf sich selbst sich
beschränkend „vor Gott reich ist“, vor dem niemand reich
ist[107].
Reich ist die Bescheidenheit, weil sie Gottes Anteil
ist. Auch Paulus gebot, das Gebet in Eingezogenheit und
Nüchternheit zu verrichten[108].
Diese Eingezogenheit wünscht er an erster Stelle und
gleichsam als die Vorläuferin des nachfolgenden Gebetes,
daß es nicht eines Sünders ruhmrediges Gebet werde,
sondern ein Gebet, das gleichsam in die Farbe errötender
Scham gehüllt, um so reichlichere Gnade verdient, je
größere Beschämung es beim Gedanken an die Sünde
auslöst.
71.
Ebenso ist auch in Bewegung, Haltung und Gang
Sittsamkeit zu beobachten[109].
Denn in der Haltung des Körpers verrät sich der Zustand
des Geistes. Danach hält man den „verborgenen Menschen
unseres Herzens“[110]
entweder für mehr leichtfertig oder prahlerisch oder
ungestüm, oder aber für mehr ernst, beständig, lauter
und reif. Durch die Körperbewegung spricht also
gleichsam die Stimme des Geistes.
72.
Ihr erinnert euch, meine Söhne, an einen Freund, der,
obschon er sich durch fleißige Dienstverrichtungen zu
empfehlen schien, nur allein darum von mir nicht in den
Klerus aufgenommen wurde, weil seine Haltung so
unziemlich war; wie ich ebenso einem anderen, als ich
ihn unter dem Klerus entdeckt hatte, verbot, je einmal
an mir vorüberzugehen, weil sein kecker Gang mein Auge
verletzte. Und zwar sagte ich ihm das, als er nach einer
Verfehlung von neuem in sein Amt eingesetzt wurde. Diese
einzige Ausstellung machte ich, und das Urteil trog
nicht; denn beide Kleriker fielen von der Kirche ab. Sie
entpuppten sich in ihrer inneren Nichtsnutzigkeit als
das, als was sie bereits das äußere Auftreten verriet.
Der eine nämlich verleugnete in der Zeit der arianischen
Verfolgung den Glauben; der andere sagte sich aus
Geldgier von uns los, um nicht dem priesterlichen
Gerichte zu verfallen. Ihr Gang spiegelte das Bild der
Leichtfertigkeit, sozusagen das Bild von herumziehenden
Possenreißern.
73.
Es gibt auch solche, die zu gemächlich einhergehen[111],
dabei wie Gaukler sich gebärden[112]
und gleichsam die Tragbahren auf den Umzügen[113]
und die Bewegungen der wackelnden Statuen nachahmen. Sie
scheinen bei jedem Schritt, den sie tun, eine Art
Rhythmus einhalten zu wollen.
74.
Auch das Laufen halte ich nicht für anständig[114],
außer wenn irgendeine begründete Gefahr oder gerechte
Notwendigkeit es erfordert. Wir sehen so manchmal Leute
außer Atem dahineilen und das Gesicht verzerren. Fehlt
ihnen der Grund zu einer notwendigen Eile, liegt darin
ein Mangel, an dem man sich mit Recht stößt. Aber nicht
von denen rede ich, für die sich mit Grund ein seltener
Anlaß zur Eile ergibt, sondern denen ständige und
fortwährende Hast zur Natur geworden ist Ich kann weder
an jenen ersteren es billigen, wenn sie wie Götzenbilder
auftreten, noch an letzteren, wenn sie sich überstürzen,
als hätte man sie fortgejagt.
75.
Es gibt auch einen löblichen Gang. Er muß in der äußeren
Haltung Würde und gemessenen Ernst und ruhigen Schritt
wahren, doch so, daß Absichtlichkeit und Gesuchtheit
unterbleibt, die Bewegung vielmehr natürlich und
schlicht ist[115];
denn kein Falsch gefällt, natürlich sei die Bewegung!
Haftet wirklich der Natur ein Fehler an, mag natürliche
Geschicklichkeit ihn beseitigen; Künstelei sei
ausgeschlossen, nicht Abhilfe.
76.
Wenn schon diese Dinge von einem höheren Gesichtspunkt
sich ins Auge fassen lassen, wieviel mehr hat man sich
zu hüten, daß dem Munde nichts Schändliches entschlüpft?
Das wäre eine schwere Verunreinigung des Menschen. Denn
nicht die Speise verunreinigt, sondern ungerechte
Schmährede, unlautere Worte[116].
Das gereicht schon dem gewöhnlichen Mann zur Schande. In
unserem Amte aber könnte kein unanständiges Wort fallen,
das nicht die Sittsamkeit verletzen würde. Und wir
dürfen nicht bloß selbst nichts Unziemliches sprechen,
sondern derartigen Worten auch nicht unser Ohr leihen,
wie Joseph sein Kleid zurückließ und floh, um nichts zu
hören, was sich für seine Schamhaftigkeit nicht schickte[117].
Wer nämlich vergnüglich zuhört, reizt den anderen zum
Reden.
77.
Schon der Gedanke an etwas Schändliches macht tief
erröten. Welchen Schauder aber löst nicht der Anblick
aus, wenn einem zufällig etwas Derartiges begegnet![118]
Was nun an anderen mißfällt, kann etwa das an sich
selbst Gefallen erwecken? Belehrt uns nicht die Natur
selbst darüber? Wohl ließ sie sämtlichen Körperteilen an
uns eine volle Entwicklung angedeihen, um sowohl den
Bedürfnissen Rechnung zu tragen, wie für zierliche Anmut
zu sorgen. Jene indes, die einen lieblichen Anblick
gewähren, in denen wie auf ragender Burg der Gipfel der
Schönheit, die Lieblichkeit der Gestalt und der Reiz des
Antlitzes aufleuchten, die rascher zu praktischem
Gebrauch bereitstehen sollten, ließ sie frei und bloß.
Jenen hingegen, die nur einem natürlichen Bedürfnisse
dienen sollten, wies sie teils, um nicht einen
abstoßenden Anblick zu gewähren, am Leibe selbst eine
abgelegene und verborgene Stelle an, teils gab sie
Anleitung und Anregung, dieselben zu verhüllen[119].
78.
Ist also nicht die Natur selbst die Lehrmeisterin der
Sittsamkeit? Nach ihrem Vorgang hat menschliche
Wohlanständigkeit, deren Name (modestia), wie ich
glaube, vom Maß (modus) des Wissens um das Schickliche
herkommt, das Verborgene, das sie an diesem unseren
Körperbau vorfand, verhüllt und bedeckt[120],
wie jene Türe, die auf Geheiß des gerechten Noë in der
Arche anzubringen war, die entweder ein Sinnbild der
Kirche oder unseres Leibes war[121].
Durch sie sollten die Speisereste abgesondert werden. So
sehr war also der Schöpfer der Natur auf unsere
Sittsamkeit bedacht; so sehr schätzte er das Schickliche
und Ehrbare an unserem Leibe, daß er gleichsam unsere
Kanalleitungen und -ausgänge an die Rückseite versetzte
und unserem Anblick entzog, daß nicht die Entleerung des
Bauches den Blick des Auges verletze. Der Apostel knüpft
hieran die schöne Erwägung: „Die Glieder des Leibes,
welche die schwächeren zu sein scheinen, sind die
notwendigen; und die als minder edle Glieder des Leibes
gelten, diese umgeben wir mit reichlicherer Ehre; und
die unanständigen an uns erfahren die reichlichere
Wohlanständigkeit“[122].
In Nachahmung der Natur nämlich steigerte noch
beflissene Sitte den Anstand. An einer anderen Stelle
legten wir auch noch den höheren Sinn jener
Schriftstelle aus[123].
Wir verbergen aber nicht bloß die Glieder, die wir als
solche empfangen haben, vor unseren Augen, sondern
halten es auch für unanständig, ihre Bezeichnung und
ihren Gebrauch mit Namen anzuführen[124].
79.
So errötet denn auch die Schamhaftigkeit vor einer
zufälligen Entblößung dieser Glieder; absichtliche
Entblößung gilt für unschamhaft. Noës Sohn Cham zog sich
eben darum Ungnade zu, weil er beim Anblick des
entblößten Vaters lachte; die Söhne aber, die den Vater
zudeckten, empfingen das Gnadengeschenk des Segens[125].
Es war daher auch alte Sitte sowohl in der Stadt Rom wie
in den meisten sonstigen Städten, daß erwachsene Söhne
nicht gemeinsam mit ihren Vätern, oder Schwiegersöhne
mit ihren Schwiegervätern baden durften[126],
damit die väterliche Autorität und Achtung nicht
darunter litte. Übrigens bedeckt man sich zumeist auch
im Bade nach Tunlichkeit, damit nicht einmal hier, wo
der ganze Körper entblößt ist, ein solcher Teil
unbedeckt bleibe.
80.
Auch die Priester erhielten nach alter Sitte
Beinkleider, wie wir es im Buche Exodus lesen. So erging
an Moses das Wort vom Herrn: „Und du sollst ihnen
linnene Beinkleider machen lassen, um die Blöße ihrer
Scham zu bedecken. Von den Lenden bis zu den Schenkeln
sollen sie reichen. Und Aaron und seine Söhne sollen sie
tragen, so oft sie in das Zelt des Zeugnisses eintreten
und so oft sie zum Altare hintreten werden zu opfern;
und sie sollen sich nicht mit Sünde bedecken, um nicht
zu sterben“[127].
Manche von uns sollen das auch jetzt noch beobachten;
meist legt man es aber im geistigen Sinn aus und glaubt,
der Ausspruch beziehe sich auf die Behütung der
Schamhaftigkeit und die Wahrung der Keuschheit.
XIX.
Kapitel
Von
der Sittsamkeit: Sie schickt sich für jedes Alter, am
meisten für das jugendliche (81—82). Ihr Verhältnis zur
leiblichen Schönheit (83). Sie muß in Stimme und Haltung
etwas Männliches wahren, von Weichlichkeit und Derbheit
sich gleich weit entfernt halten (84).
81.
Es hat mir Vergnügen gemacht, etwas länger bei den
Funktionen der Sittsamkeit zu verweilen, weil ich zu
euch redete, die ihr entweder ihr Gutes aus eigener
Erfahrung kennt, oder von ihrem Verluste nichts wißt.
Sie ist jedem Alter, jeder Person, Zeit und Örtlichkeit
angemessen, schickt sich aber am meisten für die
Heranwachsenden und Jugendlichen.
82.
Bei jedem Alter ist darauf zu achten, daß man tut, was
sich ziemt, und daß die Lebensordnung im Einklang und in
Übereinstimmung mit sich selbst bleibt. Daher hält
Tullius dafür, es müsse auch im Schicklichen Ordnung
gewahrt werden, und behauptet, es liege „in der Anmut,
Anordnung und Zierlichkeit, die einer Handlung
entsprechen“, Dingen, die sich mit Worten, wie er
beifügt, schwerlich darlegen lassen; es genüge darum,
daß man sie fühle[128].
83.
Warum er gerade die leibliche Schönheit anführte,
verstehe ich nicht; übrigens gilt sein Lob auch den
Kräften des Leibes[129].
Wir verlegen jedenfalls die Tugend nicht in die
Körperschönheit. Wir schließen freilich deren Anmut
nicht aus, weil die Sittsamkeit gerade auch das Antlitz
mit Schamröte zu bedecken und reizender zu machen
pflegt. Wie nämlich des Künstlers Schaffen in der Regel
an einem geschmeidigeren Stoff besser hervortritt, so
leuchtet auch die Sittsamkeit gerade aus der leiblichen
Anmut mit erhöhtem Glanze hervor. Doch soll auch die
leibliche Schönheit nichts Gekünsteltes, sondern etwas
Natürliches sein: einfach, eher vernachlässigt denn
gesucht, nicht in kostbare und glänzende Gewänder
gehüllt, um ihr nachzuhelfen, sondern in gewöhnliche, so
daß der Ehrbarkeit oder dem Bedürfnis kein Eintrag
geschieht, die natürliche Anmut ohne künstliche Zutat
bleibt.
84.
Selbst die Stimme soll nicht weichlich, nicht gebrochen
sein, nicht weibisch klingen, wie es sich viele unter
dem Schein des Würdevollen angewöhnt haben; sie soll
vielmehr in Ausdruck, Modulierung und Kraft etwas
Männliches wahren. Das heißt eine schöne Lebensweise
einhalten: sich so geben, wie es seinem Geschlecht und
seiner Person ziemt. Das ist die beste Handlungsweise,
das die rechte Zier für jedes Tun. Doch wie ich nichts
Weichliches und Schwächliches im Ton der Stimme und in
der Körperhaltung billigen kann, so auch nichts Rohes
und Bäuerisches[130].
Ahmen wir die Natur nach! Ihr Bild spiegelt die Norm der
Zucht, die Norm der Ehrbarkeit wider.
XX.
Kapitel
Von
der Sittsamkeit: Sie flieht die Gesellschaft der
Genußmenschen (85). Kleriker sollen Gastmähler der Laien
(86), Besuche bei Witwen und Jungfrauen meiden (87),
ihre freie Zeit lieber auf Schriftlesung und fromme
Übungen verwenden (88—89).
85.
Die Sittsamkeit hat freilich auch ihre Klippen, nicht
solche, die sie selbst mit sich führt, sondern in die
sie hineingerät, wenn wir in die Gesellschaft
ausschweifender Menschen fallen, die unter dem Schein
der Lustbarkeit Gift in die Guten träufeln. Sind sie
ständig um einen, insbesonders bei Mahl, Spiel und
Scherz, entnerven sie den männlichen Ernst. Hüten wir
uns darum, daß wir nicht, während wir geistige
Abspannung suchen, die ganze Harmonie, sozusagen den
Einklang unseres guten Handels und Wandels zerstören!
Denn Gewohnheit verkehrt rasch die Natur.
86.
Es entspricht sonach, wie ich glaube, einem klugen
kirchlichen Wandel, wie insbesonders dem Dienste von
Kirchendienern, daß ihr die Gastmähler von Laien meidet,
sei es um selbst Gastfreundschaft gegen Fremde zu üben,
sei es um durch solche Vorsicht nicht schlimmer Nachrede
Raum zu geben. Machen doch auch Gastmähler von Laien
ihre Ansprüche. Sodann verraten sie auch Genußsucht. Oft
laufen auch Possen mitunter, welche die Welt und ihre
Lustbarkeiten zum Gegenstand haben. Die Ohren kann man
nicht schließen, sie verbieten gälte für Anmaßung. Auch
mehr Becher, als man wünscht, laufen unter. Besser ist
es, einmal im eigenen, als wiederholt im fremden Hause
Entschuldigung stammeln zu müssen und seinerseits
nüchtern aufstehen zu können. Gleichwohl dürfte man
wegen der Ausgelassenheit anderer deine Beteiligung noch
nicht verurteilen.
87.
Besuche jüngerer Kirchendiener in den Häusern von Witwen
und Jungfrauen sind unstatthaft, außer zum Zwecke einer
Visitation, und auch da nur im Beisein von Älteren, d.
i. des Bischofs oder, wenn ein wichtigerer
(Verhinderungs-) Grund vorhanden ist, von Presbytern.
Was tut es not, Weltleuten Anlaß zu übler Nachrede zu
geben? Was brauchen jene häufigen Besuche auch noch den
Charakter von Amtsbesuchen annehmen? Wie, wenn eine von
jenen Personen etwa fallen sollte? Was willst du das
Odiose fremden Falles auf dich nehmen? Wie viele, selbst
starke Männer hat die verlockende Gelegenheit schon
verführt! Wie viele haben zwar nicht der Verirrung, aber
dem Verdacht Raum gegeben!
88.
Warum willst du nicht die Zeit, die dir vom
Kirchendienst erübrigt, auf die (Schrift-) Lesung
verwenden? Warum nicht Christus besuchen, mit Christus
sprechen, Christus hören? Mit ihm sprechen wir, wenn wir
beten; ihn hören wir, wenn wir die göttlichen Aussprüche
lesen. Was haben wir in fremden Häusern zu suchen? Ein
Haus gibt es, das alle aufnimmt. Jene sollen lieber zu
uns kommen, wenn sie uns benötigen. Was haben wir mit
Possen zu tun? Den Altardienst Christi, nicht
Menschendienst haben wir zur Verrichtung übernommen.
89.
Demütig müssen wir sein, milde, sanft, ernst, geduldig,
in allem maßvoll, daß weder der stumme Blick, noch die
Rede irgendeine Schwäche an unserem sittlichen Verhalten
verrate.
XXI.
Kapitel
Vom
Zorn: Er ist vor der Aufwallung zu verhüten, oder doch
in der Aufwallung zu dämpfen, nach der Aufwallung zu
überwinden (90). Das vorbildliche Beispiel des
Patriarchen Jakob (91—92) und der Kinder (93). Vor der
Philosophie hat längst die Hl. Schrift die einschlägigen
Grundsätze ausgesprochen (94—97).
90.
Man hüte sich vor Zorn! Oder kann man ihm nicht
vorbeugen, dämpfe man ihn! Denn die Erbitterung ist eine
schlimme Verführerin zur Sünde. Sie verwirrt die Seele,
so daß sie vernünftiger Überlegung nicht mehr fähig ist.
Das erste nun ist, daß einem womöglich durch eine Art
Gewöhnung, durch Herzensbildung und Vorsatz die Ruhe im
Verhalten zur zweiten Natur werde. Weil sodann die
Zornesregung zumeist so tief dem natürlichen Charakter
anhaftet, daß sie sich nicht (von vornherein) ausrotten
oder verhüten läßt, unterdrücke man sie durch die
Vernunft, wenn man sie voraussehen kann. Oder aber man
überlege, wenn die Seele von Erbitterung erfaßt wurde,
bevor sich durch Überlegung dagegen vorbauen und
vorsehen ließ, wie man die seelische Erregung
überwinden, den Jähzorn dämpfen könne. Widersteh dem
Zorn, wenn du es kannst; weich ihm, wenn du es nicht
kannst! Denn es steht geschrieben: „Gebt Raum dem Zorn!“[131].
91.
Jakob ging dem zürnenden Bruder aus dem Weg und wollte
lieber, von Rebekka, d. i. von der Geduld[132]
beraten, in der Ferne und Fremde weilen, als den
Unwillen des Bruders reizen, und erst dann zurückkehren,
als er den Bruder besänftigt glaubte[133].
So fand er denn auch so große Gnade bei Gott. Mit
welchen Liebenswürdigkeiten sodann, mit welch großen
Geschenken machte er sich den Bruder selbst geneigt, so
daß dieser nicht mehr des vorweggenommenen Segens
gedachte, sondern nur der geleisteten Genugtuung
eingedenk war![134]
92.
Wenn also Zorn dein Gemüt überrascht und überrumpelt und
in dir aufsteigt, weich nicht von deinem Standpunkt!
Dein Standpunkt ist die Geduld, dein Standpunkt ist die
Weisheit, dein Standpunkt ist die Vernunft, dein
Standpunkt ist die Dämpfung des Unwillens. Oder regt
dich die Frechheit auf, mit der einer antwortet, oder
reizt dich seine Verkehrtheit zum Unwillen, bezähme
deine Zunge, falls du den Sinn nicht besänftigen kannst!
Denn so steht geschrieben: „Halt deine Zunge und deine
Lippen im Zaum, daß sie nicht Trug reden!“[135]
Ferner: „Suche Frieden und geh ihm nach!“[136]
Betrachte jene Friedfertigkeit des heiligen Jakob, mit
der du allererst deinen Sinn besänftigen solltest!
Vermagst du das nicht, so lege deiner Zunge Zügel an!
Sodann unterlaß die Bemühung um die Wiederversöhnung
nicht! Die weltlichen Redner haben diese Grundsätze von
den Unsrigen entlehnt und in ihren Schriften
niedergelegt. Doch der Vorzug dieser Auffassung gebührt
dem, der sie zuerst vorgetragen hat.
93.
So laßt uns also den Zorn meiden, oder aber dämpfen, daß
er nicht in unserem lobenswerten Betragen eine Ausnahme
bilde, in unserem sündigen Verhalten die Schuld mehre!
Nichts Geringes ist es, den Zorn zu besänftigen; nichts
Geringeres, als sich überhaupt nicht aufzuregen.
Ersteres ist unser Verdienst, letzteres glückliche
Naturanlage. Bei Kindern nehmen sich denn auch
Zornesregungen harmlos aus; sie sind mehr drollig denn
widerlich. Und kommen auch Kinder unter sich rasch in
Aufregung, lassen sie sich doch rasch besänftigen und
begegnen sich wiederum in um so größerer Freundlichkeit.
Sie wissen nichts von hinterlistigem und ränkevollem
Benehmen. Verachtet diese Kinder nicht! Der Herr sagt
von ihnen: „Wenn ihr euch nicht bekehrt und werdet wie
dieses Kind, werdet ihr in das Himmelreich nicht
eingehen“[137].
Der Herr selbst, d. i. Gottes Kraft hat gleich einem
Kinde, da er geschmäht wurde, die Schmähung nicht
erwidert; da er geschlagen wurde, den Schlag nicht
zurückversetzt[138].
Mache den Vergleich mit dir! Halte gleich einem Kinde
nicht am Unrecht fest! Sei nicht bösartig! Alles
geschehe deinerseits in Unschuld! Schaue nicht auf das,
was dir von anderen vergolten wird! Behaupte deinen
Standpunkt und wahre die Aufrichtigkeit und Lauterkeit
deines Herzens! Erwidere dem Zornigen nicht auf seinen
Zornesausbruch, noch dem Unverständigen auf seinen
Unverstand! Rasch löst Schuld wiederum Schuld aus. Wenn
man den Stein am Steine reibt, schlägt nicht Feuer
hervor?
94.
Die Heiden erzählen, wie sie alles mit Worten
aufzubauschen pflegen, von einem Ausspruch des
Philosophen Archytas aus Tarent[139],
den er an seinen Verwalter richtete: „Du Unseliger, wie
würde ich dich schlagen, wenn ich nicht im Zorn wäre!“
Doch schon David hatte die im Unwillen erhobene
bewaffnete Rechte sinken lassen[140].
Und wieviel mehr besagt eine Schmähung nicht erwidern,
als keine Strafe verhängen? Und zwar hatte Abigail durch
bloße Bitten den wider Nabal zur Rache bereitstehenden
Krieger davon abgewendet[141].
Daraus sehen wir, daß wir selbst schon dringlichen
Bitten nicht bloß nachgeben, sondern sogar darüber uns
freuen sollten. So sehr aber war David darüber erfreut,
daß er die Fürbittende segnete, weil er durch sie von
Rachegelüsten abgewendet wurde[142].
95.
Schon hatte er über seine Feinde geklagt: „Denn Missetat
wälzten sie auf mich, und im Zorn fielen sie mir lästig“[143].
Hören wir nun, was der Zornerregte gesprochen: „Wer gibt
mir Flügel gleich der Taube, und ich will fliegen und
Ruhe finden“[144].
Sie reizten ihn zum Zorne, er aber zog die Ruhe vor.
96.
Schon hatte er gesprochen: „Zürnet, doch sündiget
nicht!“[145]
Als ein Sittenlehrer, der wußte, daß eine natürliche
Regung durch vernünftige Lehre mehr gezügelt als getilgt
werden muß, gibt er seine Sittenvorschriften. Er will
sagen: Zürnet, sobald ein Verschulden vorliegt, dem ihr
zürnen sollt! Denn es ist unmöglich, daß wir uns nicht
über nichtswürdige Dinge aufregen. Andernfalls müßte
darin nicht sowohl Tugend, sondern Stumpfsinn und
Gleichgültigkeit erblickt werden. Zürnet also in der
Weise, daß ihr von Schuld euch fernhaltet! Oder so: Wenn
ihr zürnet, sündiget nicht, sondern überwindet kraft der
Vernunft den Zorn! Oder aber so: Wenn ihr zürnet, zürnet
euch selbst, weil ihr euch zum Zorn fortreißen ließet,
und ihr werdet nicht sündigen. Denn wer sich selbst
zürnt weil er so rasch zum Zorn sich fortreißen ließ,
hört auf, dem Nächsten zu zürnen; wer aber seinen Zorn
als berechtigt erscheinen lassen will, erhitzt sich noch
mehr und fällt rasch in Schuld. Besser aber ist nach
Salomo, wer den Zorn bezwingt, als wer eine Stadt
einnimmt[146];
denn der Zorn beirrt selbst Starke.
97.
So müssen wir uns denn hüten, in Aufregung zu geraten,
bevor die Vernunft unsere Seele in die rechte Verfassung
versetzt. Gar häufig nämlich bringen Zorn oder Schmerz
oder Todesfurcht den Geist aus der Fassung und treffen
ihn mit unvorhergesehenem Schlag. Darum ist es schön,
durch Denken, das den Geist schult, zuvorzukommen, daß
er nicht in plötzlichen Erregungen aufbrause, sondern
gleichsam im Joch und Zügel der Vernunft sich
besänftige.
XXII. Kapitel
Vom
Schicklichen im Reden: Die seelischen Funktionen des
Denkens und Begehrens (98). Vom Schicklichen im
gewöhnlichen Gespräch (99) und in der förmlichen Rede
(100—101).
98.
Die Regungen der Seele sind zweierlei, die des Denkens
und des Begehrens[147];
die einen, die des Denkens, die anderen, die des
Begehrens, beide nicht vermischt, sondern verschieden
und ungleichartig. Das Denken hat zur Aufgabe, das Wahre
zu erforschen und sozusagen herauszuschälen; das
Begehren treibt und reizt zum Handeln. Nach der Art
seiner Natur senkt sonach das Denken Ruhe und
Gelassenheit in die Seele, das Begehren regt das Handeln
an. Als Lehre nun mag sich uns ergeben, daß nur der
Gedanke an gute Dinge die Schwelle des Geistes betreten
darf; die Begierde, wenn wir in Wahrheit auf Wahrung
jenes Schicklichen bedacht sein wollen, der Vernunft
sich unterordnen muß[148].
Das Verlangen nach einer Sache darf die Vernunft nicht
ausschließen, vielmehr soll die Vernunft erwägen, was
sich für das sittliche Verhalten geziemt.
99.
Wollen wir die Schicklichkeit wahren, so haben wir, wie
gesagt, darauf zu sehen, daß wir im Handeln und Reden
das rechte Maß kennen; in der Reihenfolge geht freilich
das Reden dem Handeln voraus. Die Rede nun wird zweifach
eingeteilt: in das gewöhnliche Gespräch und die
(förmliche) Abhandlung und Untersuchung über den Glauben
und die Gerechtigkeit[149].
In beiden ist darauf zu achten, daß man alles Aufregende
meide, die Rede vielmehr sanft und gefällig, voll
Wohlwollen und Liebenswürdigkeit und ohne jede
beleidigende Äußerung geführt werde. Im gewöhnlichen
Gespräche bleibe hartnäckiger Streit ausgeschlossen. Er
pflegt mehr eitle Fragen aufzuwirbeln, als irgendeinen
Nutzen zu stiften. Die wissenschaftliche
Auseinandersetzung sei ohne Leidenschaftlichkeit, ihre
Anmut ohne Bitterkeit, ihr Mahnwort ohne Schroffheit,
ihre Aufforderung ohne Beleidigung! Und wie wir uns bei
jeder Lebensbetätigung davor in acht nehmen sollen, daß
nicht eine zu große seelische Erregung uns die Vernunft
raube; wie vielmehr die Besinnung das Feld behaupten
muß, so geziemt sich auch in der Rede die Norm
festzuhalten, keiner Regung des Zornes oder Hasses Raum
zu geben, bezw. nichts erscheinen zu lassen, was
Leidenschaftlichkeit oder Gleichgültigkeit unsererseits
verriete.
100. So denn sei die Rede, namentlich wenn sie die Hl,
Schrift zum Gegenstand hat. Wovon sollen wir denn mehr
reden als von einem möglichst guten Wandel, von der
Aufforderung zur Gesetzesbeobachtung, von der Einhaltung
sittlicher Zucht? Gleich ihr Anfang trage den Stempel
des Vernünftigen, ihr Ende halte Maß! Eine zum Ekel
langweilige Rede erregt Unwillen. Wie unschicklich aber,
wenn sie den widerlichen Eindruck des Abstoßenden macht,
nachdem schon jedes gewöhnliche Gespräch in wachsendem
Maße immer anziehender zu werden pflegt!
101. Auch soll die Behandlung der Glaubenslehre, der
Unterweisung in der Enthaltsamkeit, der Einführung in
die Gerechtigkeit und der Aufmunterung zur
Gewissenhaftigkeit nicht immer die gleiche sein, sondern
je nach der Schriftlesung von uns in Angriff genommen
und nach Kräften durchgeführt werden. Sie soll weder zu
lange fortgesetzt, noch zu rasch abgebrochen werden, daß
sie einerseits nicht Überdruß zurücklasse, anderseits
nicht Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit verrate. Die
Rede sei natürlich, einfach, klar und verständlich, voll
Ernst und Nachdruck, nicht von gesuchter Ziererei, aber
auch nicht ohne Anmut.
XXIII. Kapitel
Vom
Schicklichen im Reden: Scherz ist in der kirchlichen
Rede (102), in der Regel selbst in Plaudereien zu meiden
(103). Ein einfaches Organ mit deutlicher Aussprache
genügt für den Redner (104).
102. Weltliche Autoren geben überdies noch viele
Vorschriften über die Redeweise, die wir meines
Erachtens übergehen dürfen. So über die Scherzrede[150].
Sind nämlich Scherze dann und wann auch schicklich und
köstlich, vertragen sie sich doch nicht mit der
Kirchenregel. Wie könnten wir denn auch Dinge in den
Mund nehmen, die wir in der Schrift nicht finden?
103. Selbst bei Plaudereien sind sie zu meiden, damit
sie nicht ein ernsteres Gesprächsthema seiner Würde
entkleiden. „Wehe euch, die ihr lacht! Ihr werdet
weinen“[151],
warnt der Herr. Und wir wollten nach einem Stoff zum
Lachen fahnden, um hier zu lachen, dort zu weinen? Nicht
bloß lose, sondern alle Scherze überhaupt, meine ich,
sollten vermieden werden, außer es wäre ein Vollmaß des
Köstlichen und Anmutigen in der Rede nicht unschicklich.
104. Was soll ich denn von der Stimme sagen?[152]
Meiner Ansicht nach genügt ein einfaches und reines
Organ. Der Wohlklang der Stimme ist eine Naturgabe,
nicht eine Errungenschaft. Durch die Art des Vortrags
soll sie freilich deutlich und voll männlicher Kraft
werden. Den derben und bäuerlichen Ton meide sie! Nicht
den theatralischen Rhythmus schlage sie künstlich an,
sondern den kirchlichen wahre sie!
XXIV. Kapitel
Vom
Schicklichen im Handeln: Drei Forderungen schließt es in
sich (105—106). Vollendete Vorbilder: Abraham (107—110),
Jakob (111), Joseph (112), Job (113), David (114). Die
vier Kardinaltugenden (115).
105. Über die Art zu sprechen, meine ich, ist genug
gesagt worden. Jetzt wollen wir erwägen, was sich für
das Handeln im Leben geziemt. Auf diesem Gebiete sind
nun augenscheinlich drei Stücke zu beachten[153].
Fürs erste darf die Begierde der Vernunft nicht
widerstreiten. Nur so können unsere Diensthandlungen mit
dem Schicklichen übereinstimmen. Folgt nämlich die
Begierlichkeit der Vernunft, läßt sich in allen
Verrichtungen das Schickliche wahren. Zweitens soll es
nicht den Anschein gewinnen, als wäre unser Eifer größer
oder kleiner, als es die Sache verdient, die man
unternimmt; als hätten wir eine belanglose Sache mit
großem Eifer aufgegriffen, oder aber eine wichtige mit
geringerem Eifer abgetan. Drittens, glaube ich, sollten
wir uns nicht über das rechte Maß in unserem Streben und
Handeln, desgleichen nicht über die Ordnung in den
Dingen und den rechten Zeitpunkt hinwegsetzen.
106. Doch die Grundlage von allem bildet jene erste
Forderung, daß die Begierde der Vernunft sich unterordne[154].
Die zweite und dritte verlangt das gleiche, d. i. in
beiden Fällen das Maßhalten. Die Erwägung über jenes
vornehme Äußere, das für Schönheit gilt, sowie über das
würdevolle Auftreten fällt nämlich bei uns weg. Es folgt
sofort jene über die Ordnung in den Dingen und den
rechten Zeitpunkt[155].
Und so verbleiben denn damit drei Stücke, von denen wir
sehen wollen, ob wir sie in vollendetem Maß an
irgendeinem Heiligen aufzeigen können.
107. Ward nicht fürs erste gerade jener Vater Abraham,
der zur Belehrung der künftigen Nachkommenschaft seine
Anleitung und Unterweisung erhielt, auf den Befehl, aus
seinem Lande und aus seiner Verwandtschaft und aus
seinem Vaterhause fortzuziehen, durch mehrfache
Pietätsgefühle wie mit Fesseln zurückgehalten, und zwang
er nicht dennoch sein Begehren zu gehorsamer
Unterordnung unter die Vernunft?[156]
Wer
würde denn nicht mit Lust und Freude an seinem Lande, an
seiner Verwandtschaft, desgleichen am eigenen Hause
hängen? Auch ihn nun wandelte die süße Freude an den
Seinigen an, doch mehr noch bestimmte ihn der Gedanke an
den himmlischen Befehl und die ewige Vergeltung. Sah er
nicht, wie seine für Strapazen so schwächliche, für
Kränkungen so zartfühlende, für Wüstlinge so reizende
Gattin nicht ohne die größte Gefahr mitgeführt werden
konnte? Und dennoch hielt er es für geratener, sich
allem zu unterziehen, statt Entschuldigungen
vorzubringen. Als er sodann nach Ägypten hinabzog, riet
er derselben, sich als seine Schwester, nicht als seine
Frau auszugeben.
108. Beachte, wie stark die Regungen des
Begehrungsvermögens waren! Er fürchtete für der Gattin
Reinheit, fürchtete für sein eigenes Leben, mißtraute
der Lüsternheit der Ägypter: und dennoch wog bei ihm der
Gedanke an die religiöse Pflichterfüllung vor. Er
beherzigte nämlich, wie er sich mit Gottes Gnade überall
sicher fühlen, mit des Herrn Ungnade aber auch zu Hause
nicht heil bleiben könne. So obsiegte also die Vernunft
über das Begehren und machte es sich unterwürfig.
109. Die Gefangennahme seines Neffens machte ihn nicht
bangen, die Völker so vieler Könige beirrten ihn nicht:
er greift wiederholt zu den Waffen. Als Sieger
verzichtete er auf einen Anteil an der Beute, deren
Eroberer er war[157].
Als ihm ferner ein Sohn verheißen wurde, schenkte er,
obschon er seinen erstorbenen Leib entkräftet, seine
Gattin unfruchtbar und hochbetagt sah, wider die Stimme
der natürlichen Erfahrung Gott Glauben[158].
110. Beachte, wie alle Bedingungen eingelöst waren! Es
fehlte nicht an der Regung des Begehrungsvermögens, aber
sie wurde unterdrückt. Jenes Gleichmaß im Handeln war
vorhanden, das weder Wichtiges für gering, noch
Geringeres für wichtig hält, ferner das rechte Maßhalten
im Tun, die Ordnung in den Dingen, die Einhaltung der
rechten Zeit, die Abwägung der Worte. Ein Mann — im
Glauben der erste, in der Gerechtigkeit allen voran, im
Kampfe ausdauernd, im Siege nicht beutegierig, zu Hause
gastfreundlich und treubesorgt um die Gattin.
111. Ebenso freute sich sein Enkel Jakob zu Hause eines
ruhigen Lebens. Doch die Mutter wollte, daß er in die
Fremde ziehe, um dem erzürnten Bruder auszuweichen[159].
Der heilsame Rat siegte über sein Begehren. Ein
Verbannter aus dem Hause, ein Flüchtling fern den
Eltern, hielt er doch überall in seinem Tun das
geziemende Maß ein und beachtete den rechten Zeitpunkt.
Zu Hause war er der Liebling seiner Eltern, so daß der
eine Elternteil, durch seine zuvorkommende
Dienstbeflissenheit bewogen, ihm den Segen gab, der
andere in zärtlicher Liebe ihm besonders zugetan war[160].
Auch das Urteil des Bruders hatte ihm, nachdem er ihm
seine Speise abtreten zu sollen glaubte, den Vorzug
eingeräumt[161].
Wohl hatte er ein natürliches Ergötzen am Gerichte, doch
aus Bruderliebe gab er der Bitte nach. Ein treuer Hirte
seinem Herrn, dem Schwiegervater ein aufmerksamer
Schwiegersohn, bei der Arbeit fleißig, bei Tisch mäßig,
im Genugtun zuvorkommend, im Belohnen freigebig[162].
So besänftigte er denn auch des Bruders Zorn in einer
Weise, daß er sich statt der Feindschaft, vor der er
sich fürchtete, dessen Huld erwarb[163].
112. Was soll ich von Joseph sagen, der doch sicherlich
ein Verlangen nach der Freiheit trug und doch dem Zwang
der Sklaverei sich unterzog? Wie unterwürfig war er in
der Knechtschaft, wie standhaft in der Tugend, wie
wohlwollend im Gefängnis, weise in der (Traum-) Deutung,
vorsorglich in den Jahren der Fruchtbarkeit, gerecht
während der Hungersnot, lobenswerte Ordnung in den
Dingen mit dem rechten Augenblick in der Zeit
verbindend, infolge seiner maßvollen Amtsführung voll
Gerechtigkeit gegen das Volk![164]
113. Ebenso war Job im Glück wie im Unglück gleich
untadelig, geduldig, Gott genehm und wohlgefällig. Er
wardvon Leiden gequält, wußte sich aber zu trösten[165].
114. David ferner, tapfer im Krieg, ausdauernd im
Unglück, friedliebend in Jerusalem, im Sieg mild, in
Schuld voll Reueschmerz, im Alter vorsorglich,
beobachtete in seinen Liedern je nach der Altersstufe,
auf der er stand, Maß in den Dingen und den Wechsel der
Zeiten, so daß er, wie mich dünkt, nicht weniger durch
seine Lebensart als durch seine lieblichen Weisen, süß
wie keiner, zu Gott den unsterblichen Sang seines
Verdienstes erschallen ließ[166].
115. An welcher Förderung der Haupttugenden hätten es
diese Männer fehlen lassen? An erste Stelle setzte man[167]
die Klugheit, welche sich mit der Erforschung des Wahren
befaßt und den Trieb nach gründlicherem Wissen einflößt;
an zweite Stelle die Gerechtigkeit, die jedem das
Seinige zuteilt, kein fremdes Gut sich aneignet, vom
eigenen Nutzen absieht, um die gemeinnützige Norm der
Billigkeit zu wahren; an dritte Stelle den Starkmut, der
im Feld wie zu Haus durch Seelengröße sich hervortut und
durch Körperkraft sich auszeichnet; an vierte Stelle die
Mäßigkeit, die in allem Maß und Ordnung hält, was wir
tun oder reden zu sollen glauben.
XXV.
Kapitel
Von
den vier Kardinaltugenden: Tugendbeispiele gehen vor
Tugendbegriffen (116). Abraham (117—119), Jakob (120),
Noë (121) leuchtende Vorbilder der Kardinaltugenden.
116. Vielleicht möchte jemand bemerken, das hätte zuerst
gebracht werden sollen. Denn in diesen vier Tugenden
haben die Pflichtgattungen ihren Ursprung[168].
Eine kunstgerechte Abhandlung aber verlangt, daß erst
der Begriff der Pflicht festgesetzt, sodann diese selbst
in bestimmte Gattungen eingeteilt wird. Wir nun
verzichten auf eine kunstgerechte Darstellung und führen
die Beispiele der Altvordern vor, die weder Dunkles für
das Verständnis, noch Kniffigkeiten in der Darstellung
aufweisen. Möge uns denn das Leben der Altväter ein
Spiegelbild des sittlichen Wohlverhaltens sein, nicht
eine Schule der Abgefeimtheit; ein ehrwürdiger
Gegenstand der Nachahmung, nicht kniffiger Streitrede!
117. Der heilige Abraham nun war in erster Linie im
Besitz der Klugheit. Von ihm rühmt die Schrift: „Abraham
glaubte Gott, und es ward ihm zur Gerechtigkeit
angerechnet“[169].
Niemand nämlich kann klug sein, der Gott nicht kennt. So
sprach denn auch der Unweise: „Es gibt keinen Gott“[170];
der Weise nämlich würde nicht so sprechen. Wie wäre denn
der ein Weiser, der nicht nach seinem Schöpfer fragt;
der zum Steine spricht: „Mein Vater bist du“[171];
der wie Manichäus zum Teufel spricht: Mein Schöpfer bist
du? Wie wäre Arius ein Weiser, der statt des wahren und
vollkommenen Schöpfers einen unvollkommenen und
unebenbürtigen haben will? Wie wären Marcion und
Eunomius Weise, die lieber einen bösen als einen guten
Gott haben wollen? Wie wäre der ein Weiser, der seinen
Gott nicht fürchtet? Denn „der Anfang der Weisheit ist
die Furcht des Herrn“[172].
Und an einer anderen Stelle liest man: „Die Weisen
weichen nicht vom Munde des Herrn, sondern betätigen
sich in ihren Bekenntnissen“[173].
Mit der Beteuerung: „es ward ihm zur Gerechtigkeit
angerechnet“[174],
sprach ihm die Schrift zugleich auch den Vorzug der
zweiten (Kardinal-) Tugend zu.
118. Zuerst nun stellten die Unsrigen fest, die Klugheit
beruhe in der Erkenntnis des Wahren[175].
Denn wer von jenen (heidnischen Schriftstellern) lebte
vor Abraham, David, Salomo? Ferner, die Gerechtigkeit
beziehe sich auf das gesellschaftliche Leben des
Menschengeschlechtes. So spricht denn David: „Er hat
ausgeteilt, den Armen gegeben, seine Gerechtigkeit währt
in Ewigkeit“[176];
der Gerechte „erbarmt sich“[177];
der Gerechte „leiht“[178].
Dem Weisen und Gerechten ist die ganze Welt voll
Reichtümer. Der Gerechte besitzt die Allgemeingüter als
sein Eigentum, und sein Eigentum als Gemeingut. Der
Gerechte klagt, bevor er andere anklagt, sich selbst an.
Denn der ist gerecht, der seiner nicht schont und nicht
duldet, daß seine geheimen Sünden verborgen bleiben.
Sieh, wie gerecht war Abraham! Er hatte im hohen Alter
kraft der Verheißung einen Sohn empfangen. Als ihn der
Herr zurückforderte, glaubte er ihn, obgleich es der
einzige Sohn war, nicht als Opfer verweigern zu sollen[179].
119. Sieh hier alle vier Tugenden in der einen Tat! Es
verriet Weisheit, Gott zu glauben und den Liebling nicht
dem Gebote des Schöpfers vorzuziehen. Es verriet
Gerechtigkeit, das Empfangene zurückzuerstatten. Es
verriet Starkmut, dem Verlangen des Herzens durch die
Vernunft zu wehren. Der Vater führte das Opfer, der Sohn
fragte ihn darüber: des Vaters Liebe ward geprüft, nicht
besiegt. Der Sohn wiederholte die Frage: er verwundete
das Vaterherz, verringerte aber dessen Frommsinn nicht.
Dazu kommt noch die vierte Tugend, die Mäßigkeit. Der
Gerechte hielt sowohl das rechte Maß in der Frömmigkeit,
wie Ordnung in deren Betätigung ein. Schon schafft er
das Nötige zum Opfer herbei; schon facht er das Feuer
an; schon bindet er den Sohn; schon zückt er das
Schwert: da ward er denn, weil er diese Ordnung beim
Opfer einhielt, gewürdigt, den Sohn zu behalten.
120. Was gäbe es Weiseres als den heiligen Jakob, der
Gott von Angesicht zu Angesicht schaute und dessen Segen
verdiente?[180]
Was Gerechteres als ihn, der alles, was er erworben
hatte, schenkungsweise mit dem Bruder teilte?[181]
Was Stärkeres als ihn, der mit Gott rang?[182]
Was Maßvolleres als ihn, der im Maßhalten so den Orts-
und Zeitumständen Rechnung trug, daß er die Entehrung
seiner Tochter lieber durch die Ehe bemänteln als rächen
wollte, weil er dafür hielt, daß er, unter den Fremden
lebend, mehr auf deren Liebe bedacht sein müsse, statt
deren Haß sich zuzuziehen.
121. Wie weise war Noë, der die so mächtige Arche
erbaute! Wie gerecht war er, der zum Stammvater aller
aufbewahrt wurde: von allen der einzige Überlebende des
vergangenen Geschlechtes und der Urheber des kommenden,
mehr der Welt und der Allgemeinheit als sich selbst
geboren! Wie stark, daß er die Sintflut überwand! Wie
maßvoll, daß er derselben bei ihrem Eintritt sich fügte!
Welches Maßhalten ferner, als er den Raben, als er die
Taube aussendete; als er sie bei ihrer Wiederkehr
hereinnahm; als er den rechten Augenblick zum Verlassen
(der Arche) merkte und erkannte![183]
XXVI. Kapitel
Von
der Klugheit: Vom Schicklichen in der Erforschung des
Wahren (122). Moses ein leuchtendes Vorbild hierin
(123). Jedem Menschen wohnt der Wahrheitstrieb inne
(124). Wissen ohne entsprechendes Handeln wäre mehr
Ballast (125).
122. In der Erforschung der Wahrheit ist nun, so lehrt
man, als das Schickliche festzuhalten, daß man mit allem
Eifer dem nachforsche, was wahr ist[184]:
nicht Falsches für wahr halte, das Wahre nicht
verdunkle, den Geist nicht mit unnützen oder verworrenen
und ungewissen Problemen beschäftige[185].
Was wäre so ungeziemend als die Verehrung von
Holzklötzen, wie sie eben jene Lehrer betätigen? Was so
dunkel als die astronomischen und geometrischen
Untersuchungen, die sie für gut finden? Als die tiefen
Lufträume zu messen, ferner den Himmel und das Meer in
Zahlen zu schließen[186],
die Sache des Heils hintanzusetzen, der des Irrtums
nachzuhängen?
123. Oder hat nicht Moses, der „in jeglicher Weisheit
der Ägypter bewandert war“[187],
dies alles auf seinen Wert geprüft? Doch er erachtete
jene Weisheit für Nachteil und Torheit, wandte sich von
ihr ab, suchte mit innerlichstem Herzen Gott, schaute
ihn darum, befragte ihn und hörte ihn sprechen[188].
Wer wäre in höherem Grade weise gewesen als er, den Gott
selbst belehrte, und der alle Weisheit der Ägypter und
alle Macht ihrer Künste kraft seines Wirkens zuschanden
machte?[189]
Er hielt Unbekanntes nicht für bekannt und pflichtete
solchem Dafürhalten nicht blindlings bei[190]:
zwei Fehler, welche Leute, die weder Widernatürliches
noch Schändliches darin erblicken, wenn sie Steinblöcke
anbeten und von fühllosen Götzenbildern Hilfe erflehen,
an dieser Stelle, die vom Natürlichen und Schicklichen
handelt, meiden lernen sollten.
124. Je erhabener die Tugend der Weisheit ist, um so
größerer Eifer, wie ich glaube, ist zu ihrer Erlangung
erforderlich. Um uns daher nichts Widernatürliches,
nichts Schändliches und Unziemliches in den Sinn kommen
zu lassen, sollen wir ein Zweifaches, d. i. Zeit und
Fleiß auf die Betrachtung der Dinge verwenden[191],
um sie erproben zu können. Denn es gibt keinen größeren
Vorzug, den der Mensch vor den übrigen lebenden Wesen
voraus hat, als den, daß er vernunftbegabt ist, die
Ursachen der Dinge ergründen kann, dem Urheber seines
Geschlechtes nachforschen zu müssen glaubt, in dessen
Macht die Macht über unser Leben und unseren Tod steht;
der diese Welt mit seinem Wink regiert; dem wir über
unser Handeln, wie wir wissen, Rechenschaft geben
müssen. Nichts fördert nämlich ein sittlichgutes Leben
mehr als der Glaube an einen künftigen Richter, dem das
Verborgene nicht entgeht, den das Schlechte Handeln
beleidigt und das gute erfreut.
125. Allen Menschen nun wohnt schon auf Grund der
menschlichen Natur, die uns zum Streben nach Erkenntnis
und Wissen hinzieht und den Forschungstrieb einsenkt,
der Drang nach Erforschung des Wahren inne. Hierin es
allen zuvortun gilt für schön[192].
Doch das zu erreichen, ist nur wenigen beschieden, die
in ernster Gedankenarbeit, im Wägen und Wagen sich nicht
geringe Mühe geben, um womöglich zu jenem seligen und
tugendhaften Leben zu gelangen und auch im Handeln sich
ihm zu nähern. „Denn nicht wer zu mir spricht ‚Herr,
Herr‘,“ so heißt es, „wird ins Himmelreich eingehen,
sondern wer das tut, was ich sage“[193].
Wissenschaft ohne Handeln danach — ich weiß nicht, ob es
nicht mehr Ballast ist[194].
XXVII. Kapitel
Von
der Klugheit: Sie ist die erste Quelle der Pflicht. Sie
speist die übrigen Kardinaltugenden. Diese schließen
einander ein (126—129).
126. Die erste Quelle der Pflicht ist die Klugheit. Was
verriete denn ein so volles Maß der Pflicht als die
Bezeigung von Eifer und Ehrfurcht gegen den Schöpfer?
Doch leitet sich diese Quelle auch auf die übrigen
Tugenden ab[195].
So ist die Gerechtigkeit ohne die Klugheit undenkbar.
Erfordert es doch nicht geringe Klugheit abzuwägen, was
gerecht oder was ungerecht ist. Der Irrtum in beiden
Fällen wäre unberechenbar groß. Denn „wer Recht für
Unrecht, Unrecht aber für Recht erklärt, ist fluchwürdig
vor Gott. Was frommt die Gerechtigkeit dem
Unverständigen?“ ruft Salomo aus[196].
Aber auch umgekehrt: keine Klugheit ohne die
Gerechtigkeit. Denn die Gottesliebe ist der Anfang der
Verständigkeit. Daraus ersehen wir, daß der Satz, die
Pietät sei das Fundament aller Tugenden, mehr eine
Entlehnung als eigene Erfindung der Weisen dieser Welt
ist.
127. Die Pietät, die auf der Gerechtigkeit beruht,
bezieht sich in erster Linie auf Gott, in zweiter auf
das Vaterland, in dritter auf die Eltern, sodann auch
auf alle anderen[197].
Auch sie folgt nur der Lehrmeisterin Natur. Hängen wir
doch vom ersten Augenblick des Daseins mit der ersten
Regung des Gefühls am Leben als einem Geschenk Gottes,
lieben Vaterland und Eltern, ferner die Altersgenossen,
nach deren Gesellschaft es uns verlangt. Hier nimmt jene
Liebe ihren Ursprung, die anderen den Vorzug vor sich
selbst gibt, indem sie nicht das Ihrige sucht. Gerade
hierin aber liegt der oberste Grundsatz der
Gerechtigkeit.
128. Auch sämtlichen Tieren ist vor allem der Trieb
angeboren, das Leben zu erhalten, das Schädliche zu
meiden, das Nützliche aufzusuchen, wie Futter, wie
Verstecke, um darin vor Gefahr, Regen, Sonnenhitze sich
zu schützen, was Klugheit verrät. Dazu kommt, daß alle
Arten von Tieren von Natur aus gesellig sind, zunächst
gegen ihresgleichen in Art und Gestalt, sodann aber auch
gegen andere. So sehen wir Rinder gern unter Roßherden,
Pferde unter Kleinviehherden, am liebsten aber
Gleichartiges unter Gleichartiges sich mengen, ebenso
Hirsche zu Hirschen und gar oft auch zu Menschen sich
gesellen. Was soll ich noch vom Zeugungstrieb und den
Jungen reden, oder auch von der Gattenliebe, in der die
Norm der Gerechtigkeit besonders deutlich in die
Erscheinung tritt?
129. Es geht nun daraus klar hervor, daß sowohl diese
Tugenden (Klugheit und Gerechtigkeit), wie auch die
übrigen untereinander verwandt sind[198].
Ist doch auch der Starkmut, der teils im Krieg das
Vaterland vor den Barbaren, teils daheim die Schwachen
und Freunde vor Erpressern schützt, voll Gerechtigkeit.
Ebenso verrät das Wissen, wie man planmäßig die
Verteidigung und Hilfe leisten kann, ferner das
Ausfindigmachen des rechten Zeitpunktes und des rechten
Ortes hierzu Klugheit und Maßhalten. Die Mäßigkeit für
sich vermag hingegen ohne die Klugheit dieses Maß nicht
zu erkennen. Die günstige Gelegenheit wahrnehmen und
nach rechtem Maß vergelten, ist Sache der Gerechtigkeit.
Und bei all dem tut Großmut und eine gewisse Stärke des
Geistes, zumeist aber auch des Leibes not, daß einer
sein Wollen auch vollführen kann.
XXVIII. Kapitel
Von
der Gerechtigkeit: Gerechtigkeit und Freigebigkeit die
Grundpfeiler des Gemeinschaftslebens (130). Ablehnung
zweier von der Philosophie angenommenen Funktionen der
Gerechtigkeit (131—132). Die einschlägige stoische Lehre
eine Entlehnung aus der Hl. Schrift (133—134).
Folgerungen aus dem Axiom: der Mensch ist des Menschen
wegen da (135—136). Habsucht und Machtgelüste Feinde der
Gerechtigkeit (137—138).
130. Die Gerechtigkeit bezieht sich auf das
Gesellschafts- und Gemeinschaftsleben des
Menschengeschlechtes. Das Gesellschaftsleben beruht
nämlich auf einem zweifachen Grund, dem der
Gerechtigkeit und dem der Wohltätigkeit, auch
Freigebigkeit und Wohlwollen genannt[199].
Die Gerechtigkeit scheint mir erhabener, die
Freigebigkeit liebenswürdiger zu sein. Erstere hält sich
an Strenge, letztere an Güte.
131. Doch schon die erste Funktion der Gerechtigkeit,
welche die Philosophen dafür halten, bleibt bei uns
ausgeschlossen. Dieselben nennen nämlich als erste Regel
der Gerechtigkeit, „daß man niemand Schaden zufügen
dürfe — außer wenn man durch ein Unrecht dazu gereizt
ist“[200].
Diese Regel wird nämlich kraft des Evangeliums
umgestoßen. Denn die Schrift will in uns den Geist des
Menschensohnes haben, der gekommen ist, um Gnade ergehen
zu lassen, nicht Unrecht zuzufügen[201].
132. Eine weitere Norm der Gerechtigkeit beruht ihrer
Ansicht nach darin, daß man in den allgemeinen, d. i.
öffentlichen Gütern öffentlichen Besitz, in den privaten
Gütern Privatbesitz zu erblicken habe[202].
Auch das entspricht nicht der Natur. Denn die Natur
bringt alle Erzeugnisse zum gemeinsamen Gebrauch für
alle hervor. Denn Gott hieß alle Erzeugnisse zu dem
Zweck sprossen, daß jedermann sich der gemeinsamen
Nahrung erfreuen und die Erde gleichsam der gemeinsame
Besitz aller sein sollte. So schuf also die Natur ein
gemeinsames Besitzrecht für alle; Anmaßung machte daraus
ein Privatrecht. Man rühmt in diesem Punkt den Stoikern
nach, eine Lieblingsauffassung derselben gehe dahin, daß
„alle Erzeugnisse auf Erden zum Gebrauch für die
Menschen geschaffen würden, die Menschen aber der
Menschen wegen geboren seien, um sich gegenseitig nützen
zu können“[203].
133. Woher anders als aus unseren Schriften entlehnten
sie diesen Ausspruch? Schon Moses schrieb nämlich, Gott
habe gesprochen: „Laßt uns den Menschen nach unserem
Bild und nach unserem Gleichnis schaffen! Und er soll
Gewalt haben über die Fische des Meeres und die Vögel
des Himmels und die Tiere und alles, was kriecht auf
Erden!“[204]
Und David ruft aus: „Alles hast Du ihm unter die Füße
gelegt, Schafe und Rinder insgesamt, dazu noch das Vieh
des Feldes, die Vögel des Himmels und die Fische des
Meeres“[205].
So haben sie also die Behauptung, alles sei den Menschen
unterworfen, unseren Autoren entnommen und nehmen eben
darum an, es sei des Menschen wegen hervorgebracht
worden.
134. Auch daß der Mensch des Menschen wegen geboren sei,
finden wir in den Büchern Moses ausgesprochen, worin der
Herr spricht: „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein
ist: laßt uns demselben eine Gehilfin schaffen, die ihm
gleiche!“[206]
Zur Hilfeleistung wurde sonach das Weib dem Manne
gegeben; und sie sollte gebären, daß der Mensch dem
Menschen helfe. So beißt es denn auch von Adam vor der
Bildung des Weibes: „Es fand sich keine Gehilfin, die
ihm ähnlich war“[207].
Der Mensch konnte nämlich nur vom Menschen Hilfe finden.
Unter allen lebenden Wesen gab es nun kein ihm
ähnliches: es fand sich mit einem Wort „keine Gehilfin“
für den Menschen. Zur Hilfeleistung stand sonach das
weibliche Geschlecht zu erwarten.
135. So sollen wir uns denn nach Gottes Willen, oder
schon kraft des natürlichen Bandes, das uns umschlingt,
gegenseitig unterstützen, in Gefälligkeiten wetteifern,
gleichsam alles Nutzbare zur allgemeinen Verfügung
stellen, einer dem anderen, um mit dem Schriftwort zu
reden[208],
helfen, sei es durch Dienstbeflissenheit, sei es durch
Gefälligkeit oder Geld oder Tat oder sonstwie, auf daß
der Segen des Gemeinschaftslebens unter uns sich mehre[209].
Selbst aus Furcht vor Gefahr soll niemand von dieser
Pflicht sich abwendig machen lassen, sondern alles für
sein eigen halten, das Schlimme wie das Gute. So
sträubte sich denn Moses nicht, für sein heimisches Volk
schwere Kämpfe auf sich zu nehmen, zitterte nicht vor
den Waffen des allgewaltigen Königs und bangte nicht vor
der Wildheit seiner unmenschlichen Barbarei, sondern
schlug sein Leben in die Schanze, um seinem Volke die
Freiheit wiederzubringen.
136. Groß ist daher der Glanz der Gerechtigkeit, die,
mehr anderen als sich geboren[210],
unser Gemeinschafts- und Gesellschaflsleben fördert,
ihren erhabenen Beruf wahrt, alles ihrem Urteil
unterwürfig zu erhalten, anderen zu helfen, Geld
darzuleihen, Gefälligkeiten nicht abzuschlagen, fremde
Gefahren auf sich zu nehmen.
137. Wer wünschte nicht diese Tugendfeste zu behaupten,
es müßte denn vor allem die Habsucht die Kraft der so
erhabenen Tugend schwächen und brechen?[211]
Im Verlangen nämlich, das Vermögen zu vermehren, Geld
aufzuhäufen, Ländereien in Besitz zu bekommen, durch
Reichtum zu glänzen, streifen wir die Norm der
Gerechtigkeit ab und verlieren den Sinn für das
gemeinnützige Wohltun. Wie kann denn einer gerecht sein,
der dem Nächsten etwas zu entreißen sucht, was er für
sich begehrt?
138. Auch Machtgelüste entnervt die mannhafte
Gerechtigkeit[212].
Wie kann denn einer für andere eintreten, der sich
andere zu unterjochen sucht? Und wie dem Wehrlosen gegen
Gewalttätige Hilfe leisten, wenn er selbst es mit
schwerer Gewalttat auf dessen Freiheit absieht?
XXIX. Kapitel
Von
der Gerechtigkeit: Sie ist selbst im Kriege erforderlich
(139), um so mehr im Frieden (140). Die antike, der Hl.
Schrift entlehnte Bezeichnung des Feindes als
‚Fremdling‘ gemahnt daran (141). Der Glaube das
Fundament der Gerechtigkeit, Christus das Fundament der
Kirche (142).
139. Was es Großes um die Gerechtigkeit ist, läßt sich
daraus ersehen, daß sie keine Ausnahme kennt, weder in
Bezug auf Ort, noch Person, noch Zeit. Wird sie doch
selbst den Feinden gegenüber geübt[213].
Ist man über Ort und Tag zur Schlacht mit dem Feinde
übereingekommen, gilt es als eine Verletzung der
Gerechtigkeit, ihm örtlich oder zeitlich zuvorzukommen[214].
Es ist nämlich ein Unterschied, ob jemand in der
Schlacht und im schweren Kampf, oder aber infolge eines
überlegenen Vorteils oder aus bösem Zufall in die
Gefangenschaft gerät. Über allzu grimmige Feinde, sowohl
über treubrüchige wie über die Maßen grausame, ergeht
freilich auch eine um so grimmigere Rache[215]:
so über die Madianiten, die durch ihre Weiber gar viele
aus dem Judenvolk zur Sünde verleitet hatten, weshalb
auch Gottes Zorn über das Volk der Väter erging. Und die
Folge davon: Moses ließ niemand von denselben am Leben[216].
Gegen die Gabaoniten hingegen, die mehr durch List als
Krieg das Vätervolk befehdet hatten, führte Jesus
(Josue) keinen Vernichtungskampf, sondern ließ ihnen das
nur in Form einer Auflage fühlen[217].
Die Syrer aber hatte Elisäus, nachdem er sie ob der
Belagerung (Samarias) mit Blindheit geschlagen hatte, so
daß sie nicht sehen konnten, wohin sie den Fuß setzten,
in die Stadt geführt, ließ sie jedoch, obwohl der König
von Israel es wollte, nicht erschlagen, sondern
verlangte: „Die, welche du nicht mit deiner Lanze und
deinem Schwerte gefangen hast, sollst du auch nicht
erschlagen; setze ihnen Brot und Wasser vor, daß sie
essen und trinken, entlassen werden und zu ihrem Herrn
zurückkehren!“[218]
Sie sollten auf diese Menschlichkeit (künftig) ein
friedliches Verhalten an den Tag legen. So standen denn
auch späterhin die syrischen Seeräuber von ihren
Einfällen in das Land Israel ab.
140. Wenn sonach die Gerechtigkeit selbst im Kriege in
Kraft bleibt, wieviel mehr muß sie im Frieden beobachtet
werden! Auch diesen Edelsinn erwies der Prophet denen,
die zu seiner Ergreifung gekommen waren. Denn also lesen
wir: Als der König in Erfahrung gebracht hatte, daß
Elisäus es sei, der allen seinen Planen und Anschlägen
im Weg stehe, hatte er sein Heer ausgesendet, um ihn
rings zu belagern. Da nun der Diener des Propheten,
Giezi, dieses Heer sah, fing er an, für sein Leben zu
fürchten und zu bangen. Doch der Prophet sprach zu ihm:
„Fürchte nicht! Denn mehr sind mit uns als mit jenen.“
Da betete der Prophet, daß seinem Diener die Augen
geöffnet würden, und sie wurden geöffnet. Und es sah nun
Giezi den ganzen Berg voll Rosse und Wagen rings um
Elisäus. Und als jene herabkamen, rief der Prophet aus:
„Der Herr schlage das Heer Syriens mit Blindheit!“ Und
als ihm die Bitte erhört war, sprach er zu den Syrern:
„Kommt mir nach, so will ich euch zu dem Menschen
führen, den ihr sucht!“ Da sahen sie den Elisäus, den
sie ergreifen wollten, aber konnten ihn, obschon sie ihn
sahen, nicht festnehmen[219].
So ist also klar, daß man auch im Kriege Treue und
Gerechtigkeit halten muß, und daß es nicht schicklich
sein kann, wenn man die Treue bricht.
141. Die Alten hatten denn auch für die Feinde eine
schonende Bezeichnung: sie nannten sie die ‚Fremden‘.
Nach altem Brauch nämlich hießen die Feinde ‚Fremde‘[220].
Es ist auch dies, so läßt sich behaupten, gleichfalls
nur eine Entlehnung von unseren Autoren. Die Hebräer
nämlich nannten ihre Gegner die ‚Stammverschiedenen‘
(allophyli)[221],
d. i. nach lateinischer Bezeichnung ‚Ausländer‘
(alienigenae). So lesen wir im ersten Buch der Könige
also: „Und es geschah an jenen Tagen, da sammelten sich
die Ausländer zum Kampf gegen Israel“[222].
142. Das Fundament der Gerechtigkeit ist der Glaube[223].
Denn „der Gerechten Herz sinnt Glauben“[224],
und „der Gerechte, der sich anklagt, stellt die
Gerechtigkeit auf den Glauben“[225].
Dann nämlich tritt seine Gerechtigkeit zutage, wenn er
die Wahrheit bekennt. So spricht denn auch der Herr
durch Isaias: „Sieh, ich lege einen Stein in die
Grundfeste Sions“[226],
d. i. Christus in die Grundfesten der Kirche. Christus
nämlich ist der Glaube aller, die Kirche aber eine
gewisse Form der Gerechtigkeit, das gemeinsame Recht
aller: gemeinsam ist ihr Beten, gemeinsam ihr Wirken,
gemeinsam ihre Prüfung[227].
So ist denn, wer sich selbst verleugnet, gerecht,
Christus würdig. Darum stellte auch Paulus Christus als
das Fundament hin[228],
damit wir auf ihn die Werke der Gerechtigkeit stellen;
denn der Glaube ist das Fundament, in den Werken aber
liegt entweder, falls sie bös sind, Ungerechtigkeit,
oder aber, falls sie gut sind, Gerechtigkeit.
XXX.
Kapitel
Von
der Wohltätigkeit: Ihre Unterabteilungen Wohlwollen und
Freigebigkeit (143), ihre Grundforderungen Gerechtigkeit
(144—145) und Aufrichtigkeit (146), Meidung von
Prahlsucht (147), Berücksichtigung der Umstände.
Dürftige Gläubige (148), Bekannte (149) und Verwandte
sind zunächst zu berücksichtigen (150). Christi Beispiel
und des Paulus Lehre (151). Erklärungen und Anwendungen
von 2 Kor. 8, 9—15 (152—159).
143. Doch laßt uns jetzt von der Wohltätigkeit sprechen![229]
Sie zerfällt in Wohlwollen und Freigebigkeit[230].
Aus diesen beiden besteht sonach die Wohltätigkeit, soll
sie vollkommen sein. Wohlwollen allein genügt nicht,
sondern auch Wohltun ist erforderlich. Umgekehrt genügt
auch Wohltun nicht, wenn es nicht aus einer guten
Quelle, d. i. aus Gutwilligkeit hervorgeht; „denn den
freudigen Geber liebt Gott“[231].
Tust du es nämlich unwillig, was wäre dein Lohn? Daher
des Apostels allgemein gültiges Wort: „Tue ich das
willig, habe ich Lohn; wenn unwillig, ist's nur die
Amtsverwallung, die mir anvertraut ist“[232].
Auch im Evangelium haben wir viele Anleitungen über die
rechte Freigebigkeit.
144. Edel ist Wohlwollen und Geben in der Absicht zu
nützen, nicht zu schaden[233].
Denn glaubte man einem Schlemmer zu ausgelassener
Schlemmerei, einem Ehebrecher zu gewerbsmäßigem Ehebruch
geben zu sollen, so ist das nicht Wohltun, weil hier
jedes Wohlwollen fehlt. Das heißt nämlich dem Nächsten
schaden, nicht nützen, wolltest du einem geben, der
damit Anschläge wider das Vaterland macht; der auf deine
Kosten eine liederliche Gesellschaft um sich zu sammeln
wünscht; der die Kirche bekämpft. Das ist keine zu
billigende Freigebigkeit, wollte man einen unterstützen,
der damit wider eine Witwe und deren Waisen einen
schweren Entscheidungsprozeß anstrengt, oder ihnen
irgendwie mit Gewalt Hab und Gut zu entreißen sucht.
145. Die Freigebigkeit verdient keine Billigung, wenn
man das, was man dem einen gibt, dem anderen abpreßt;
wenn man es ungerecht erwirbt und gerecht austeilen zu
sollen glaubt[234]:
es sei denn, daß man gleich jenem Zachäus[235]
einem, den man betrogen, erst vierfach wiedererstatten
und die heidnischen Laster durch Glaubenseifer und durch
gläubiges Wirken gutmachen wollte. So soll denn deine
Freigebigkeit auf einem festen Fundamente ruhen.
146. Die erste Forderung lautet: Aufrichtigkeit beim
Geben, kein Trug beim Spenden, Man verspreche nicht,
mehr geben zu wollen, und gebe nicht weniger. Wozu
braucht es denn der Worte? Es wäre ein trügerisches
Versprechen. Du hast es in der Gewalt zu geben, was du
willst. Der Trug untergräbt das Fundament, und das Werk
stürzt ein. War es etwa nur aufbrausender Unwille bei
Petrus, daß er den Ananias und sein Weib tot wissen
wollte?[236]
Er wollte vielmehr durch ihr Beispiel die übrigen vor
dem Untergang bewahren.
147. Auch das wäre nicht die vollkommene Freigebigkeit,
wenn du mehr aus Prahlerei denn aus Barmherzigkeit geben
würdest[237].
Deine Gesinnung gibt deinem Werk den verdienten Namen:
nach dir bestimmt sich dessen Wert. Du siehst, welchen
Sittenrichter du hast. Dich selbst zieht er zu Rat, wie
er dein Werk aufnehmen soll; deinen Geist befragt er
allererst. „Deine Linke“, heißt es, „soll nicht wissen,
was deine Rechte tut“[238].
Nicht deinen Leib meint er, sondern (er meint): selbst
der Vertraute, der eines Sinnes mit dir ist, dein
Bruder, soll nicht wissen, was du tust, damit du nicht
im diesseitigen Streben nach des Ruhmes Lohn im Jenseits
die Frucht der Vergeltung verlierest. Vollkommen aber
ist die Freigebigkeit, wenn einer sein Werk in Schweigen
hüllt und den Nöten der einzelnen insgeheim zu Hilfe
kommt; wenn einen der Mund des Armen, nicht die eigenen
Lippen loben.
148. Ferner muß Glaube, Beweggrund, Ort und Zeit die
vollkommene Freigebigkeit empfehlen[239].
Zunächst soll man sich um seine Glaubensgenossen
bemühen. Eine große Schuld wäre es, wenn ein Gläubiger
darben würde und du wüßtest davon; du wüßtest: er ist
ohne Lebensunterhalt, hungert, leidet Not, zumal wenn er
ein verschämter Armer wäre; wenn er, sei es wegen der
Gefangensetzung von Angehörigen, sei es wegen
Verleumdung in einen Prozeß geriete, und du griffest
nicht helfend ein; wenn ein Gerechter im Kerker
schmachtete und wegen einer Schuldforderung Strafen und
Qualen erlitte — obschon man nämlich jedermann Mitleid
schuldet, so doch am meisten dem Gerechten[240]
—;
wenn er in der Stunde der Not nichts von dir erlangte;
wenn in der Stunde der Gefahr, da man ihn zur
Hinrichtung schleppen will, dein Geld bei dir mehr gälte
als das Leben eines Sterbenden. Darauf bezieht sich Jobs
schöner Wunsch: „Der Segen des im Tode Untergehenden
komme über mich!“[241]
149. Wohl gibt es bei Gott kein Ansehen der Person, weil
er allwissend ist. Wir aber schulden zwar allen
Barmherzigkeit; doch weil so manche dieselbe trügerisch
zu erschleichen suchen und Not vorspiegeln, darum soll
gerade dort, wo der Fall klar, die Person bekannt ist
und die Zeit drängt, die Barmherzigkeit am reichlichsten
fließen. Denn der Herr ist nicht habsüchtig, daß er
übermäßig viel verlangte. Selig zwar, wer alles weggibt
und ihm nachfolgt! Aber auch der ist selig, der gern
hingibt, was er hat. So schlug denn der Herr die zwei
Heller der Witwe höher an als die Spenden der Reichen;
denn jene spendete alles, was sie hatte, diese spendeten
nur einen Teil von ihrem Überflüsse[242].
Die Gesinnung bestimmt sonach das Reichliche oder
Dürftige der Gabe und gibt den Dingen den Wert. Übrigens
will der Herr nicht, daß man sein Vermögen mit einem Mal
verschwende, sondern nur, daß man davon mitteile: es
müßte denn einer ein Elisäus sein, der seine Opfer
schlachtete und von seiner Habe die Armen speiste, um
durch keinerlei häusliche Sorge mehr gebunden zu sein,
sondern alles zu verlassen und der Schule des Propheten
(Elias) sich hinzugeben[243].
150. Zu billigen ist auch die Freigebigkeit, daß man
nicht von seinen Blutsverwandten, wenn man von deren Not
erfährt, verächtlich den Blick wegwendet[244].
Besser ist es, daß du selbst den Deinigen zu Hilfe
kommst, wenn sie sich schämen, von anderen ihren
Unterhalt zu erbitten oder im Notfall um Unterstützung
zu betteln. Freilich sollen sie sich mit dem nicht
bereichern wollen, was du für die Armen erübrigst; denn
die Sache, nicht Gunst entscheidet. Nicht deshalb hast
du dich dem Herrn geweiht, um die Deinigen zu
bereichern, sondern um dir als Frucht des guten Wirkens
das ewige Leben zu erwerben und um den Preis der
Barmherzigkeit deine Sünden loszukaufen. Glauben sie
etwa so wenig zu fordern? Dein Lösegeld verlangen sie,
deines Lebens Frucht trachten sie zu nehmen und meinen,
sie täten recht daran. Und wenn du einen nicht
bereicherst, so beklagt er sich darüber, da er dich doch
um den Lohn des ewigen Lebens betrügen möchte.
151. Den Rat haben wir vorgetragen: sehen wir uns um die
Begründung um! Fürs erste darf niemand sich schämen,
wenn er wegen seiner Spenden an den Armen selbst aus
einem Reichen ein Armer wird; denn auch Christus ist, da
er reich war, arm geworden, um alle durch seine Armut
reich zu machen[245].
Er gab die Norm, die wir befolgen sollen, damit unsere
Entäußerung von Vermögen ihren guten Grund habe: Wer den
Hunger der Armen stillt, hat ihrer Not gesteuert. Darum
„gebe ich euch auch hierin einen Rat“, versichert der
Apostel, „denn das nützt euch“ zur Nachahmung Christi[246].
Rat gibt man den Guten, die Irrenden bessert Tadel. Als
Gute versichert er sie denn: „Ihr habt nicht bloß mit
dem Tun, sondern auch mit dem Wollen seit dem
verflossenen Jahre den Anfang gemacht“[247].
Beides, nicht nur eines davon ist den Vollkommenen
eigen. Deshalb seine Unterweisung, daß sowohl
Freigebigkeit ohne Wohlwollen, als auch Wohlwollen ohne
Freigebigkeit nichts Vollkommenes sei. Daher seine
Mahnung zur Vollkommenheit mit den Worten: ,,Jetzt führt
aber auch das Tun zu Ende, damit der Bereitschaft zum
Tun in euch auch das Vollbringen entspreche nach Maßgabe
dessen, was ihr habt! Denn wenn die Bereitwilligkeit
vorhanden ist, ist sie genehm nach dem, was sie hat,
nicht nach dem, was sie nicht hat. Denn ihr sollt nicht
Not leiden, damit andere sich erquicken, sondern
maßgebend sei die Gleichheit. Bei dieser Gelegenheit
soll euer Überfluß für die Not jener dienlich sein,
damit (ein andermal) der Überfluß jener für eure Not
dienlich sei, auf daß Gleichheit herrsche, wie
geschrieben steht: ‚Wer viel hatte, hatte nicht
Überfluß, und wer wenig, hatte nicht Mangel‘[248].“
152. Wir sehen, wie er sowohl das Wohlwollen als auch
die Freigebigkeit, deren Maß und Frucht, sowie die
Personen ins Auge faßt. Das Maß deshalb, weil er
Unvollkommenen den Rat erteilte; denn nur Unvollkommene
leiden Not. Doch wenn ein Angestellter im Priester- oder
Dieneramte der Kirche nicht zur Last fallen möchte und
darum nicht alles, was er hat, weggibt, sondern in Ehren
soviel leistet, als für seine Stellung genügt, ist er
meines Erachtens kein Unvollkommener. Und ich glaube,
daß der Apostel an unserer Stelle auch nicht von der
Engherzigkeit, sondern vom knappen häuslichen Vermögen
redete.
153. Auf die Personen aber bezieht sich nach meinem
Dafürhalten sein Ausspruch: „Euer Überfluß diene für die
Not jener, und der Überfluß jener für eure Not“, d. i.
des Volkes Überfluß habe die gute Wirkung, daß dem
Mangel an Lebensmitteln unter jenen (Kirchendienern)
gesteuert werde; und der geistige Überfluß der letzteren
komme dem geistigen Verdienstmangel unter dem Volke
zugute und verschaffe ihm Gnade.
154. Als bestes Beispiel führt er darum an: „Wer viel
hatte, hatte nicht Überfluß, und wer wenig, hatte nicht
Mangel.“ Trefflich mahnt dieses Beispiel jedermann an
die Pflicht der Barmherzigkeit. Denn auch wer eine Menge
Gold hat, besitzt keinen Überfluß; denn ein Nichts ist
alles in dieser Welt. Und wer wenig hat, dem mangelt
nichts; denn ein Nichts ist, wessen er entratet. Eine
Sache, die lauter Verlust ist, kann keinen Verlust
erleiden.
155. Auch so ergibt sich ein guter Sinn: Wenn einer, der
sehr wohlhabend ist, auch nichts gibt, lebt er nicht in
Überfluß; denn er mag noch soviel erwerben, er darbt
stets, weil er noch mehr begehrt. Und wer wenig besitzt,
dem mangelt nichts; denn nicht viel bedarf es, um den
Armen zu nähren. Ebenso hat darum auch jener Arme, der
geistliche Güter statt Geld mitteilt, keinen Überfluß,
mag er über noch so viele Gnade verfügen; denn die Gnade
beschwert den Geist nicht, sondern erhebt ihn.
156. Doch auch so kann man es verstehen: Du hast keinen
Überfluß, o Mensch. Wieviel ist es denn, was du
empfangen, selbst wenn es für dich viel wäre? Niemand
war unter den von Weibern Geborenen größer als Johannes,
und doch war er kleiner als der Kleinste im Himmelreiche[249].
157. Auch folgende Erklärung ist möglich: Gottes Gnade
ist nicht materiell in Überfluß vorhanden, weil sie
geistig ist. Wer könnte ihre Größe oder Breite gewahren[250],
nachdem sie unsichtbar ist? Der Glaube, selbst wenn er
nur einem Senfkorn gliche, kann Berge versetzen[251].
Und mehr wie ein Senfkorn wird dir nicht gegeben.
Würdest du überreich mit Gnade bedacht werden, stünde
nicht zu befürchten, es möchte dein Geist ob des so
großen Geschenkes sich zu überheben anfangen? Es gibt ja
viele, die aus der Höhe (Hochmut) ihres Herzens einen
schwereren Sturz erlitten, als wenn sie Gottes Gnade
überhaupt nicht besessen hätten. Und hat man weniger,
liegt darin keine Einbuße, weil es sich nicht um etwas
physisch Teilbares handelt. Und dünkt es auch den
Besitzenden wenig, es ist sehr viel, weil ihm nichts
abgeht.
158. Beim Spenden soll man ferner das Alter und die
Gebrechlichkeit ins Auge fassen, mitunter auch die
Würde, welche die vornehme Geburt verrät[252].
Alte Personen, die sich durch Arbeit den Lebensunterhalt
nicht mehr verdienen können, wird man also reichlicher
beschenken. Ebenso ist die leibliche Gebrechlichkeit
(ins Auge zu fassen): auch sie soll bereitwilliger
unterstützt werden; desgleichen einer, der von Reichtum
in Armut gefallen ist, namentlich wenn er nicht durch
eigenes Verschulden, sondern durch Erpressungen oder
durch Ächtung oder durch falsche Anklagen seine Habe
verloren hat.
159. Doch vielleicht möchte einer sagen: Ein Blinder
sitzt an der gleichen Stelle, und man geht an ihm
vorüber; ein kräftiger junger Mensch dagegen bekommt
häufig etwas. Ja es ist wahr, weil er es durch seine
Aufdringlichkeit ergattert. Nicht aus Überlegung,
sondern aus Überdruß erklärt sich das. Sagt ja auch der
Herr im Evangelium von jenem, der seine Türe bereits
verschlossen hatte, daß er, wenn jemand allzu ungestüm
an seine Türe klopft, aufsteht und demselben wegen
seiner Aufdringlichkeit gibt[253].
XXXI. Kapitel
Von
der Wiedererstattung des Guten: Sie ist Pflicht und mißt
nicht mit gleichem, sondern mit reichlicherem Maße (160)
nach dem Vorgang der Natur (161), der Gastregel Salomos,
der Verheißung Christi (162—164).
160. Schön ist's sodann, vorzugsweise den zu
berücksichtigen, der dir, sei es eine Wohltat erwiesen,
sei es ein Geschenk gemacht hat, falls er selbst in Not
geraten ist[254].
Was wäre auch so pflichtwidrig, als Empfangenes nicht zu
vergelten? Und nicht mit gleichem, sondern mit
reichlicherem Maß, glaube ich, sollte man vergelten[255]
und hierbei den praktischen Wert einer Wohltat ins Auge
fassen, um auch seinerseits soweit zu helfen, daß man
der traurigen Lage des Dürftigen abhilft. In der
Gegenleistung die Leistung einer Wohltat nicht
überbieten, heißt weniger leisten; denn wer zuerst gibt,
hat zeitlich den Vorsprung voraus, in der
Menschenfreundlichkeit den ersten Schritt getan.
161. Wir sollen daher auch in diesem Punkt die
natürliche Gepflogenheit der Erde nachahmen, die den
aufgenommenen Samen in der Regel vielfältiger
zurückerstattet, als sie ihn empfängt[256].
Dir gilt sonach das Schriftwort: „Wie ein Saatfeld ist
der törichte Mensch und wie eine Weinpflanzung der
Geistesarme: läßt man ihn brach liegen, wird er veröden“[257].
Wie ein Saatfeld ist auch der Weise: er legt sich
gleichsam den aufgenommenen Samen auf Zinsen an und
stattet ihn in größerem Maß zurück. Die Erde nun bringt
entweder von selbst ihre Früchte hervor oder erstattet
und gibt sie, wenn sie ihr anvertraut wurden, in
reichlicherer Fülle wieder. Beides schuldest du
gleichsam nach dem von der Mutter (Erde) ererbten
Brauch, um nicht brach zu bleiben gleich einem
unfruchtbaren Acker. Doch gesetzt den Fall, ein
Nichtgeben lasse sich entschuldigen: wie ließe sich ein
Nichtwiedererstatten entschuldigen? Ein Nichtgeben geht
schwerlich, ein Nichtwiedererstatten aber gar nicht an.
162. Daher Salomos schöner Ausspruch: „Sitzst du bei
einem Mächtigen zu Tische, achte weise darauf, was dir
vorgesetzt wird, und strecke deine Hand aus im
Bewußtsein, daß auch du solches zubereiten mußt. Bist du
aber ein Nimmersatt, laß dich's nicht nach seinen Bissen
gelüsten; denn sie enthalten fälschlich Leben“[258].
Diese Gedanken schrieben wir nieder im Verlangen, sie
nachzuahmen. Gnade erweisen ist gut; ganz verhärtet aber
müßte jener sein, der sie nicht zu erwidern wüßte.
Selbst die Erde legt das Beispiel der
Menschenfreundlichkeit nahe. Sie spendet von selbst
Früchte, die man nicht säte; sie gibt ferner das
Empfangene in vielfältiger Frucht wieder. Geld, das man
dir vorzählte, darfst du nicht ableugnen: wie dürftest
du eine empfangene Gefälligkeit unerwidert lassen? Auch
unter den Sprüchen findest du, daß diese
Wiedererstattung einer Gefälligkeit bei Gott gar viel zu
gelten pflegt, so daß sie selbst am Tage des (Welt-)
Unterganges, da die Sünden das Übergewicht bekommen
könnten[259],
Gnade findet[260].
Und was soll ich noch andere Beispiele anziehen, da der
Herr selbst den Verdiensten der Heiligen im Evangelium
überreichliche Vergeltung verheißt und zum guten Wirken
mit den Worten auffordert: „Vergebt, und es wird euch
vergeben werden! Gebt, und es wird euch gegeben werden!
Ein gutes, gerütteltes, überfließendes Maß wird man euch
in den Schoß geben“[261].
163. So besteht auch jenes Gastmahl Salomos nicht aus
Speisen, sondern aus guten Werken. Woran laben sich denn
die Seelen besser als an den guten Werken? Oder was
anders könnte den Geist der Gerechten so leicht sättigen
als das Bewußtsein des guten Handelns? Welch köstlichere
Speise aber gäbe es, als den Willen Gottes zu tun? Diese
Speise allein hatte der Herr in Überfluß, wie er
beteuerte. So steht im Evangelium geschrieben: „Meine
Speise ist es, den Willen meines Vaters zu tun, der im
Himmel ist“[262].
164. Erfreuen wir uns an jener Speise, welche der
Prophet im Auge hatte mit der Aufforderung: „Freue dich
im Herrn!“[263]
An jener Speise erquicken sich jene, welche mit
bewunderungswürdigem Geiste höhere Freuden erfassen
lernten; welche zu verstehen vermögen, welcher Art jene
reine und unsichtbare geistige Freude ist. Laßt uns denn
die Brote der Weisheit essen und uns sättigen am Worte
Gottes! Denn nicht im Brote allein, sondern in jeglichem
Worte Gottes ruht das Leben des Menschen[264],
der nach dem Bilde Gottes geschaffen ist[265].
Über den Trank aber äußert sich mit hinlänglicher
Deutlichkeit Job: „Wie die Erde, wenn sie auf den Regen
wartet, so (warten) auch diese auf meine Worte“[266].
XXXII. Kapitel
Vom
Wohlwollen: Salomos Gastmahl die Hl. Schrift (165).
Wohlwollen die reichlichste, oft einzige Gegengabe
(166), die Sonne im menschlichen Verkehr (167).
Schuldnachlaß ein Akt besonderen Wohlwollens (168). Die
Familie, bezw. das Paradies der Ausgangspunkt des
Wohlwollens in der menschlichen Gesellschaft (169).
165. Schön ist's, wenn die Sprache der göttlichen
Schrift uns träufelt und Gottes Wort wie Tau auf uns
niedersteigt. Sitzt du nun bei jenem Mächtigen zu Tische[267],
so bedenke, wer jener Mächtige ist, und erwäge im
Paradies der Lust und beim Mahl der Weisheit, was dir
vorgesetzt ist! Die göttliche Schrift ist das Mahl der
Weisheit, die verschiedenen Bücher derselben die
verschiedenen Gerichte. Beachte erst, was die Gerichte
an Speisen bieten, und dann strecke die Hand danach aus!
Und was du liest, oder vielmehr vom Herrn deinem Gott
empfängst, sollst du ins Werk setzen und die dir
gewordene Gnade in deinen Amtsverrichtungen zeigen,
gleich Petrus und Paulus, die durch die Verkündigung des
Evangeliums dem, der ihnen das Amt verliehen hatte, eine
Art Gegenleistung erstatteten, so daß jeder sprechen
konnte: „Durch die Gnade Gottes aber bin ich, was ich
bin, und seine Gnade war nicht kümmerlich in mir,
sondern ich habe reichlicher denn alle gearbeitet“[268].
166. Der eine nun zahlt die empfangene Wohltat, die er
genossen, zurück: so Gold mit Gold, Silber mit Silber;
ein anderer erstattet hierfür Arbeit, ein anderer
vielleicht noch reichlicher nur allein Wohlwollen. Denn
wie, wenn zur Gegenleistung keine Möglichkeit besteht?
Bei der Wiedererstattung einer Wohltat leistet die
Gesinnung mehr als das Vermögen, und wiegt das
Wohlwollen schwerer als die Möglichkeit einer Gegengabe.
Man erstattet eben den Dank mit dem, was man hat. Etwas
Großes ist es sonach um das Wohlwollen, das, selbst wenn
es nichts gibt, gar reichlich spendet und, obschon es
ohne allen Vermögensbesitz ist, an gar viele austeilt.
Und das tut es ohne die geringste eigene Einbuße, zum
Vorteile aller. Es gebührt sonach dem Wohlwollen der
Vorzug selbst vor der Freigebigkeit. Es ist an
sittlichem Gehalt reicher, als letztere an Gaben; denn
derer, die des Wohltuns bedürfen, sind mehr als derer,
die Überfluß haben.
167. Das Wohlwollen aber ist mit der Freigebigkeit
verbunden: von ihm nimmt die Freigebigkeit selbst ihren
Ausgang, indem das freigebige Handeln der freigebigen
Gesinnung folgt. Es ist aber auch davon getrennt und
geschieden: wenn die Freigebigkeit aufhört, dauert das
Wohlwollen fort, gleichsam der väterliche Gönner aller,
der Freundschaft knüpft und bindet, verlässig im Rat,
heiter im Glück, traurig in trüben Stunden, so daß jeder
dem Rate eines Wohlwollenden sich noch lieber fügt als
dem eines Weisen, wie David, obschon der Klügere,
gleichwohl den Ratschlägen des jüngeren Jonathas folgte[269].
Nimm das Wohlwollen aus dem menschlichen Verkehr, und es
wird sein, als hättest du die Sonne aus der Welt
genommen. Ohne dasselbe ist ja ein menschlicher Verkehr
undenkbar, daß man beispielsweise einem Fremden den Weg
zeigt, einen Irrenden zurückruft, einem Gastfreundschaft
erweist — keine geringe Tugend, der sich Job mit den
Worten rühmte: „Draußen aber wohnte kein Fremder, meine
Türe stand jedem Ankömmling offen“[270]
—,
einem Wasser vom quellenden Wasser reicht, Licht von
seinem Licht anzündet. So erweist sich denn das
Wohlwollen hierin allen als ein Wasserquell, der den
Durstenden laben, als ein Licht, das auch in anderen
leuchten soll, ohne dem zu mangeln, der von seinem
Lichte dem anderen das Licht anzündete[271].
168. Auch das ist wohlwollende Freigebigkeit, daß man
einen Schuldschein, den man etwa besitzt, zerreißt und
zurückstellt, ohne vom Schuldner einen Pfennig von der
Schuldsumme bekommen zu haben. Daß wir das tun sollen,
dazu mahnt uns der heilige Job durch sein eigenes
Beispiel[272].
Wer nämlich hat, borgt nicht; wer nicht hat, löscht den
Schuldschein nicht. Wie nun? Wenn du auch selbst nicht
habgierig auf dessen Einlösung bestehst, hebst du ihn
den übelwollenden Erben auf, während du ihn doch deiner
wohlwollenden Gesinnung zum Lob ohne Geldeinbuße
zurückstellen könntest.
169. Und um die Besprechung noch zu vervollständigen, so
nahm das Wohlwollen seinen ersten Ausgang von den
Familienangehörigen, d. i. den Kindern, Eltern und
Geschwistern, nahm dann allmählich auf Grund enger
Beziehungen den Weg in den Bereich der Gemeinwesen[273]
und erfüllte, vom Paradiese stammend, die Welt. So
sprach denn auch Gott, als er in Mann und Weib die
Gesinnung des Wohlwollens gelegt hatte: „Sie werden
beide in einem Fleische“[274]
und in einem Geiste sein. Darum gerade glaubte Eva der
Schlange, weil sie, die das Wohlwollen empfangen hatte,
kein Übelwollen argwöhnte.
XXXIII. Kapitel
Vom
Wohlwollen: Dessen Zuwachs in der Kirche (170), sowie
durch gleiche Tugendbestrebungen und Charakteranlagen
(171). Gerechtigkeit und Starkmut mit dem Wohlwollen
verbunden (172).
170. Einen Zuwachs erfährt das Wohlwollen durch die
Kirchengemeinschaft, durch den gemeinsamen Glauben, das
einigende Band der Taufe, die innige Beziehung auf Grund
des Gnadenempfanges, die Teilnahme an den Geheimnissen.
Diese Dinge begründen ja sogar den Anspruch auf Namen,
die eine Verwandtschaft bezeichnen, auf ‚kindliche‘
Ehrfurcht, ‚väterliche‘ Autorität und Liebe,
‚brüderliche‘ Gesinnung. Gar viel trägt sonach die aus
der Gnade entspringende Verwandtschaft zur Mehrung des
Wohlwollens bei.
171. Eine Förderung bedingen auch die gleichen
Tugendbestrebungen. Schafft doch das Wohlwollen auch
eine Ähnlichkeit im sittlichen Verhalten. So ahmte der
Königssohn Jonathas Davids Sanftmut nach, weil er ihn
liebte[275].
Daher ist auch der Ausspruch: „Mit dem Heiligen wirst du
heilig sein“[276],
wie es scheint, nicht bloß auf den Umgang, sondern auch
auf das Wohlwollen zu beziehen. Denn auch die Söhne Noës
wohnten zusammen, und doch bestand keine
Gleichförmigkeit des sittlichen Verhaltens unter ihnen[277].
Ebenso wohnten Esau und Jakob im Hause des Vaters, waren
aber ungleiches Sinnes[278].
Denn es herrschte unter ihnen nicht das Wohlwollen, das
dem anderen den Vorzug vor sich eingeräumt hätte,
sondern vielmehr Eifersucht, die den (Vater-) Segen
vorwegnahm[279].
Da nämlich der eine sehr widerhaarig, der andere sanft
war, so konnte bei den ungleichen Charakteranlagen und
dem entgegengesetzten Interesse von Wohlwollen nicht die
Rede sein. Nimm hinzu, daß der heilige Jakob den
entarteten Sprossen des Vaterhauses der Tugend nicht
vorziehen konnte.
172. Nichts aber steht in so innigem Bunde als die
Gerechtigkeit mit der Billigkeit. Gleichsam Gefährtin
und Genossin des Wohlwollens, bewirkt dieselbe, daß wir
gerade jene lieben, welche wir für unseresgleichen
halten. Aber auch Starkmut trägt das Wohlwollen in sich.
Da nämlich die Freundschaft aus der Quelle des
Wohlwollens entspringt, trägt sie kein Bedenken, für den
Freund schwere Lebensgefahren auf sich zu nehmen. „Und
sollte mir Schlimmes durch ihn widerfahren“, spricht
sie, „ich nehme es auf mich“[280].
XXXIV. Kapitel
Vom
Wohlwollen: Weitere Früchte des Wohlwollens (173).
Abschließende Urteile hierüber (174).
173. Wohlwollen pflegt selbst dem Zorn das Schwert zu
entwinden. Wohlwollen macht, daß des Freundes Wunden
nützlicher sind als freiwillig gebotene Feindesküsse[281].
Wohlwollen macht, daß aus mehreren einer wird; denn sind
mehrere Freunde, werden sie eins[282],
indem ein Geist, eine Auffassung sie beseelt. Zugleich
gewahren wir, daß selbst Zurechtweisungen bei der
Freundschaft willkommen sind[283].
Sie haben ihren Stachel, schmerzen aber nicht. Wohl
treffen nämlich die Strafreden unser Herz, doch das
besorgte Wohlwollen erfreut uns.
174. Alles in allem: Man schuldet nicht immer allen die
gleichen Dienste. Und nicht die Personen sind stets in
erster Linie zu berücksichtigen, sondern gar manchmal
die Umstände und die Zeit, so daß man mitunter lieber
dem Nachbar als dem Bruder helfen soll[284].
Auch Salomo beteuert nämlich: „Besser ein Nachbar in
nächster Nähe als ein Bruder, der in der Ferne wohnt“[285].
Eben darum vertraut einer oft lieber einem wohlwollenden
Freunde als einem blutsverwandten Bruder. Soviel vermag
Wohlwollen, daß es vielfach über Lieblinge, die uns von
Natur verbunden sind, den Sieg davonträgt.
XXXV. Kapitel
Vom
Starkmut: Einteilung und Vorzüglichkeit desselben (175).
Die kriegerische Tapferkeit bedarf notwendig der
Gerechtigkeit (176) und Klugheit zu Begleiterinnen
(177). Nicht weniger als im Kriege bewährt sich der
Starkmut im Glaubenskampf und Martyrium (178).
175. Einläßlich genug haben wir dort, wo wir von der
Gerechtigkeit handelten, Wesen und Bedeutung des
Sittlichguten besprochen. Jetzt wollen wir von der
Tapferkeit handeln[286].
Als hätte sie etwas vor den übrigen Tugenden voraus,
zerfällt sie in die kriegerische und heimische
Tapferkeit[287].
Freilich scheint das Interesse an den
Kriegsangelegenheiten unserem Dienst bereits
fernzuliegen; denn mehr auf einen geistigen als
physischen Dienst ist unser Sinnen und Trachten
gerichtet, und nicht dem Waffenhandwerk, sondern der
Friedenssache gilt unser Handel und Wandel. Dagegen
ernteten unsere Altvordern, wie Jesus Nave (Josue),
Jeroboal (Gedeon), Samson, David auch im Krieg den
höchsten Ruhm.
176. Die Tapferkeit ist sonach eine Tugend,
gewissermaßen über die anderen erhaben, doch nimmer ohne
deren Begleitung. Denn sie darf sich selbst nicht
trauen. Andernfalls ist die Tapferkeit ohne die
Gerechtigkeit nur ein Hebel zum Bösen. Denn je stärker
sie ist, um so mehr neigt sie zur Unterdrückung des
Schwächeren[288].
Und doch hält man dafür, daß auch in Sachen des Krieges
darauf zu achten ist, ob Kriege gerecht oder ungerecht
sind.
177. Nie führte David einen Krieg, ohne dazu gereizt zu
sein. Daher hatte er die Klugheit zur Begleiterin der
Tapferkeit in der Schlacht. Selbst da er wider Goliath,
einen Unmenschen an Leibesgröße, zum Einzelkampf sich
anschickte, wies er die Waffen zurück, die ihn
beschwerten[289];
denn die Manneskraft stützt sich lieber auf den eigenen
Arm als auf fremde Deckung. Sodann streckte er den Feind
mit einem Steinwurf aus größerer Entfernung, um ihn
wuchtiger zu treffen, nieder. Auch später fing er nie
einen Krieg an, ohne den Herrn zu Rate gezogen zu haben[290].
Deshalb ging er aus allen Schlachten als Sieger hervor.
Die Hand bis ins höchste Greisenalter am Schwerte,
mischte er sich in Kriege wider die Titanen als Kämpfer
unter die wilden Heerscharen, voll Verlangen nach Ruhm,
unbekümmert um sein Leben[291].
178. Doch nicht das allein nur ist ruhmvolle Tapferkeit:
uns gilt vielmehr auch die Tapferkeit jener Gläubigen
für herrlich, die kraft des Glaubens durch ihre
Seelengröße „der Löwen Rachen verschlossen, die Gewalt
des Feuers auslöschten, der Schärfe des Schwertes
entrannen, aus Schwachen zu Helden erstarkten“[292];
die nicht, von Gefolgschaft und Legionen umgeben, im
Verein mit vielen anderen den gemeinsamen Sieg, sondern
allein durch ihre bloße Seelenkraft den Triumph über die
Ruchlosen davontrugen. Wie unbesieglich war Daniel, der
vor den Löwen, die zu seinen Seiten brüllten, nicht
zitterte! Die Bestien knirschten — und er aß[293].
XXXVI. Kapitel
Vom
Starkmut: Der seelische Starkmut (179). Seine Norm
entlehnten die Profanschriftsteller aus der Hl. Schrift
(180). Wahre Tapferkeit bezwingt sich selbst (181). Die
zwei Wirkungen des seelischen Starkmutes (182). Des hl.
Paulus Mahnung und Beispiel für die Gläubigen im
allgemeinen (183), für die Kirchendiener im besonderen
(184). Folgerungen für den Streiter Gottes (185).
179. Ruhmvolle Tapferkeit beruht nicht bloß in der
Körperkraft und den Armmuskeln, sondern mehr noch in der
Kraft der Seele[294].
Und das Gesetz für diese Kraft lautet: nicht Unrecht
tun, sondern ihm wehren[295].
Denn wer nicht von seinem Mitmenschen Unrecht abwehrt,
wenn er kann, ist ebenso schuldbar wie jener, der es
begeht[296].
Daher machte der heilige Moses gerade damit den ersten
Anfang, um sich für kriegerische Tapferkeit zu schulen.
Als er nämlich einen Hebräer von Seiten eines Ägypters
Unrecht leiden sah, verteidigte er ihn in der Weise, daß
er den Ägypter niederstreckte und im Sande verscharrte[297].
Ebenso mahnt Salomo: „Errette den, der zum Tode geführt
wird!“[298]
180. Es liegt also hinlänglich zutage, woraus Tullius,
oder auch Panätius, oder selbst Aristoteles diese
Anschauung entlehnt haben. Übrigens hat auch Job, der
älter als diese beiden ist, den Ausspruch getan: ,,Ich
rettete den Armen aus der Hand des Mächtigen und half
der Waisen, die keinen Beistand hatte. Der Segen des dem
Untergang Geweihten komme über mich!“[299]
Ist das nicht ein tapferer Held, der so mutig die
Angriffe des Feindes ertrug und mit der Kraft seines
Geistes überwand? Kein Zweifel aber kann über die
Tapferkeit dessen bestehen, den der Herr auffordert:
„Gürte wie ein Mann deine Lenden, lege Hoheit und Kraft
an! Jeden aber, der Unrecht tut, demütige!“[300]
Ebenso versichert der Apostel: „Ihr habt den tapferen
Trost“[301].
Tapfer ist sonach, wer im Leiden welcher Art immer
getrostes Mutes bleibt.
181. Und mit Recht fürwahr nennt man das Tapferkeit,
wenn einer sich selbst besiegt, den Zorn bezwingt, durch
keine Lockungen sich umstimmen und beugen läßt, im
Unglück die Fassung nicht verliert, im Glück nicht
übermütig wird und im Wandel der mannigfach wechselnden
Dinge nicht wie eine Windfahne hin- und herschwankt[302].
Was gibt es aber Erhabeneres und Großartigeres, als den
Geist zu schulen, das Fleisch zu beherrschen und
dienstbar zu machen, daß es seinem Befehle gehorcht,
seinen Ratschlägen folgt, um unverdrossen, wenn es Kampf
und Mühe zu bestehen gilt, das Vorhaben und den Willen
der Seele auszuführen.
182. Das nun ist die erste Wirkung des Starkmutes. In
zweifacher Art tritt nämlich der seelische Starkmut in
die Erscheinung. Fürs erste soll er das Äußerliche am
Leibe recht gering einschätzen und als etwas
Überflüssiges lieber für verächtlich denn für
begehrenswert erachten; fürs zweite die höchsten Güter
und all das, worin man das Sittlichgute und jenes πρέπον
(Schickliche) erblickt, klar ins Auge fassen und solange
anstreben, bis er es erreicht hat[303].
Was wäre denn so klar als die Notwendigkeit, deine Seele
derart zu schulen, daß du die höchsten Güter weder in
Reichtum, noch in Vergnügen, noch in Ehren setzest und
nicht dein ganzes Streben darauf verschwendest? Bei
solcher inneren Gesinnung wirst du notwendig jenes
Sittlichgute und Schickliche vorziehen zu müssen glauben
und dein Sinnen so darauf richten, daß du über alles,
was da kommt und den Mut zu brechen pflegt, wie
Vermögenseinbuße oder Ehrenverlust oder Anfeindung von
Seiten der Ungläubigen, erhaben bist, ohne es zu fühlen,
und daß dich ferner selbst Lebensgefahren, die du für
die Gerechtigkeit auf dich nimmst, nicht aus der Fassung
bringen.
183. Das ist der wahre Starkmut, den Christi Streiter
besitzt, der nicht gekrönt wird, wenn er nicht
rechtmäßig gekämpft hat[304].
Oder dünkt dich das Gebot des Starkmutes für gering:
,,Die Drangsal wirkt Geduld, die Geduld Bewährung, die
Bewährung aber Hoffnung“?[305]
Sieh, wie viele Kämpfe — und e i n e Krone! Dieses Gebot
gibt nur einer, der in Christus Jesus befestigt war,
dessen Fleisch keine Ruhe hatte. Bedrängnis von allen
Seiten: außen Kämpfe, innen Ängste. Und obschon in
Gefahren, in tausend Mühen, in Kerkerhaft, in Todesnöten
schmachtend, ließ er den inneren Mut nicht sinken,
sondern kämpfte, bis er über seine Schwächen Herr war[306].
184. Betrachte nun, wie er jenen, die sich dem
Kirchendienste weihen, die Pflicht der Geringschätzung
der menschlichen Dinge einschärft! „Wenn ihr also mit
Christus den Weltdingen abgestorben seid, was stellt ihr
noch, als lebtet ihr von dieser Welt, die Satzungen auf:
‚berührt nicht, betastet nicht, kostet nicht!‘, Dinge,
die doch alle schon durch den bloßen Gebrauch zur
Vernichtung bestimmt sind?“[307]
Und im folgenden: „Wenn ihr nun mit Christus
mitauferstanden seid, so suchet, was oben ist!“[308]
Und wiederum: „So ertötet denn eure Glieder, die der
Erde angehören!“[309]
Und zwar gilt dies noch für alle Gläubigen. Dir aber,
mein Sohn, rät er Verachtung des Reichtums, ebenso
Meidung unwürdigen Altweiberklatsches an und läßt nur
das zu, was dich zur Frömmigkeit schult; „denn leibliche
Schulung ist zu nichts nütze, Frömmigkeit aber ist zu
allem nützlich“[310].
185. Frömmigkeit führe dich sonach in die Schule der
Gerechtigkeit, der Enthaltsamkeit und Sanftmut ein, auf
daß du das Treiben der Jugend fliehest, in der Gnade
gefestigt und gewurzelt[311],
den guten Kampf des Glaubens auf dich nehmest[312]
und als Gottes Streiter nicht in weltliche Geschäfte
dich verwickelst[313].
Denn wenn schon einem Krieger im Dienste des Kaisers
kraft menschlicher Gesetze die Übernahme von
Rechtshändeln, die Ausübung von Marktgeschäften, der
Verkauf von Handelswaren verboten ist, wieviel mehr soll
der Streiter im Glaubenskampf von jeder Ausübung eines
Handelsgeschäftes Abstand nehmen, zufrieden mit dem
Ertrag eines Äckerchens, wenn er eines hat; mit dem
Ertrag der Löhnung, wenn er keines hat! Ist doch ein
guter Zeuge dafür jener, der versichert: „Ich war ein
Jüngling und ward ein Greis und sah keinen Gerechten
verlassen, noch seine Nachkommen um Brot betteln“[314].
Darin nämlich besteht die Ruhe und Mäßigung der Seele,
daß sie sich weder von Gewinnsucht einnehmen, noch durch
Furcht vor Armut ängstigen läßt.
XXXVII. Kapitel
Vom
Starkmut: Der Gleichmut der Seele im Glück und Unglück
(186). Die Flucht in Zeiten der Glaubensverfolgung des
Herrn Wille (187).
186. Auch das schließt das sogenannte „Freisein der
Seele von Beunruhigungen“[315]
ein, daß wir weder im Schmerz zu wehleidig[316],
noch im Glück zu übermütig sind. Wenn schon jene, die
jemand zur Übernahme eines öffentlichen Amtes
auffordern, solche Weisungen geben[317],
wieviel mehr sollten wir im Falle der Berufung zu einem
Kirchendienste nur das tun, was Gott gefällt! Die Kraft
Christi soll Wehr und Schild in uns sein. Und also
erprobt, laßt uns vor unserem Gebieter stehen, daß
unsere Glieder „Waffen der Gerechtigkeit“[318]
sind: nicht „fleischliche Waffen“[319],
worin die Sünde herrscht, sondern „Waffen stark für
Gott“[320],
welche den Sturz der Sünde, den Tod unseres Fleisches
herbeiführen sollen, auf daß jede Schuld in ihm
ersterbe, und wir kraft neuen Handels und Wandels
gleichsam von den Toten auferstehen![321]
187. Das ist der Waffendienst der Tapferkeit, voll
ehrenhafter und schicklicher Pflichterfüllung. Weil wir
aber bei allem, was wir tun, nicht bloß nach dem
Schicklichen, sondern auch nach dem Möglichen fragen, um
nicht vielleicht etwas zu beginnen, was wir nicht zu
vollenden vermögen, darum will der Herr, daß wir in der
Zeit der Verfolgung von Stadt zu Stadt ziehen, oder
vielmehr, um seinen Ausdruck selbst zu gebrauchen,
‚fliehen‘[322],
damit nicht einer aus Verlangen nach dem Ruhme des
Martyriums vermessen in Gefahren sich begebe, die das
schwache Fleisch oder der zu wenig kräftige Geist nicht
zu tragen und zu bestehen vermögen[323].
XXXVIII. Kapitel
Vom
Starkmut: Stählung des Geistes gegen künftige
Widerwärtigkeiten (188—191). Schwierigkeiten, welche
hierbei zu überwinden sind (192).
188. Umgekehrt darf niemand aus Feigheit weichen und aus
Furcht vor Gefahr vom Glauben lassen. Darum muß die
Seele vorbereitet, der Geist geschult und zur
Standhaftigkeit gestählt werden, daß er sich durch keine
Drohungen beirren, durch keine Qualen beugen, durch
keine Marter zum Weichen bringen lasse[324].
Das ist freilich hart hinzunehmen. Aber weil alle Qualen
durch die Furcht vor noch schwereren sich überwinden
lassen, vermagst du innerlich standhaft zu sein, wenn du
deine Seele durch ruhiges Überlegen stärkst, nicht der
Vernunft dich begeben zu dürfen glaubst, sowie die
Furcht vor dem göttlichen Gerichte, die Qualen der
ewigen Strafe dir vor Augen stellst.
189. Dieses Sichvorbereiten ist Sache des Eifers, Sache
der Einsicht ist die Fähigkeit, kraft des Geistes
vorauszusehen, was zukünftig ist; sich gleichsam vor
Augen zu stellen, was möglicherweise eintritt; genau
festzusetzen, was zu tun ist, wenn es eintritt; mitunter
zwei und drei Fälle auf einmal zu überdenken, die nach
Berechnung des Betreffenden einzeln oder zusammen
eintreten können; und für diese vereinzelt oder zusammen
eintretenden Fälle jene Vorkehrungen zu treffen, die
sich seiner Überzeugung nach als zweckdienlich erweisen
werden[325].
190. Es gehört zu einem tapferen Mann, daß er sich
nichts verhehlt, wenn etwas bevorsteht, sondern daß er
sich vorsieht, wie von einer geistigen Warte aus prüft
und mit besonnenem Denken den künftigen Dingen begegnet.
Er soll nicht nachher sagen müssen: deshalb geriet ich
in diese Lage, weil ich an ihr Eintreten nicht glaubte[326].
So überrascht einen denn plötzlich das Unglück, wenn man
ihm nicht prüfend entgegensieht. Wie im Kriege dem
unversehens nahenden Feind kaum standzuhalten ist, wie
man den unvorbereitet betroffenen Gegner leicht
überwältigt, so drücken auch unvorhergesehene Übel die
Seele um so schwerer nieder.
191. In folgenden beiden Funktionen bekundet sich der
Seelenadel: fürs erste soll dein Geist, in der Schule
guter Gedanken erzogen, reinen Herzens schauen, was wahr
und tugendhaft ist — denn ,,selig, die reinen Herzens
sind, sie werden sogar Gott schauen“[327]
—
und nur das Tugendhafte für gut halten; sodann durch
keine Beschäftigungen sich beirren, durch keine Lüste
sich wankend machen lassen.
192. Das bringt einer freilich nicht so leicht fertig.
Denn was wäre so schwierig, als vom Standpunkt der
Weisheit wie von einer Burg auf Reichtum und alles
andere, was so vielen groß und erhaben dünkt, mit
Verachtung herabzublicken? Ferner in ruhigem,
vernünftigem Denken sich ein festes Urteil zu bilden und
das Leichtbefundene als nichtsnutzig zu verschmähen?
Sodann einen Unglücksfall, den man schwer und bitter
empfindet, so zu ertragen, daß man ihn nicht für etwas
Naturwidriges hält, indem man liest: „Nackt bin ich
geboren, nackt will ich scheiden. Was der Herr gegeben,
hat der Herr genommen“[328]
—
hatte er (Job) doch sowohl seine Kinder wie sein
Vermögen verloren[329]
—
und in allem die Rolle des Weisen und Gerechten zu
wahren, wie jener sie wahrte, der bekannte: „Wie es dem
Herrn gefallen, so ist es geschehen: der Name des Herrn
sei gepriesen!“[330]
Und im folgenden: „Wie eines der unverständigen Weiber
hast du gesprochen. Haben wir das Gute aus der Hand des
Herrn angenommen, wollen wir das Schlimme nicht auf uns
nehmen?“[331]
XXXIX. Kapitel
Vom
Starkmut: Er ist ein Streiter der Tugend wider das
Laster (193—194). Jobs Beispiel (195).
193. Nichts Geringes also ist die Tapferkeit, auch nicht
eine von den übrigen getrennte Eigenschaft, die mit den
Tugenden im Krieg läge, sondern die allein aller
Tugenden Schmuck und Zier verteidigt und ihre
Entschließungen hütet[332];
die in unversöhnlichem Kampf wider alle Laster streitet,
unbesieglich in Mühen, mutig in Gefahren, streng gegen
die Lüste, verhärtet gegen die Lockungen, für die sie
kein Ohr hat und kein ‚willkommen‘ (wie man sagt)
spricht; die Geld verachtet, Habsucht wie die Pest
meidet, weil sie die Tugend entnervt. Nichts widerstrebt
ja der Tapferkeit so, als von Gewinnsucht sich besiegen
zu lassen[333].
Schon oft fand ein Krieger, nachdem der Feind bereits
geschlagen, das gegnerische Heer zum Fliehen gebracht
war, unter eben denen, die er geschlagen hatte, ein
klägliches Ende, indem er sich von der Beute der
Gefallenen anlocken ließ; (schon oft) wurden Legionen,
während sie über die Siegesbeute herfielen, um ihre
Lorbeeren gebracht und führten den schon geflohenen
Feind von neuem wider sich heran.
194. So soll denn der Starkmut der so verhängnisvollen
Pest (der Habsucht) wehren und sie vernichten, nicht
durch Lüste sich beirren, noch durch Furcht sich
entmutigen lassen[334].
Denn darin muß sich die Tugend treu bleiben, daß sie
tapfer alle Laster als das Gift der Tugend verfolgt; den
Zorn, der die Besinnung raubt, wie mit Waffengewalt
abschlägt und wie eine Krankheit meidet; desgleichen vor
Sucht nach Ruhm sich in acht nimmt, der, wenn übermäßig
begehrt, häufig, wenn widerrechtlich, stets Schaden
stiftete.
195. Was wäre hierin dem heiligen Job sei es an Tugend
entgangen, sei es an Laster unterlaufen? Wie ertrug er
die harte Heimsuchung der Krankheit, der Kälte, des
Hungers! Wie verachtete er die Gefahr für sein Leben![335]
War etwa sein Reichtum, von dem so viel den Dürftigen
zufloß, durch Erpressungen zusammengerafft? Weckte das
Vermögen den Geiz, oder die Lust und Begierde nach
Genuß? Riß ihn der kränkende Hader der drei Könige[336]
oder die Beschimpfung der Knechte[337]
zum Zorn fort? War er leichten Sinnes, daß Ruhm ihn
überhob: er, der schwere Strafe auf sich herabbeschwor,
wenn er je auch nur unfreiwillige Schuld verheimlicht
hätte, oder wenn er vor dem zahlreichen Volke sich
gescheut hätte, sie vor aller Augen kundzutun?[338]
Die Tugenden haben ja mit den Lastern nichts gemein,
sondern bleiben sich selbst treu. Wer wäre also so
tapfer wie der heilige Job? Wem könnte dieser
nachgesetzt werden, nachdem er kaum seinesgleichen
findet?
XL.
Kapitel
Vom
Starkmut: Auch den Unsrigen hat es nicht an
kriegerischer Tapferkeit gefehlt. Biblische Beispiele
(196—199).
196. Doch vielleicht hält der Kriegsruhm manche so im
Bann, daß sie meinen, es gebe nur eine kriegerische
Tapferkeit, und ich sei deshalb auf die obigen
Ausführungen abgeschweift, weil dieselbe den Unsrigen
fehle. Wie tapfer war Jesus Nave (Josue), daß er in
einem Treffen fünf Könige gefangen nahm und samt ihren
Völkern zerschmetterte![339]
Als sich sodann wider die Gabaoniter Krieg erhob und
Josue fürchtete, es möchte die Nacht den Sieg
verhindern, rief er in seiner Geistes- und Glaubensgröße
aus: „Die Sonne stehe still!“ „Und sie stand still“[340],
bis der volle Sieg erkämpft war. Gedeon trug mit
dreihundert Mann über ein gewaltiges Volk und einen
erbitterten Feind den Sieg davon[341].
Der jugendliche Jonathas bewies seine Manneskraft in
einer großen Schlacht[342].
Was soll ich von den Makkabäern sagen?
197. Doch zuvor möchte ich vom Vätervolke überhaupt
sprechen. Sie standen schon bereit zum Kampf für den
Tempel Gottes und für ihre Rechtsbräuche. Doch am
Sabbattage wollten sie, obschon durch die List der
Feinde gereizt, lieber den Leib unbewaffnet den Wunden
preisgeben als kämpfen, um nicht den Sabbat zu
verletzen. So weihten sie sich denn alle frohen Mutes
dem Tode[343].
Da jedoch die Makkabäer erwogen, daß nach diesem
Beispiele das ganze Volk zugrunde gehen könnte, rächten
sie auch am Sabbate, nachdem auch sie zum Kampf
herausgefordert wurden, die Hinmetzelung ihrer
unschuldigen Brüder[344].
Als hierauf der König Antiochus, hierdurch gereizt,
durch seine Feldherrn Lysias, Nikanor und Gorgias die
Kriegsfackel entfachen ließ, wurde er mit seinen
morgenländischen und assyrischen Truppen so vernichtend
geschlagen, daß achtundvierzigtausend Mann von
dreitausend mitten auf dem Schlachtfelde hingestreckt
wurden[345].
198. Die Tapferkeit des Feldherrn Judas des Makkabäers
betrachtet an einem seiner Krieger! Als nämlich Eleazar
einen Elefanten bemerkte, der aus den übrigen
herausragte und mit königlichem Panzer bewappnet war,
vermutete er darauf den König, stürzte sich raschen
Laufs mitten durch die Legion vor, warf den Schild weg
und versetzte mit beiden Händen dem Tiere den Todesstoß.
Im gleichen Augenblick sprang er unter dasselbe, hielt
das Schwert darunter und tötete es. Beim Fall nun
erdrückte das Tier den Eleazar, und er fand seinen Tod[346].
Welch großer seelischer Starkmut! Fürs erste fürchtete
er den Tod nicht; sodann stürzte er sich, rings von
feindlichen Legionen umgeben, in die dichten Reihen des
Feindes, durchbrach ihre Linie, warf, infolge der
Todesverachtung noch trotziger, den Schild weg, kam und
nahm es mit dem Tierkoloß auf, den er mit beiden Händen
verwundete, und sprang dann unter denselben, um den Stoß
noch gründlicher zu führen. Von dessen Sturz mehr
eingeschlossen als erdrückt, fand er unter seiner
Siegestrophäe sein Grab.
199. Und den Helden trog das Urteil nicht, mochte ihn
auch die königliche Tracht täuschen. Denn die Feinde,
durch ein so unerhörtes Schauspiel der Tapferkeit
gebannt, wagten nicht, über den Wehrlosen herzufallen,
um ihn zu überwältigen, und gerieten nach dem Sturze des
zusammenbrechenden Tieres in solche Angst, daß sie sich
insgesamt der Tapferkeit des einen nicht gewachsen
fühlten. König Antiochus, des Lysias Sohn, bat daher,
voll Schrecken über die Tapferkeit des einen Helden, um
Frieden[347],
er, der mit hundertzwanzigtausend Mann und
zweiunddreißig Elefanten bewaffnet herangezogen kam, so
daß beim Aufgang der Sonne jedes Tier wie ein Berg
erschien, der von blitzenden Waffen wie von leuchtenden
Fackeln schimmerte. So hinterließ denn Eleazar als Erben
seiner Tapferkeit den Frieden. — Doch soviel von Sieg
und Triumph.
XLI.
Kapitel
Vom
Starkmut: Der Triumph der Tapferkeit im Leiden und
Martyrium. Vorbilder hierin Judas der Makkabäer (200),
dessen Bruder Jonathas (201), die sieben makkabäischen
Brüder (202) und deren Mutter (203), die Unschuldigen
Kinder, die hl. Agnes (204), der Diakon Laurentius und
dessen Bischof Xystus (205—207).
200. Weil aber die Tapferkeit nicht bloß im Glück,
sondern auch im Unglück sich bewährt, so laßt uns den
Tod Judas' des Makkabäers betrachten! Derselbe fing
nämlich nach der Besiegung Nikanors, des Feldherrn des
Königs Demetrius, in allzu sicherem Gefühle sich
wiegend, mit neunhundert Mann gegen zwanzigtausend des
königlichen Heeres Krieg an. Da die ersteren weichen
wollten, um nicht von der Überzahl erdrückt zu werden,
riet er ihnen lieber zu einem ruhmvollen Tod als zu
einer schimpflichen Flucht: „Hinterlassen wir“, mahnte
er, „an unserer Ehre keinen Schandfleck!“[348]
So lieferte er denn die Schlacht. Und da der Kampf
bereits vom frühen Morgen bis zum Abend dauerte, griff
er den rechten Flügel an, wo er die Hauptmacht des
Feindes gewahrte, und bog ihn leicht zurück. Aber bei
der Verfolgung des fliehenden Feindes setzte er sich im
Rücken der Verwundung aus. So fand er die Todeswunde,
herrlicher denn Triumphe[349].
201. Was soll ich dazu dessen Bruder Jonathas erwähnen,
der mit einer kleinen Mannschaft wider des Königs Heere
kämpfte und, von den Seinigen verlassen und nur mit
zweien zurückbleibend, den Kampf erneute, den Feind
schlug, die Seinigen aus der Flucht zurückrief, um sie
am herrlichen Sieg teilnehmen zu lassen?[350]
202. Da hast du die Tapferkeit im Kriege, die nicht
wenig Ehrenhaftes und Schickliches an sich hat, insofern
sie den Tod der Knechtschaft und Schande vorzieht. Was
soll ich aber erst von den Leiden der Märtyrer sagen?
Und um nicht zu weit abzuschweifen: haben etwa die
makkabäischen Jünglinge über den übermütigen König
Antiochus einen geringeren Sieg davongetragen als deren
Väter?[351]
Siegten doch diese mit Waffengewalt, diese ohne Waffen.
Unbesieglich stand die Schar der sieben Jünglinge,
umringt von des Königs Legionen. Die Qualen versagten,
die Quäler ermüdeten, die Märtyrer nicht. Dem einen ward
die Kopfhaut abgezogen: das Aussehen hatte er geändert,
die Tugendkraft gesteigert. Einem anderen befahl man,
die Zunge hervorzustrecken, um sie abzuschneiden, und er
antwortete[352]:
Der Herr hört nicht allein die Sprechenden, er hörte
auch den schweigenden Moses[353].
Er hört besser die stillen Gedanken der Seinigen als das
laute Rufen aller. Der Zunge Geißel fürchtest du, die
Geißel des Blutes fürchtest du nicht? Auch das Blut hat
seine Stimme, mit der es zu Gott schreit, wie es bei
Abel geschrien hat[354].
203. Was soll ich von der Mutter sagen, die freudig in
ihren Söhnen ebensoviele Siegestrophäen als Leichen
schaute und an den Worten der Sterbenden wie an
Sangestönen sich ergötzte, indem sie in den Söhnen der
Mutter lieblichste Harfe und des Frommsinns Harmonie
erblickte, süßer denn jede Melodie, die der Leier
entströmt?[355]
203. Was soll ich von den kleinen Zweijährigen sagen,
die noch vor dem natürlichen Vernunftgebrauch in den
Besitz der Siegespalme gelangten?[356]
Was von der heiligen Agnes, die an den zwei höchsten
Gütern, der Keuschheit und dem Leben, Gefahr lief? Die
Keuschheit hütete sie, das Leben tauschte sie mit der
Unsterblichkeit ein.
204. Auch den heiligen Laurentius wollen wir nicht
übergehen. Als er seinen Bischof Xystus zum Martyrium
geführt werden sah, fing er zu weinen an, nicht über
dessen Leidenstod, sondern weil er selbst zurückbleiben
mußte. Er begann daher mit folgenden Worten ihn
anzureden: Wohin gehst du, Vater, ohne den Sohn? Wohin
eilst du, heiliger Priester, ohne deinen Diakon? Nie
pflegtest du das Opfer ohne den Diener darzubringen. Was
also mißfiel dir, Vater, an mir? Hast du mich deiner
unwürdig befunden? Prüfe doch, ob du einen tauglichen
Diener erwählt hast! Ihm hast du das konsekrierte Blut
des Herrn, ihm die Teilnahme am Vollzuge der Geheimnisse
anvertraut: ihm willst du die Teilnahme an deinem Blute
verweigern? Sieh zu, daß dein Urteil nicht wanke,
während dein Starkmut Lob verdient! Die Abweisung des
Schülers ginge zu Schaden des Lehrers. Wie? Siegen denn
nicht berühmte und hervorragende Männer ebenso durch die
Kampfestaten ihrer Schüler wie durch die eigenen? So
brachte Abraham seinen Sohn zum Opfer dar; so ließ
Petrus den Stephanus vorausgehen[357].
Auch du, Vater, zeige deine Tugend in deinem Sohne!
Opfere ihn, den du herangezogen hast, und sei deiner
Überzeugung sicher: du wirst unter würdiger Begleitung
zur Krone gelangen!
205. Da antwortete Xystus: Nein, ich lasse dich nicht
zurück, mein Sohn, und verlasse dich nicht. Noch größere
Kämpfe gebühren dir. Ich als Greis trete den Waffengang
zu einem leichteren Kampf an; deiner als Jüngling harrt
ein herrlicherer Triumph über den Tyrannen. Bald wirst
du kommen: höre auf zu weinen! Nach drei Tagen wirst du
mir folgen. Diese Zahl (der Tage) dazwischen geziemt dem
Priester und Leviten. Es wäre deiner nicht würdig
gewesen, an der Seite des Lehrers zu siegen, als hättest
du eines Helfers bedurft. Was begehrst du nach der
bloßen Teilnahme an meinem Leidenstode? Sein ganzes Erbe
hinterlasse ich dir. Was verlangst du nach meiner
Gegenwart? Schwache Schüler mögen dem Lehrer
vorausgehen, starke folgen ihm, um ohne den Lehrer zu
siegen, nachdem sie der Belehrung nicht mehr bedürfen.
So ließ auch Elias den Elisäus zurück. Auf dich
übertrage ich denn die Nachfolge meiner Mannestugend.
206. Das war der Streit, fürwahr ein würdiger Streit,
den Priester und Diener um den Vorrang führten, wer
zuerst für Christi Namen leiden dürfe[358].
In der Trauerspieldichtung löste es, wie man erzählt,
bei den Zuschauern großen Beifall aus, da Pylades sich
für den Orestes ausgab, Orestes hingegen, wie es der
Fall war, beteuerte, er sei Orestes: ersterer, um sich
für Orestes töten zu lassen; Orestes, um nicht zu
dulden, daß Pylades sich für ihn dem Tode weihe. Doch
diese hatten ihr Leben verwirkt, weil beide des
Muttermordes schuldig waren, der eine als Täter, der
andere als Helfer. In unserem Fall drängte nichts den
heiligen Laurentius hierzu als hingebende Liebe. Auch er
jedoch spottete nach drei Tagen des Tyrannen und sprach,
als er auf dem Roste liegend verbrannt wurde: Der Braten
ist fertig, wende ihn und iß! So besiegte er durch den
Starkmut der Seele die Natur des Feuers.
XLII. Kapitel
Vom
Starkmut: Warnung vor herausforderndem Verhalten gegen
Behörden (208) und vor Nachgiebigkeit gegen Schmeichler
(209).
208. Man soll sich auch, meine ich, in acht nehmen, daß
nicht der eine oder andere aus überspanntem Ehrgeiz
herausfordernd gegen die Behörden sich benehme und die
uns meist abgeneigten Gemüter der Heiden zur Verfolgung
reize und zur Erbitterung stachle. Wie vielen bereiten
sie, um selbst die Standhaften und Sieghaften in Martern
spielen zu können, den Untergang?
209. Auch soll man vorsichtig sein, um nicht
Schmeichlern sein Ohr zu leihen. Durch Schmeichelei sich
umstimmen lassen, scheint nicht bloß keine Tapferkeit,
sondern vielmehr Feigheit zu sein[359].
XLIII. Kapitel
Von
der Mäßigkeit: Name und Aufgabe der vierten
Kardinaltugend (210). Sittsamkeit (211), Umgang mit
älteren Personen (212), Erwägung der näheren Umstände
des Handelns (213—214) wesentliche Erfordernisse einer
rechten Lebensordnung.
210. Nachdem wir von drei (Kardinal-) Tugenden
gesprochen haben, erübrigt noch, von der vierten zu
sprechen. Ihr Name heißt Mäßigkeit und
Selbstbeherrschung[360].
In ihr erblickt und sucht man vor allem die Ruhe der
Seele, das Streben nach Sanftmut, den Vorzug der
Selbstbeherrschung, die Pflege des Sittlichguten, den
Sinn für das Schickliche.
211. Wir sollen eine gewisse Lebensordnung einhalten.
Die ersten Grundvoraussetzungen dazu sind von der
Sittsamkeit abzuleiten: sie ist die Genossin und
Vertraute eines gelassenen Geistes, flieht
Ausgelassenheit, hält jeder Völlerei sich fern, liebt
die Nüchternheit, pflegt die Ehrbarkeit und bestrebt
sich jenes Schicklichen.
212. Hieran reihe sich die Wahl im Umgang. Nur ganz
erprobten älteren Personen sollen wir uns anschließen.
Der Verkehr mit Altersgenossen bietet süßeren Genuß, der
mit alten Personen bietet größere Sicherheit. Eine Art
Lebensschule und Lebenseinführung, veredelt er das
sittliche Verhalten der Jugend und verleiht ihm
gleichsam den Purpur der Rechtschaffenheit. Wenn
Personen ohne Ortskenntnis gerne mit des Weges kundigen
Personen eine Reise unternehmen, wieviel mehr sollten
junge Leute an der Seite der alten den ihnen neuen
Lebensweg antreten, um nicht in die Irre gehen und vom
wahren Tugendpfade abweichen zu können? Nichts Schöneres
gibt es, als gerade sie zu Lehrern wie zu Zeugen des
Lebens zu haben.
213. Ebenso ist bei jedem Tun zu fragen, was sich nach
Person, Zeit und Alter schickt, desgleichen was den
geistigen Anlagen eines jeden entspricht. Denn oft ziemt
dem einen nicht, was dem andern ziemt. Das eine paßt für
einen jungen, das andere für einen alten Menschen; das
eine in Gefahr, anderes im Glück.
214. David tanzte vor der Bundeslade des Herrn[361],
Samuel tanzte nicht. Ersterer verdiente deswegen keinen
Tadel, freilich letzterer noch mehr Lob. Er (David)
verstellte sein Gesicht vor dem Könige namens Anchus[362].
Doch hätte er das nicht aus Furcht getan, erkannt zu
werden, hätte er nimmer dem Vorwurf der Leichtfertigkeit
entgehen können. Ebenso hat Saul, umgeben von einem Chor
von Propheten, auch seinerseits geweissagt; und nur über
ihn, den Unwürdigen, raunte man sich zu: „Auch Saul
unter den Propheten“[363].
XLIV. Kapitel
Von
der Mäßigkeit: Der Kirchendienst soll der Anlage und
Neigung eines Kandidaten entsprechen (215—216). Die
besonderen Schwierigkeiten, die sich dem Eintritt in
diesen Beruf entgegenstellen (217—218).
215. Ein jeder soll seine natürliche Anlage kennen[364]
und sich dem widmen, was er als das Passende für sich
erwählte[365].
Er soll daher zum voraus die Folgen überdenken. Er mag
das Gute, das er an sich hat, erkennen, aber auch seiner
Fehler sich bewußt sein und als unparteiischer
Selbstrichter sich erweisen, um des Guten sich zu
befleißigen, die Fehler abzulegen.
216. Der eine eignet sich mehr zum deutlichen Vorlesen,
ein anderer singt die Psalmen schöner, ein dritter hat
mehr Eifer für den Exorzismus über die vom bösen Geiste
Heimgesuchten, wieder einen anderen hält man tauglicher
für den Sakristeidienst. Auf dies alles soll der
Priester sein Augenmerk richten und jedem den Dienst
zuweisen, für den er sich eignet. Denn die Handlung, zu
der einen schon seine natürliche Anlage hinzieht, bezw.
den Dienst, der für einen paßt, erfüllt man mit größerer
Lust.
217. Macht dies aber in jedem Lebensstand Schwierigkeit,
so die größte Schwierigkeit in unserem Berufswirken.
Jeder möchte nämlich dem Lebensberuf seiner Eltern
folgen[366].
So zieht es denn so manche, deren Eltern dem
Militärdienst obliegen, zur militärischen Laufbahn,
andere zu den verschiedenen sonstigen Berufstätigkeiten.
218. Im Kirchendienst hingegen dürfte man nichts
seltener finden als einen, der dem Berufe des Vaters
folgt[367].
Teils schreckt der schwere Dienst hiervon ab, teils
fällt im schlüpfrigen Alter die Enthaltsamkeit schwerer,
teils dünkt der heiteren Jugend diese Lebensart zu
finster. Daher wendet man sich solchen Beschäftigungen
zu, die mehr den Beifall finden. Die Mehrzahl zieht ja
das Gegenwärtige dem Zukünftigen vor. Doch ihr Kämpfen
gilt dem Gegenwärtigen, das unsrige dem Künftigen. Je
erhabener eine Sache, desto größer die Sorgfalt, mit der
man auf sie bedacht sein soll.
XLV.
Kapitel
Von
der Mäßigkeit: Verhältnis des Schicklichen zum
Sittlichguten (219); ihre mehr formale als sachliche
Verschiedenheit (220). Biblische Beleuchtung beider
Begriffe (221).
219. Halten wir denn fest an der Sittsamkeit und jener
Selbstbeherrschung, welche den Schmuck des ganzen Lebens
erhöht! Denn nichts Geringes ist es, allem sein Maß
anzuweisen und seine Ordnung zu bestimmen. Und doch
leuchtet fürwahr gerade hierin das hervor, was man das
Schickliche nennt. Dieses nämlich ist mit dem
Sittlichguten so eng verbunden, daß es unzertrennlich
davon ist[368].
Ist doch das Schickliche auch gut, das Gute schicklich,
so daß es sich mehr um eine Verschiedenheit im Ausdruck
als um einen Unterschied in der Tugend handelt. Ein
Unterschied zwischen ihnen läßt sich denken, nicht
ausdrücken[369].
220. Um nun doch den Versuch zu machen, einigen
Unterschied herauszustellen, so ist das Sittlichgute,
was für den Leib das Wohlbefinden, gleichsam die
Gesundheit ist; die Schicklichkeit aber, was seine Anmut
und Schönheit ist[370].
Wie nun die Schönheit sichtlich über die Gesundheit und
das Wohlbefinden hinaus einen Vorzug besagt und
gleichwohl nicht ohne diese bestehen kann und in keiner
Weise davon sich trennen läßt, weil es ohne blühende
Gesundheit keine Schönheit und Anmut geben kann: so
schließt auch das Sittlichgute jenes Schickliche derart
in sich, daß es sich augenscheinlich von ihm herleitet
und ohne dasselbe nicht bestehen kann. So bedeutet denn
das Gute sozusagen die Gesundheit unseres gesamten Tuns
und Treibens, das Schickliche gleichsam seine äußere
Schönheit: es ist eins mit dem Guten und nur im Denken
davon verschieden. Denn wenn es auch anscheinend einen
besonderen Vorzug darstellt, so gründet es doch im
Guten, aber wie eine einzig schöne Blüte: ohne sie fällt
sie ab, in ihr blüht sie. Was ist denn die Ehrbarkeit
anders als etwas, was die Schande wie den Tod flieht?
Was aber ist das Unehrbare anders als Dürre und Tod, die
es herbeiführt? Solange nun die Tugend sproßt, leuchtet
daran jenes Schickliche als deren Blüte, weil die Wurzel
gesund ist; ist dagegen die Wurzel unserer
Tugendhaftigkeit krank, treibt sie keine Blüte.
221. Man findet das noch bedeutend klarer bei den
Unsrigen ausgesprochen. David nämlich versichert: „Der
Herr ist Herrscher, sein Gewand Schönheit“[371].
Und der Apostel mahnt: „Wie am Tage wandelt ehrbar!“[372]
Was (hier) die Griechen εὐσχημόνως nennen, das
bezeichnet aber eigentlich: ‚von guter Haltung‘, ‚von
Wohlgestalt‘. Da nun Gott den ersten Menschen schuf, gab
ihm seine formende Hand die gute Haltung, die gute
Gliederung und verlieh ihm ein gar schönes Aussehen.
Nachlaß der Sünden hatte er ihm nicht verliehen; den
Schmuck der menschlichen Erlösung empfing er vielmehr
erst, nachdem ihn der in Knechtsform und Menschengestalt
Erschienene im Geist erneut und begnadet hatte. Daher
des Propheten Ausspruch: „Der Herr ist Herrscher, sein
Gewand Schönheit“[373].
An einer anderen Stelle sodann bekennt er: „Dir geziemt
Lobgesang, o Gott, auf Sion“[374].
Das will sagen: Es ist geziemend und ehrbar, daß wir
Dich fürchten, Dich lieben, Dich bitten, Dich ehren;
denn es steht geschrieben: „Alles von euch geschehe in
Ehrbarkeit!“[375]
Freilich wir können auch einen Menschen fürchten,
lieben, bitten und ehren: Lobgesang singt man einzig
Gott. Was wir Gott darbringen, das muß, wie wir
schicklich glauben, alles andere übertreffen. Auch der
Frau geziemt, „in zierlichem Gewände zu beten“[376];
insbesonders aber steht ihr wohl an, „verschleiert zu
beten“[377],
zu beten und in Verbindung mit einem guten Wandel die
Keuschheit zu geloben[378].
XLVI. Kapitel
Von
der Mäßigkeit: Einteilung des Schicklichen (222). Alles
Natürliche ist schicklich, alles Naturwidrige
schimpflich (223). Das zweifache Schickliche im
Spiegelbild der Schöpfung (224).
222. Das Schickliche ist sonach etwas, was in die
Erscheinung tritt. Seine Einteilung ist eine zweifache.
Es gibt nämlich eine Art allgemeine Schicklichkeit, die
sich durch das Ganze des Sittlichguten erstreckt und
sozusagen an seinem ganzen Leibe sichtbar ist; und auch
eine besondere, die an irgendeinem Teile desselben
hervorleuchtet[379].
Mit jener allgemeinen verhält es sich so, als böte sie
in jeder ihrer Handlungen in schönem Einklang das
Gleichförmige und Ganze des Sittlichguten, indem ihr
Leben mit sich selbst übereinstimmt, ohne daß der
geringste Mißton es störte[380].
Die besondere (tritt hervor), so oft sie innerhalb des
Tugendbereiches eine besonders vorzügliche Handlung
setzt.
223. Zugleich beachte folgendes: Schicklich ist das
naturgemäße Leben, die naturgemäße Lebensführung,
schimpflich das Naturwidrige. Denn so warnt der Apostel
in Form einer Frage: „Geziemt dem Weibe unverhüllt zu
Gott zu beten? Lehrt euch nicht die Natur selbst, daß es
dem Manne, wenn er (langes) Haar trägt, zur Unehre
gereicht“[381],
weil es wider die Natur ist? Und wiederum versichert er:
„Trägt aber das Weib (lange) Haare, ist's für sie eine
Zierde“[382];
denn das ist naturgemäß, weil die Haare als Schleier
dienen: es ist der natürliche Schleier. Person und
äußere Tracht bestimmt uns sonach die Natur selbst, und
wir müssen sie wahren[383].
O daß wir auch ihre Unschuld hätten bewahren können! Daß
unsere Bosheit sie nicht, nachdem wir sie empfangen
hatten, verkehrt hätte!
224. Das allgemeine Schöne (Schickliche) findet man vor,
weil die Schönheit dieser Welt Gottes Schöpfung ist.
Aber auch in den einzelnen Teilen trifft man es an; denn
auch das Einzelne fand Gottes Gutheißung, als er das
Licht schuf und den Tag und die Nacht ausschied, als er
den Himmel festigte, als er die Lande und Meere
voneinander absonderte, als er die Sonne, den Mond und
die Sterne zu Leuchten über die Erde setzte[384].
So strahlte denn dieses Schöne, indem es in den
einzelnen Teilen der Welt aufleuchtete, im ganzen All
wider, wie es die Weisheit mit den Worten bestätigt:
„Ich war es, die seinen Beifall fand, da er sich des
vollendeten Erdkreises freute“[385].
Ähnlich ist auch am menschlichen Körperbau jedes
Teilglied gefällig; doch mehr noch ergötzt der
symmetrische Gliederbau als Ganzes, indem so die Glieder
in ihrer gegenseitigen Anpassung und Übereinstimmung in
die Erscheinung treten[386].
XLVII. Kapitel
Von
der Mäßigkeit: Das Schickliche im Spiegelbild unseres
Lebens. Von den allgemeinen (225) und besonderen
Erfordernissen des Schicklichen (226—227), insbesonders
von der Beherrschung der Begierlichkeit (228—230) und
des Zornes (231—232).
225. Wenn nun jemand in seinem Gesamtleben sich
gleichförmig bleibt und in den Einzelhandlungen das
rechte Maß einhält, desgleichen Ordnung, Beständigkeit
und Mäßigung in seinem Reden und Handeln wahrt, so tritt
in seinem Leben jenes Schickliche hervor und strahlt
daraus wie in einem Spiegel wider.
226. Damit verbinde sich jedoch eine liebenswürdige
Redeweise, um die Hörer für sich zu gewinnen und bei
Angehörigen oder bei Mitbürgern oder womöglich bei allen
den Eindruck des Gefälligen zu machen. Niemand
schmeichle man, und von niemand lasse man sich
schmeicheln! Das eine verriete Verstellung, das andere
Eitelkeit.
227. Es sei ihm nicht gleichgültig, was einer,
namentlich ein guter Mensch von ihm denkt. Auf diese
Weise lernt er Achtung haben vor den Guten. Über der
Guten Urteil sich hinwegsetzen, wäre nämlich entweder
ein Zeichen von Anmaßung oder von Gleichgültigkeit,
wobei ersteres dem Hochmut, letzteres der Nachlässigkeit
zuzuschreiben wäre.
228. Er gebe auch acht auf die Regungen seines Herzens.
Er muß sich selbst genau und allseitig beobachten und
wie vor sich in acht nehmen, so auf sich sehen. Denn es
gibt Regungen, worunter sich jene Begierlichkeit
befindet, die mit einem gewissen Ungestüm hervorbricht.
Ὁρμή heißt sie darum bei den Griechen, weil sie
gleichsam mit Gewalt plötzlich hervorstürmt. Keine
geringe geistige und physische Kraft ruht in diesen
Regungen. Diese Kraft aber ist eine zweifache. Die eine
liegt im Begehrungsvermögen, die andere in der Vernunft.
Diese soll die Begierlichkeit zügeln, sich unterwürfig
machen, nach ihrem Willen leiten, in strenger Zucht
darüber aufklären, was zu tun, was zu meiden sei, um
ihrer Zuchtmeisterin zu folgen[387].
229. Wir müssen nämlich eifrig darüber wachen, daß wir
nichts unbesonnen und unbedachtsam tun, noch überhaupt
etwas, wofür wir keinen stichhaltigen Grund angeben
können[388].
Denn wenn man auch nicht allen den Grund seines Handelns
mitteilt, unterliegt er doch der Prüfung aller. Wir
könnten auch nichts zu unserer Entschuldigung
vorbringen. Denn wenn auch in jeder Begierde eine
gewisse Naturgewalt liegt, so ist doch diese nämliche
Begierde durch das Naturgesetz selbst der Vernunft
unterworfen und muß ihr folgen. Es ist daher Aufgabe
eines gewissenhaften Beobachters, innerlich auf der Hut
zu sein, daß die Begierlichkeit weder der Vernunft
zuvorkommt, noch derselben sich entzieht. Sie soll
dieselbe durch Zuvorkommen nicht verwirren und
ausschalten, und durch Sichentziehen nicht der
Herrschaft berauben. Verwirrung hebt die Standhaftigkeit
auf; die Einbuße der Herrschaft deutet auf Feigheit und
berechtigt zur Anklage auf Trägheit. Ist nämlich der
Geist verwirrt, greift die Begierlichkeit weiter und
länger um sich, läßt sich gleichsam in ihrem wilden
Ungestüm keine Zügel der Vernunft mehr anlegen und
bleibt fühllos gegen alles Leiten des Lenkers, das sie
womöglich zurückdämmen möchte. Die Folge ist so häufig
nicht bloß innere Erregung und Einbuße der Vernunft:
auch das Gesicht rötet sich vom Feuer des Zornes oder
der Begierde, wird blaß vor Furcht, verliert im
Vergnügen die Fassung über sich und gerät vor
überschäumender Lust in Ausgelassenheit[389].
230. Ist dies der Fall, geht jene natürliche
Sittenstrenge und Sittenhoheit verloren, und läßt sich
die Standhaftigkeit nicht wahren, die allein, wenn es zu
taten und raten gibt, ihre Autorität und jenes
Schickliche festzuhalten vermag.
231. Am heftigsten aber entbrennt die Leidenschaft aus
jener übermächtigen Zornesregung, die so oftmals der
Schmerz über erlittenes Unrecht entfacht. Darüber
belehren uns zur Genüge die Weisungen des Psalmes (38),
den wir in der Vorrede anführten[390].
Es war gar wohl aber auch am Platz, daß wir, als wir an
die Schrift über die Pflichtenlehre gingen, zu dieser
Ausführung unserer Vorrede (über den Zorn), die selbst
ein Beitrag zur Pflichtenlehre war, griffen[391].
232. Doch weil wir oben aus Besorgnis, es möchte die
Vorrede zu lang werden, notgedrungen nur kurz die Art
und Weise berührten, wie ein jeder vor der Aufregung
über erlittenes Unrecht sich in achtzunehmen vermag, so
glaube ich jetzt noch ausführlicher darüber sprechen zu
sollen. Gerade in den Einzelausführungen über die
Mäßigkeit bietet sich der passende Ort, davon zu reden,
wie man den Zorn unterdrücken soll.
XLVIII. Kapitel
Von
der Mäßigkeit: Dreifaches Verhalten gegen erlittenes
Unrecht: der gewöhnliche Mensch braust auf (233), der
Fortgeschrittene schweigt (234), der Vollkommene freut
sich darüber, wie Paulus (235) und David (236—238). Das
Vollkommene, d. i. das Ewige ist anzustreben. Hier
schauen wir nur im Bilde (239).
233. Wir wollen nun womöglich zeigen, wie es in der
göttlichen Schrift dreierlei Menschen gibt, die Unrecht
leiden. Die erste Klasse sind jene, welche der Sünder
verhöhnt, beschimpft, verspottet. Da es zu Unrecht
geschieht, brennt heißer die Schamröte, heftiger der
Schmerz. Diesen gleichen eine ganze Menge von meinem
Stand und meinem Rang. Fügte man mir Schwächling eine
bloße Beleidigung zu, würde ich, obwohl ein Schwächling,
vielleicht das Unrecht gegen mich verzeihen. Macht man
mich zum Verbrecher, bin ich, obschon ich mich von
solchem Vorwurf frei weiß, nicht so großmütig, daß ich
mich mit meinem Gewissen zufrieden gebe, sondern wünsche
in meiner Schwachheit den Schandfleck wegzuwischen, der
mein empfindliches Schamgefühl verletzt. So fordere ich
denn „Aug' um Aug' und Zahn um Zahn“[392]
und vergelte Schimpf mit Schimpf.
234. Bin ich aber ein Fortschreitender, wenn auch noch
kein Vollkommener, dann erwidere ich die Schmach nicht.
Und wenn jener meine Ohren mit Schimpf überschüttet und
mit Schmähungen überschwemmt: ich schweige und erwidere
nichts.
235. Bin ich aber ein Vollkommener — beispielsweise rede
ich so; denn in Wahrheit bin ich ein Schwächling —: bin
ich ein Vollkommener, segne ich den Schmähenden, wie
auch Paulus ihn segnete, der beteuert: „Man schmäht uns,
und wir segnen“[393].
Denn er hatte das Wort vernommen: „Liebet eure Feinde,
betet für eure Verleumder und Verfolger!“[394]
Darum also litt und trug Paulus die Verfolgung[395],
weil er ob des Lohnes der Kindschaft Gottes, der im Fall
der Feindesliebe in Aussicht gestellt ward[396],
die menschliche Leidenschaft besiegte und
beschwichtigte.
236. Aber auch vom heiligen David können wir dartun, wie
er auch in dieser Tugendart dem Paulus nicht
unebenbürtig war. Und zwar schwieg er zunächst zur
Schmähung des Sohnes Semeis und zu dessen Vorwurf auf
Verbrechen und verdemütigte sich und äußerte bei seinem
guten Gewissen, d. i. im Bewußtsein seines guten
Handelns nichts. Sodann aber wünschte er sich geradezu
die Schmähung, weil er durch solche Schmähung die
göttliche Barmherzigkeit zu erlangen hoffte[397].
237. Doch sieh, wie er Demut, Gerechtigkeit und Klugheit
wahrte, um der Gnade vom Herrn sich würdig zu machen.
Sein erstes Wort lautete: „Deshalb flucht er mir, weil
der Herr ihm sagte, er solle fluchen“[398].
Da hast du die Demut; denn Gottes Gebot glaubte er als
armseliger Knecht mit Gleichmut tragen zu müssen. Seine
zweite Äußerung lautete: „Sieh, mein Sohn, mein
leibliches Kind stellt mir nach dem Leben“[399].
Da hast du die Gerechtigkeit; denn wenn wir von den
Unsrigen noch Schlimmeres erleiden, warum sollten wir
ungehalten sein über das, was uns Fremde zufügen? Seine
dritte Rede war: „Laß ihn schmähen, weil der Herr es ihm
geheißen, um meine Demut zu sehen; und der Herr wird
mein Vergelter sein für diese Schmähung“[400].
Und nicht bloß die Lästerung desselben ertrug er,
sondern ließ ihn auch, da er Steine nach ihm warf und
ihm nachschlich, unbehelligt, ja schenkte ihm sogar nach
dem Siege gern Verzeihung, als er darum bat[401].
238. Das führte ich nun deshalb an, um zu zeigen, wie
der heilige David im Geiste des Evangeliums nicht bloß
nicht den Beleidigten spielte, sondern seinem Lästerer
sogar noch gewogen, über Unbilden mehr erfreut als
erbittert war und sich Lohn dafür versprach. Doch
wiewohl schon vollkommen, strebte er nach immer größerer
Vollkommenheit. Wie brennendes Feuer empfand er als
Mensch den Schmerz des Unrechts, doch kraft des Geistes
blieb er, ein guter Streiter, sieghaft; ein tapferer
Wettkämpfer, standhaft. Des Duldens Zweck aber war die
Erwartung der Verheißungen. Darum sein Flehen: „Mache
mir kund, Herr, mein Ziel und Ende und welches die Zahl
meiner Tage ist, damit ich weiß, was mir noch fehlt!“[402]
Nach jenem Ziel der himmlischen Verheißungen fragt er,
bezw. nach jenem Ende, da „ein jeder in seiner Ordnung
aufersteht: als Erstling Christus; danach die, welche
Christus angehören, welche an seine Ankunft geglaubt
haben; hierauf folgt das Ende“[403].
Nach der Übergabe des Reiches nämlich an Gott und den
Vater und nach der Vernichtung aller Mächte beginnt nach
der Versicherung des Apostels die Vollendung[404].
Hier ist Behinderung, hier Schwäche selbst bei
Vollkommenen, dort die volle Vollendung. Darum Davids
Frage nach jenen Tagen des ewigen Lebens, „den
seienden“, nicht „den vergehenden“, um zu erkennen, was
ihm noch fehle; welches das Land der Verheißung sei mit
seinem ewigen Fruchtertrage; welches die erste Wohnung
beim Vater sei, welches die zweite, welches die dritte,
woselbst jeder nach Verdienst seine Ruhe findet.
239. Das also müssen wir erstreben, was die Vollendung,
was die Wahrheit in sich trägt. Hier haben wir den
Schatten, hier das Bild, dort die Wahrheit: den Schatten
im Gesetz, das Bild im Evangelium, die Wahrheit im
Himmel. Ehedem brachte man ein Lamm, brachte man ein
Kalb zum Opfer dar, jetzt wird Christus geopfert. Er
wird geopfert als Mensch, als Leidensfähiger; und zwar
ist er selbst der Priester, der sich zur Vergebung
unserer Sünden opfert: hier im Bilde, dort in der
Wahrheit, wo er beim Vater als Anwalt für uns eintritt.
Hier wandeln wir im Bilde, schauen wir im Bilde; dort
von Angesicht zu Angesicht, woselbst die volle
Vollendung winkt, weil alle Vollendung in der Wahrheit
beruht.
XLIX. Kapitel
Von
der Mäßigkeit: Das Bild des Vollkommenen und Ewigen
(240), nicht des Sündhaften und Vergänglichen soll sich
in unserem Wandel spiegeln (241—244), das Bild Christi,
nicht des Teufels in unserer Seele aufleuchten (245).
240. Solange wir nun hier weilen, laßt uns das Bild
festhalten, um dort zur Wahrheit zu gelangen! Das Bild
der Gerechtigkeit sei in uns! Das Bild der Weisheit sei
in uns! Denn es wird zu jenem Tage kommen, und nach dem
Bilde wird man uns werten.
241. Nicht finde der Feind sein Bild in dir: nicht Wut,
nicht Raserei! In diesen Zügen verrät sich das Bild der
Bosheit. Denn der Widersacher, der Teufel, sucht wie ein
Löwe, wen er töte, wen er verschlinge[405].
Er finde keine Goldgier, keine Silbermengen, keine
Lasterbilder, um dir nicht das freie Wort zu rauben! Das
freie Wort besteht nämlich in dem Bekenntnis: „Der Fürst
dieser Welt mag kommen, und er soll nichts an mir
finden“[406].
Bist du sicher, daß er nichts an dir findet, wenn er zur
Suche kommt, magst du das Wort des Patriarchen Jakob an
Laban nachsprechen: „Überzeuge dich, ob sich etwas von
dem Deinigen bei mir fin- det!“[407]
Selig mit Recht Jakob, weil Laban nichts von dem
Seinigen bei ihm finden konnte! Rachel nämlich hatte
seine goldenen und silbernen Götzenbilder verborgen[408].
242. Wenn nun deine Weisheit, wenn dein Glaube, wenn
deine Weltverachtung, wenn deine Gnade mit aller
Gottlosigkeit aufräumt, wirst du selig sein, weil dein
Blick nicht „auf Eitelkeiten und trügerischen Aberwitz“[409]
gerichtet ist. Oder ist es gleichgültig, ob ich dem
Gegner das Wort entziehen kann, so daß seine
Anschuldigung wider mich jeder Beweiskraft ermangelt?
Wer sein Auge nicht auf Eitelkeiten richtet, geht nicht
irre: wer es darauf richtet, geht irre, und zwar ganz
blindlings. Denn was anders bedeutet Schätze häufen als
eitel Beginnen? Eitel genug ist es ja, nach
Vergänglichem zu trachten. Hat man sie aber aufgehäuft,
wer weiß, ob einem deren Besitz auch vergönnt ist?
243. Ist es nicht eitel, wenn der Kaufmann Tag und Nacht
auf Reisen ist, um womöglich Haufen Schätze zu sammeln?
Wenn er Waren anhäuft, über deren Preis sich den Kopf
zerbricht, um nicht unter dem Einkaufspreis zu
verkaufen, die Ortspreise ablauert? Wenn er mit einem
Mal einen Wegelagerer wider sich reizt, der mit scheelem
Auge sein wohlbekanntes Handelsgeschäft verfolgte? Oder
wenn er auf seiner Jagd nach Gewinn Schiffbruch leidet,
weil er, des Harrens überdrüssig, keine günstigeren
Winde abwartete.
244. Oder ist nicht auch jener das Opfer eitlen Trugs,
der mit größter Anstrengung (Schätze) zusammenrafft,
ohne zu wissen, welchem Erben denn seine
Hinterlassenschaft zufallen soll? Oftmals wirft ein
genußsüchtiger Erbe das, was der Habsüchtige mit tausend
Müllen und Sorgen zusammenscharrte, in jäher
Verschwendung hinaus und verschleudert es, und läßt ein
schändlicher Prasser, der blindlings in die Gegenwart,
sorglos in die Zukunft hineinlebt, das langsam Erworbene
wie in einem Abgrund verschwinden. Oft auch beschwört
der Nachfolger, den man sich erhoffte, wegen der
erworbenen Erbschaft den Neid herauf, muß rasch mit Tod
abgehen und Fremde in den Genuß der eben angetretenen
Erbschaft einsetzen.
245. Wozu arbeitest du in eitlem Mühen an einem
Spinngewebe, das keinen Wert und Nutzen hat, und hängst
Haufen Reichtümer wie unnützes Netzwerk auf? Und wenn
sie in Strömen flössen, sie nützen nichts, sie streifen
dir vielmehr nur das Bild Gottes ab und ziehen dir das
Bild des Irdischen an[410].
Trägt einer das Bild des Tyrannen an sich, setzt er sich
nicht der Verurteilung aus? Du willst das Bild des
ewigen Herrschers ablegen und wünschst an dir das Bild
des Todes? Hinweg vielmehr aus der Stadt deiner Seele
mit dem Bilde des Teufels! Richte auf das Bild Christi!
Das soll in dir leuchten, in deiner Stadt, d. i. in
deiner Seele erstrahlen, um die Bildnisse der Laster
schwinden zu machen! Von diesen spricht David: „Herr, Du
wirst in Deiner Stadt ihre Bilder fortschaffen“[411].
Dann nämlich, wenn der Herr jenes Jerusalem nach seinem
Bilde zeichnet, wird jedes Bild der Widersacher
vernichtet.
L.
Kapitel
Von
den Leviten: Name und Standestugenden im allgemeinen
(246—247). Ihre standesmäßige Keuschheit (248—249). Die
Erhabenheit ihres Amtes (250). Ihre Hauptfunktionen
entsprechend den Kardinaltugenden (251—253). Besondere
Pflichten derselben (254—256). Der Levitensegen des
Moses (257—259).
246. Wenn durch das Evangelium des Herrn sogar auch das
gewöhnliche Volk zur Verachtung des Reichtums angeleitet
und angehalten ist, wieviel mehr dürft ihr Leviten nicht
von irdischen Lüsten euch einnehmen lassen, da Gott euer
Anteil ist. Als nämlich von Moses der Besitz des Landes
an das Vätervolk ausgeteilt wurde, schloß der Herr die
Leviten von der Teilnahme daran aus[412],
weil er selbst ihr Erblos sein wollte[413].
Daher Davids Bekenntnis: „Der Herr ist meines Erbes und
meines Bechers Anteil“[414].
Das bedeutet denn auch der Name Levite: ‚er ist mein‘,
oder aber: ‚er ist statt meiner‘[415].
Etwas Erhabenes muß es also um sein Amt sein, daß der
Herr von ihm spricht: ‚er ist mein‘, oder wie er zu
Petrus in Hinblick auf den im Rachen des Fisches
gefundenen Stater sagte: „Gib ihnen denselben für mich
und dich!“[416]
Auch der Apostel fügte hinzu, nachdem er vom Bischof
verlangt hatte, er solle nüchtern, ehrbar, würdevoll,
gastfrei, zum Lehren geeignet, nicht geizig, nicht
streitsüchtig sein, seinem Hause ein guter Vorgesetzter[417]:
„Desgleichen sollen die Diakonen gesetzt sein, nicht
doppelzüngig, nicht viel dem Wein ergeben, nicht nach
schnödem Gewinn trachtend, das Geheimnis des Glaubens in
reinem Gewissen tragend. Auch sie sollen aber erst
erprobt werden und so, wenn sie untadelig sind, den
Dienst versehen“[418].
247. Wir sehen, wie große Anforderungen an uns gestellt
werden. Der Diener des Herrn soll von Wein sich
enthalten, auf einen guten Leumund nicht bloß der
Gläubigen, sondern auch „von Seiten derer, die draußen
sind“, sich stützen können[419].
Denn die öffentliche Meinung darf billig Zeuge unseres
Handelns und Wirkens sein, damit der Ruf des Amtes nicht
leide; damit, wer einen Diener des Altares im
geziemenden Tugendschmucke erblickt, den Schöpfer preise
und den Herrn ehre, der solche Diener hat. Denn wo rein
die Habe und unsträflich die Zucht der Dienerschaft,
erhebt sich das Lob des Herrn.
248. Was soll ich aber von der Reinheit sprechen? Ist
doch nur eine Ehe und keine weitere erlaubt. Und in der
Ehe selbst liegt das Gesetz, die Ehe nicht zu
wiederholen und keine zweite eheliche Verbindung
einzugehen[420].
Verwunderlich erscheint so manchem nur das, warum sogar
aus einer vor der Taufe wiederholt eingegangenen Ehe für
die Wahl zum (Leviten-) Amte und für das Vorrecht zum
Weiheempfang Hindernisse erwachsen sollen, während
selbst Verfehlungen, wenn sie durch das Taufsakrament
nachgelassen sind, kein Hindernis bilden. Doch wir
müssen bedenken, daß durch die Taufe wohl die Schuld
nachgelassen, nicht aber ein Gesetz aufgehoben werden
kann. In solcher Ehe liegt nicht Schuld, sondern Gesetz.
Was Schuld ist, wird in der Taufe getilgt, was Gesetz
ist in der Ehe, nicht aufgehoben. Wie könnte aber auch
einer zum Witwenstand aufmuntern, der selbst mehrere
Ehen eingegangen hat?
249. Ihr, die ihr in leiblicher Unversehrtheit, in
unverletzter Reinheit, selbst in ehelicher
Enthaltsamkeit das Gnadenamt eures heiligen Dienstes
empfangen habt, begreift wohl, daß dieser Dienst sonder
Tadel und Makel geleistet werden muß. Das ließ ich
deshalb nicht unerwähnt, weil vielfach an abgelegeneren
Orten Kleriker, da sie den Kirchendienst oder selbst das
Priesteramt bekleideten, Kinder bekamen. Sie wollen dies
gleichsam mit einem alten Herkommen beschönigen aus der
Zeit, da man nach tagelangen Unterbrechungen das Opfer
darbrachte. Und doch beobachtete, wie wir im Alten
Testamente lesen, das gewöhnliche Volk, um rein zum
Opfer zu treten, durch zwei und drei Tage hindurch
keusche Enthaltsamkeit und wusch sich die Kleider[421].
Wenn schon im vorbildlichen Kulte so strenge Observanz
herrschte, wie streng muß sie im wahren sein! Verstehe,
Priester und Levite, was es bedeutet: ‚deine Kleider
waschen‘. Du sollst einen reinen Leib zur Feier der
Geheimnisse mitbringen! Wenn es dem Volke verboten war,
ohne Reinwaschung seiner Kleider zum Opfer hinzutreten:
du wolltest es wagen, unreines Geistes und Leibes
zugleich für andere zu beten, für andere des Dienstes zu
walten?
250. Nichts Geringes ist es um den Dienst der Leviten,
von welchen der Herr spricht: „Sieh, ich erwähle die
Leviten aus der Mitte der Söhne Israels statt jedes
Erstgeborenen, der den Kindern Israels den Mutterleib
öffnet. Sie sollen deren Lösegeld sein. Und mein sollen
die Leviten sein; denn für mich habe ich die Erstgeburt
im Lande Ägypten geheiligt“[422].
Wir wissen, daß die Leviten (in der Schrift) nicht unter
die Zahl der übrigen gerechnet, sondern allen vorgezogen
werden; sie werden aus allen auserwählt und geheiligt
wie die Erstgeburt und die Erstlinge der Früchte, welche
für den Herrn bestimmt sind, welche die Einlösung von
Gelübden und die Loslösung von Sünden bedeuten: „Du
sollst sie“, heißt es, „nicht unter die Söhne Israels
aufnehmen, sondern sollst festsetzen, daß die Leviten
über dem Zelte des Zeugnisses und über allen Gefäßen
desselben und über allen Gerätschaften in demselben
stehen. Sie sollen das Zelt und alle Gefäße desselben
tragen und in demselben dienen und das Lager um das Zelt
aufschlagen. Und beim Aufbruch sollen sie, die Leviten,
das Zelt zusammenlegen. Und beim abermaligen Aufschlagen
des Lagers sollen sie auch das Zelt aufstellen. Jeder
Fremde, der hinzutritt, soll des Todes sterben“[423].
251. Du nun bist der aus der Gesamtzahl der Söhne
Israels Erkorene, gleichsam der als Erstling unter den
heiligen Früchten Erlesene, der dem Zelte Vorgesetzte,
so daß du den Vortritt im Lager der Heiligkeit und des
Glaubens hast, dem kein Fremder nahen darf, ohne des
Todes zu sterben; du der hierzu Berufene, die Lade des
Bundes zu verhüllen. Denn nicht alle schauen die hohen
Geheimnisse, weil sie von den Leviten verhüllt werden,
damit die, welche sie nicht schauen dürfen, sie nicht
schauen; die, welche sie nicht bewahren können, sie
nicht empfangen. So schaute auch Moses die Beschneidung
im geistigen Sinn, legte aber eine Hülle darüber, so daß
er die Beschneidung nur im Zeichen vorschrieb. Er
schaute „das ungesäuerte Brot der Wahrheit und Reinheit“[424];
er schaute das Leiden des Herrn: er verhüllte das
ungesäuerte Brot der Wahrheit unter dem physischen; er
verhüllte das Leiden des Herrn unter dem Opfer eines
Lammes oder Kalbes. Gute Leviten wahrten das Geheimnis
unter der Hülle ihres Glaubens: und du wolltest das, was
dir anvertraut ward, für gering halten? Das erste ist,
daß du die Erhabenheit Gottes schaust: das verlangt die
Wahrheit; das zweite, daß du für das Volk wachst: das
verlangt die Gerechtigkeit; daß du das Lager verteidigst
und das Zelt hütest: das verlangt die Tapferkeit; dich
selbst enthaltsam und nüchtern erweist: das verlangt die
Mäßigkeit.
252. Diese Arten der Haupttugenden stellten auch jene
auf, „die draußen sind“[425],
räumten jedoch der Gemeinschaftstugend (Gerechtigkeit)
einen höheren Rang ein als der Weisheit, da doch die
Weisheit das Fundament, die Gerechtigkeit der Bau
darüber ist, der ohne das Fundament nicht denkbar ist[426].
Das Fundament aber ist Christus[427].
253. Das erste nun ist der Glaube. Er gehört zur
Weisheit. So beteuert Salomo, seinem Vater folgend[428]:
„Der Anfang der Weisheit ist die Furcht des Herrn“[429].
Und das Gesetz gebietet: „Du sollst den Herrn deinen
Gott lieben“[430],
„du sollst den Nächsten lieben“[431].
Schön ist es, dein Herz und deine Dienste der
menschlichen Gesellschaft zu widmen: doch als erstes
geziemt sich, daß du das Kostbarste, was du hast, deinen
Geist — Kostbareres als ihn hast du nicht —, Gott
weihst. Erst wenn du gegen den Schöpfer deine Schuld
eingelöst hast, magst du dein Wirken dem Wohltun und der
Hilfeleistung der Menschen weihen und ihrer Not sei es
durch eine Geldspende, sei es durch eine Gefälligkeit
oder einen sonstigen Dienst, wozu in eurem Amte so
reichliche Gelegenheit sich bietet, steuern: durch eine
Geldspende, um eine Unterstützung zu gewähren; durch ein
Darlehen, um einen Überschuldeten zu befreien; durch
eine Gefälligkeit, um eine Hinterlage in Gewahrsam zu
nehmen, deren Verlust der Gläubiger befürchtete.
254. Es ist nun Pflicht, die Hinterlage zu bewahren oder
heimzuzahlen[432].
Zuweilen bedingt freilich die Zeit oder die Not etwas
anderes, so daß keine Pflicht zur Rückgabe des
Empfangenen besteht[433]:
so, wenn jemand als ein offenkundiger Feind das Geld zur
Unterstützung der Barbaren wider das Vaterland
zurückfordern würde; oder wenn man es einem
zurückerstatten wollte, der sich in den Händen eines
Erpressers befindet; wenn man es einem Rasenden
heimzahlen wollte, da er ja außerstande ist, es
aufzubewahren. Einem Wahnsinnigen ein anvertrautes
Schwert, mit dem er sich töten will, nicht vorenthalten,
wäre solche Rückerstattung nicht pflichtwidrig?
Wissentlich zur Hintergehung des Verlustträgers
gestohlenes Gut annehmen, wäre das nicht pflichtwidrig?
255. Manchmal wäre es auch pflichtwidrig, ein
Versprechen einzulösen, einen Eid zu halten[434].
So gab Herodes, welcher der Tochter der Herodias alles
zu geben schwur, was nur verlangt würde, selbst die
Ermordung des Johannes zu, um sein Versprechen nicht zu
brechen[435].
Was soll ich denn von Jephte sagen, der zur Erfüllung
des Gelübdes, das er gelobt hatte, nämlich Gott
darzubringen, was immer ihm zuerst begegnen würde, seine
Tochter opferte, weil sie ihm nach dem Siege zuerst in
den Weg gekommen war?[436]
Besser wäre es gewesen, nichts Derartiges zu
versprechen, als das Versprechen mit einem Kindesmord
einzulösen.
256. Es ist euch nicht unbekannt, wieviel Besonnenheit
dazu gehört, hier das Richtige zu treffen. Daher die
Auswahl des Leviten, der das Heiligtum bewachen soll,
damit er sich nicht in seiner Unbesonnenheit täuschen
lasse, nicht vom Glauben abfalle, nicht den Tod fürchte,
nichts überhaste, um schon äußerlich ein würdevolles
Benehmen an den Tag zu legen, nicht bloß in der
Gesinnung, sondern auch in den Blicken enthaltsam zu
sein: auch eine zufällige Begegnung sollte
schicklicherweise seine züchtige Stirn nicht erröten
machen; denn ,,jeder, der ein Weib ansieht, um es zu
begehren, hat mit ihr in seinem Herzen Ehebruch
getrieben“[437].
So läßt sich nicht bloß durch eine Schandtat im Werk,
sondern auch schon durch einen absichtlichen Blick
Ehebruch begehen.
257. Das scheinen große, ja allzu strenge, aber in einem
großen Amte nicht müßige Anforderungen zu sein. Ist doch
das Gnadenamt der Leviten so erhaben, daß Moses in
seinen Segenssprüchen von denselben sagt: „Gebt dem Levi
seine Männer, gebt dem Levi seine Erlauchten, gebt dem
Levi das ihn treffende Los und dem heiligen Mann seine
Wahrheit! Denn in Prüfungen versuchten sie ihn, über dem
Wasser des Widerspruches schmähten sie ihn. Der zu
seinem Vater und seiner Mutter spricht: ‚ich kenne dich
nicht‘, und seine Brüder nicht kennt und auf Kinder
seinerseits verzichtete, er hütet deine Worte und wahrte
deinen Bund“[438].
258. Die Leviten nun sind „seine Männer“ und „seine
Erlauchten“, welche „seine Worte hüten“ und in ihrem
Herzen überdenken, wie Maria sie überdachte[439].
Sie „kennen ihre eigenen Eltern nicht“, um sie etwa
ihrem Dienste vorzuziehen, hassen die Schänder der
Keuschheit, rächen die Verletzung der Jungfräulichkeit
und kennen die jeweiligen Anforderungen ihres Dienstes:
welche Verrichtung die wichtigere, welche die weniger
wichtige sei, zu welchem Zeitpunkt sie sich eigne. So
wollen sie nur das Schickliche befolgen und, wo wirklich
ein zweifaches Schickliches vorliegt, für das
Schicklichere sich entscheiden. Sie sind mit Recht „die
Gesegneten“.
259. Verkündet nun einer Gottes Recht und Gerechtigkeit,
nimmt er die Räucherung vor, so „segne, Herr, seine
Tugend, nimm auf die Werke seiner Händel“[440]
Er möge die Gnade des prophetischen Segensspruches bei
dem finden, der lebt und herrscht in die Ewigkeiten der
Ewigkeiten, Amen.
Zweites Buch: Vom Nützlichen
I.
Kapitel
Vom
seligen Leben: Quelle desselben das Sittlichgute (1). Es
wird innerlich erlebt, unabhängig von fremder
Beurteilung (2). Sein Lohn das ewige Leben, dem es die
Hl. Schrift gleichsetzt (3).
1.
Im vorausgehenden Buche haben wir von den Pflichten
gehandelt, die nach unserem Urteil dem Sittlichguten
entsprechen. Niemand konnte zweifeln, daß hierin das
selige Leben ruht, das die Heilige Schrift das ewige
Leben nennt. So groß ist nämlich der Glanz des
Sittlichguten, daß gerade die Ruhe des Gewissens und der
sichere Besitz der Unschuld das selige Leben ausmachen.
Wie die Sonne nach ihrem Aufgang den Mondball und die
übrigen Lichtkörper am Sternenhimmel schwinden macht, so
überstrahlt der Glanz des Sittlichguten, wo er in wahrer
und ungebrochener Schönheit aufblitzt, alles andere, was
nach Maßgabe der Sinnenlust für gut, oder nach dem
Urteil der Welt für herrlich und ruhmvoll gilt.
2.
Selig fürwahr das Leben, dessen Wertschätzung nicht von
fremdem Urteil abhängt, sondern das, ein Selbstrichter,
im eigenen Empfinden erlebt wird! Es bedarf des
Leumundes der Leute nicht als Lohnes, fürchtet ihn aber
auch nicht als Strafe. Je weniger es nach Ruhm strebt,
desto mehr ist es darüber erhaben. Denn wer nach Ruhm
verlangt, besitzt in diesem Lohne des Gegenwärtigen nur
den Schatten des Zukünftigen, und damit ein Hindernis
des ewigen Lebens, wie es im Evangelium geschrieben
steht: „Wahrlich ich sage euch, sie haben ihren Lohn
schon erhalten“[441].
Jene sind gemeint, die wie mit Posaunenschall ihre
Freigebigkeit, die sie gegen Arme üben, bekanntzumachen
wünschen; ebenso ihr Fasten, mit dem sie Aufsehen machen
wollen. „Sie haben ihren Lohn“, so heißt es[442].
3.
So ist es denn dem Sittlichguten eigen, im Verborgenen
sei es Barmherzigkeit zu üben, sei es Fasten zu halten;
es soll sich damit zeigen, daß du allein nur von deinem
Gott, nicht auch von den Menschen deinen Lohn suchst.
Denn wer ihn von den Menschen sucht, „der hat seinen
Lohn“; wer hingegen von Gott, der hat das ewige Leben,
das nur der Urheber der Ewigkeit[443]
verleihen kann gemäß jenem Ausspruche: „Wahrlich, ich
sage dir, noch heute wirst du mit mir im Paradiese sein“[444].
So nannte denn die Schrift das selige Leben deutlich
genug das ewige Leben: es sollte seine Würdigung nicht
menschlichen Auffassungen überlassen, sondern dem
göttlichen Urteil unterstellt werden.
II.
Kapitel
Vom
seligen Leben: Die verschiedenen Auffassungen der
Philosophie (4). Die Hl. Schrift verlegt es in die
Gotteserkenntnis und die guten Werke (5), lange bevor
man von einer Philosophie hörte (6): die beiden Elemente
sind unzertrennlich (7).
4.
Von den Philosophen nun verlegten die einen das selige
Leben in die Schmerzlosigkeit, wie Hieronymus, andere in
die Erkenntnis der Dinge, wie Herillus. Dieser hörte
nämlich, wie Aristoteles und Theophrast der Erkenntnis
der Dinge wunderbares Lob spendeten, und setzte darum in
sie allein das höchste Gut, während jene sie wohl als
ein Gut, nicht aber als das einzige Gut priesen. Andere,
wie Epikur, nannten den Genuß; andere, wie Kallipho und
nach ihm Diodor, erklärten sich dahin, daß der eine das
Sittlichgute mit dem Genusse, der andere mit dem
Freisein von Schmerz zugleich verband, indem es ohne
dasselbe kein seliges Leben geben könne. Der Stoiker
Zeno behauptete, das Sittlichgute sei das einzige und
höchste Gut; Aristoteles hingegen, bezw. Theophrast und
die übrigen Peripatetiker, das selige Leben beruhe zwar
in der Tugend, d. i. im Sittlichguten, aber zum Vollmaß
ihrer Seligkeit gehörten auch die leiblichen und äußeren
Güter.
5.
Die göttliche Schrift dagegen verlegte das ewige Leben
in die Erkenntnis Gottes und die Frucht des guten
Wirkens. Für beide Behauptungen spricht denn auch das
Zeugnis des Evangeliums. Was einerseits die Erkenntnis
anlangt, so äußerte sich der Herr Jesus folgendermaßen:
„Das ist aber das ewige Leben, daß sie Dich, den
alleinigen wahren Gott, erkennen, und den Du gesandt
hast, Jesus Christus“[445].
Was andrerseits die Werke betrifft, so gab er folgenden
Bescheid: „Jeder, der Haus oder Brüder oder Schwestern
oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker um meines
Namens willen verläßt, wird hundertfältig empfangen und
das ewige Leben besitzen“[446].
6.
Damit man jedoch nicht glaube, das sei etwas Neues und,
bevor es im Evangelium ausgesprochen ward, von den
Philosophen behandelt worden — die Philosophie nämlich,
d. i. Aristoteles und Theophrast, oder auch Zeno und
Hieronymus, sind wohl älter als das Evangelium, doch
jünger als die Propheten —, so höre man, wie beide
Punkte, lange bevor man von den Philosophen auch nur dem
Namen nach vernahm, durch den Mund des heiligen David
offen ausgesprochen erscheinen. Denn es steht
geschrieben: „Selig, wen Du, o Herr, unterweist und über
Dein Gesetz belehrst!“[447]
Auch anderen Orts lesen wir: „Selig der Mann, der den
Herrn fürchtet! An seinen Geboten wird er übergroße Lust
haben“[448].
Auf die Erkenntnis bezog sich unsere Belehrung. Als
deren Lohn nannte der Prophet die Frucht der Ewigkeit
und setzte bei, im Hause eines Menschen, der den Herrn
fürchtet, bezw. der im Gesetze unterrichtet ist und an
den göttlichen Geboten seine Lust hat: „Ehre und
Reichtum ist in seinem Hause, und seine Gerechtigkeit
währt in alle Ewigkeit“[449].
Ebenso fügte er bezüglich der Werke im gleichen Psalme
hinzu, sie verschaffen dem gerechten Mann den Lohn des
ewigen Lebens. So beteuert er: „Selig der Mann, der
mitleidig ist und leiht! Er wird seine Worte stellen im
Gerichte; denn in Ewigkeit wird er nicht zum Wanken
gebracht werden“[450].
Und im folgenden: „Er teilte aus, gab den Armen: seine
Gerechtigkeit währt in Ewigkeit“[451].
7.
Der Glaube besitzt das ewige Leben: er ist dessen gute
Grundlage. Aber auch die guten Werke besitzen es. In
Wort und Tat zugleich bewährt sich nämlich der Gerechte.
Denn wenn er nur im Reden bewandert, in Werken aber
lässig ist, straft das Tun seine Einsicht Lügen, und um
so schwerer ist die Verantwortung, wenn man weiß, was
man tun sollte, aber nicht tat, was man zu tun für
notwendig erkannte. Aber auch umgekehrt, Im Handeln
gewissenhaft, in der Gesinnung schwankend sein, hieße
über schlechter Grundlage schöne Giebelbauten aufführen
wollen. Je mehr man aufbaut, umso mehr stürzt ein. Ohne
die feste Stütze des Glaubens können die guten Werke
nicht bestehen. Eine unzuverlässige Reede im Hafen macht
das Schiff zerschellen; und ein sandiger Boden entweicht
rasch und vermag die Last des aufgeführten Baues nicht
zu tragen. Dort also winkt der volle Lohn, wo vollendete
Tugend herrscht und vernünftiges Handeln mit
vernünftigem Reden gleichsam gleichen Schritt hält.
III.
Kapitel
Vom
seligen Leben: Es beruht nach der Schrift in der
Tugendhaftigkeit und ist unabhängig vom leiblichen und
äußeren Wohl und Wehe des Menschen (8), ja offenbart
sich vorzugsweise im Leiden (9).
8.
Weil nun die bloße Wissenschaft von den Dingen, nach den
müßigen Streitreden der Philosophie zu urteilen, sei es
als Scheinwissen, sei es als Halbwissen dem Fluche der
Lächerlichkeit verfallen ist, so laßt uns erwägen, wie
klar die göttliche Schrift das Problem löst, über das
wir in der Philosophie so vielerlei verworrene und
unklare Fragen aufgeworfen sehen. Nur das Ehrenhafte ist
nach der Schrift gut; und nur die Tugend, die weder
durch leibliche oder äußere Güter einen Zuwachs, noch
durch Widerwärtigkeiten einen Eintrag erleidet, ist nach
ihrem Urteil in jeder Sachlage selig, und nichts so
selig, als was von Sünde frei, voll Unschuld und voll
Gnade Gottes ist. Denn es steht geschrieben: „Selig der
Mann, der nicht nach dem Rate der Gottlosen wandelt und
nicht auf dem Wege der Sünder steht und nicht auf dem
Stuhle der Pest sitzt, sondern seine Lust am Gesetze des
Herrn hat!“[452]
Und an einer anderen Stelle: „Selig, die unversehrt
ihren Weg gehen; die wandeln im Gesetze des Herrn!“[453]
9.
Unschuld und Wissen also machen selig. Auch vom guten
Handeln bemerkten wir oben, daß sein Lohn die Seligkeit
des ewigen Lebens sei. So erübrigt denn noch zu zeigen,
wie man es unter seiner Würde halten soll, als Anwalt
der Lust aufzutreten, oder aber den Tod zu fürchten: das
eine verächtlich, weil entnervt und weichlich, das
andere, weil unmännlich und schwächlich; wie vielmehr
gerade in Schmerz und Leiden das selige Leben sich
vorzüglich bekundet. Dies läßt sich leicht dartun, wenn
wir lesen: „Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und
verfolgt und alles Böse mit Unwahrheit wider euch redet
um der Gerechtigkeit willen! Freuet euch und frohlocket!
Denn euer Lohn ist groß im Himmel. Ebenso hat man ja
auch die Propheten verfolgt, die vor euch waren“[454].
Und an einer anderen Stelle: „Wer mir nachfolgen will,
nehme sein Kreuz und folge mir“[455].
IV.
Kapitel
Vom
seligen Leben: Durch Leiden und Widerwärtigkeiten
erfährt es nicht bloß keinen Eintrag, sondern vielmehr
Förderung. Biblische Beispiele (10—14) und Christi
Seligpreisungen (15) beweisen das.
10.
Selbst mit dem Schmerz verträgt sich die Seligkeit; denn
die Tugend, voll Süßigkeit, sich selbst überreich an
inneren Gütern, sei es an Gewissens-, sei es an
Gnadengütern, dämpft und stillt ihn. Nicht wenig selig
war Moses, da er, vom ägyptischen Volke rings bedrängt
und vom Meere eingeschlossen, kraft seiner frommen
Verdienste für sich und das Vätervolk einen gangbaren
Weg durch die Fluten gefunden hatte[456].
Wann aber wäre er starkmütiger gewesen als damals, da
er, von äußersten Gefahren umgeben, nicht an der Rettung
verzweifelte, sondern den Sieg erzwang?
11.
Wie steht es bei Aaron? Wann hätte er sich seliger
gefühlt als damals, da er in der Mitte zwischen den
Lebenden und Toten stand und sich selbst dem Tode
entgegenstellte und ihm Einhalt gebot, daß er nicht von
den Leichen der Toten zu den Scharen der Lebendigen
überginge?[457]
Was soll ich vom Knaben Daniel reden, der so weise war,
daß er inmitten der von Hunger gereizten Löwen nimmer
aus Angst vor der Wut der Bestien die Fassung verlor; so
furchtlos, daß er ohne Besorgnis, er möchte durch sein
Beispiel die wilden Tiere zur Freßgier reizen, zu essen
vermochte?[458]
12.
So birgt auch im Leid sich Tugend, die das süße Glück
eines guten Gewissens genießt und so den Beweis liefert,
daß der Schmerz den Genuß der Tugend nicht
beeinträchtigt. Wie nun die Tugend durch Schmerz
keinerlei Einbuße erfährt, so durch leiblichen Genuß
oder günstige äußere Vorteile keinerlei Zuwachs. Mit
Rücksicht darauf spricht der Apostel so schön: „Was mir
Gewinn gewesen, das erachtete ich um Christus willen für
Nachteil“[459].
Und er fügte hinzu: „Um seinetwillen erachtete ich alles
für Schaden und halte es für Kot, um Christus zu
gewinnen“[460].
13.
Darum glaubte denn auch Moses, die Schätze der Ägypter
seien für ihn nur Nachteil, und zog ihnen die Schmach
des Kreuzes des Herrn vor: weder damals reich trotz
Überfluß an Geld, noch später arm trotz Mangel an
Nahrung, es müßte denn sein, daß er einem damals, als es
ihm und seinem Volke in der Wüste an Nahrung gebrach,
weniger selig dünkte. Doch da ward ihm — und niemand
dürfte dem den Charakter höchsten Gutes und höchster
Seligkeit abzusprechen wagen — das Manna, d. i. das Brot
der Engel vom Himmel gereicht; desgleichen gab es auf
den täglichen Regen Fleisch im Überfluß zur Nahrung des
ganzen Volkes[461].
14.
Ebenso hätte es dem heiligen Elias an Brot zum
Lebensunterhalte gefehlt, würde es dessen Erwerbes
bedurft haben; aber es mangelte offensichtlich nicht,
weil es dessen nicht bedurfte: durch der Raben täglichen
Dienst ward ihm des Morgens Brot, des Abends Fleisch
herbeigebracht[462].
War er etwa deshalb weniger selig, weil er für sich
selbst dürftig war? Keineswegs. Im Gegenteil, um so
seliger, weil er für Gott reich war[463].
Denn besser ist es für andere, als für sich reich zu
sein, wie er es war. Er erbat sich in der Hungersnot von
einer Witwe Speise, um ihr die Wohltat zu erweisen, daß
der Mehltopf drei Jahre und sechs Monate lang nicht
ausging, und das Ölgefäß der armen Witwe den täglichen
Bedarf hinlänglich deckte und bot[464].
Mit Recht wollte Petrus dort sein, wo er solche Selige
schaute[465].
Mit Recht erschienen sie auf dem Berge mit Christus in
der Verklärung[466],
weil auch dieser arm wurde, da er reich war[467].
15.
So trägt denn Reichtum nichts zum seligen Leben bei. Das
bezeugte der Herr klar im Evangelium mit den Worten:
„Selig, ihr Armen, denn euer ist das Reich Gottes!
Selig, die jetzt hungern und dürsten, denn sie werden
gesättigt werden! Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr
werdet lachen!“[468]
Damit ist klar und deutlich ausgesprochen, daß Armut,
Hunger, Schmerz, die man für Übel hält, nicht bloß kein
Hindernis, sondern sogar eine Förderung für das selige
Leben bilden.
V.
Kapitel
Vom
seligen Leben: Die äußeren Güter tragen nicht bloß
nichts zur Seligkeit bei, sondern beeinträchtigen sie
obendrein (16—18). Bedenken dagegen (19) lassen sich
durch biblische Beispiele (20) und durch Kongruenzgründe
(21) zerstreuen.
16.
Aber auch umgekehrt: die Scheingüter Reichtum, Genuß und
Freude, die kein Leid trübt, sind nach dem klar
ausgesprochenen Urteil des Herrn für den Seligkeitsgenuß
von Nachteil. Denn es heißt: „Wehe euch Reichen, denn
ihr habt euren Trost! Wehe euch, die ihr gesättigt seid,
denn ihr werdet hungern; (wehe) den Lachenden, denn sie
werden trauern!“[469]
So sind also die leiblichen und äußeren Güter nicht bloß
kein Vorteil für das selige Leben, sondern sogar ein
Nachteil.
17.
Daher denn war Naboth, selbst da er vom Reichen
gesteinigt wurde, selig. Arm und schwach der Macht des
Königs gegenüber, besaß er nämlich als einzigen Reichtum
soviel Gefühl und Rücksicht, daß er den ererbten
väterlichen Weinberg um des Königs Geld nicht
vertauschen mochte; und war eben darum vollkommen, weil
er den rechtlichen Besitz seiner Vorfahren mit dem
eigenen Blute verteidigte. Daher war aber auch Achab
sogar nach seinem eigenen Urteil unselig, weil er den
Armen töten ließ, um in den Besitz seines Weinberges zu
gelangen[470].
18.
Soviel ist gewiß: die Tugend ist das einzige und höchste
Gut und allein übervoll der Frucht des ewigen Lebens;
nicht die äußeren oder die leiblichen Güter, sondern nur
die Tugend verschafft das selige Leben, durch das man
das ewige Leben erlangt. Das selige Leben beruht im
Gegenwärtigen, das ewige Leben aber in der Hoffnung auf
das Zukünftige.
19.
Und doch gibt es Leute, die das selige Leben in diesem
so schwächlichen, so gebrechlichen Leibe für
ausgeschlossen halten, da er notwendig Drangsale,
Leiden, Tränen und Siechtum mit sich führt: als ob ich
fürwahr behaupten wollte, das selige Leben beruhe im
Wohlbefinden des Leibes und nicht in der Tiefe der
Weisheit, in der süßen Ruhe des Gewissens, im Hochgefühl
der Tugend. Denn selig sein heißt nicht ein Leidender,
sondern Sieger über das Leiden sein und nicht unter der
Regung des zeitlichen Schmerzes zusammenbrechen.
20.
Setze den Fall, es treten Heimsuchungen ein, die sich
angesichts des bitteren Schmerzes schwer ertragen
lassen: Blindheit, Verbannung, Hunger, Entehrung einer
Tochter, Verlust der Kinder. Wer möchte leugnen, daß
Isaak selig gewesen ist, der im Alter nicht mehr sah und
durch seine Segensworte Seligkeiten spendete?[471]
Oder war Jakob nicht selig, der, aus dem Vaterhause
flüchtig, als gedungener Hirte die Verbannung ertragen,
die Schändung seiner Tochter beklagen, Hunger leiden
mußte?[472]
Jene Männer sollten nicht selig gewesen sein, durch
deren Glauben Gott bezeugt wird, so oft es heißt: „Der
Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs“?[473]
Unselig ist die Knechtschaft, doch nicht unselig Joseph,
vielmehr über die Maßen selig, da er in der Knechtschaft
schmachtend den Lüsten seiner Herrin wehrte[474].
Was soll ich vom heiligen David sagen, der den Tod
dreier Söhne[475]
und, was noch härter war, die Blutschande seiner Tochter[476]
zu beklagen hatte? Wie sollte er nicht selig gewesen
sein, da aus seiner Nachkommenschaft der Urheber der
Seligkeit hervorging, der so viele selig machte? Denn
„selig, die nicht gesehen und doch geglaubt haben!“[477]
Auch sie fühlten sich schwach, erstarkten aber aus
Schwachen zu Helden. Was aber gab es Leidvolleres als
den heiligen Job, sei es wegen der Einäscherung seines
Hauses, sei es wegen des plötzlichen Todes seiner zehn
Kinder und seiner körperlichen Schmerzen?[478]
Wäre er etwa seliger gewesen, wenn er die Prüfungen, in
denen er sich noch mehr erproben konnte, nicht ertragen
hätte?
21.
Doch es soll zugestanden werden, daß darin ein bitterer
Wermutstropfen, ein Schmerz lag, den die Tugend der
Seele nicht verbergen konnte. Ich möchte ja auch vom
Meere nicht leugnen, daß es tief ist, weil die Ufer
seicht sind; noch vom Himmel daß er glänzt, weil er
zuweilen von Wolken überzogen ist; oder von der Erde,
daß sie fruchtbar ist, weil da und dort magerer
Kiesboden sich findet; oder von den Saaten, daß sie froh
sich wiegen, weil sie dazwischen gern einen tauben Halm
haben. Ebenso glaube, daß die Erntefrucht des guten
Gewissens von einigem Bitterkraut des Schmerzes
durchsetzt ist! Wird nicht das Widerwärtige und Bittere,
das etwa eintritt, wie ein tauber Halm von den Garben
des seligen Gesamtlebens verdeckt oder wie der herbe
Lolch vom schmackhaften Getreide verhüllt? — Doch jetzt
zu unserem Gegenstand[479].
VI.
Kapitel
Vom
Nützlichen: Das wahrhaft Nützliche deckt sich mit dem
Sittlichguten (22—26). Einteilung des Nützlichen (27).
22.
Im vorausgehenden Buche machten wir folgende Einteilung:
an erster Stelle kam das Sittlichgute und Schickliche,
wovon die Pflichten sich herleiten, an zweiter Stelle
das Nützliche. Und wie wir beim ersten Punkte betonten,
daß zwischen dem Sittlichguten und Schicklichen ein
gewisser Unterschied besteht, der sich mehr denken als
sagen läßt, so scheint auch bei der Abhandlung über das
Nützliche die Frage ins Auge zu fassen zu sein, was das
Nützlichere sei.
23.
Die Nützlichkeit aber bestimmen wir nicht nach dem
Geldgewinste, den man abschätzt, sondern nach der
Frömmigkeit, die man erwirbt, gemäß der Versicherung des
Apostels: „Die Frömmigkeit aber ist zu allem nützlich,
indem sie die Verheißung des gegenwärtigen und
zukünftigen Lebens hat“[480].
So finden wir in der göttlichen Schrift, wenn wir uns
genau darin umsehen, häufig das Sittlichgute nützlich
genannt. „Alles steht mir frei, doch nicht alles ist
nützlich“[481].
Im Vorausgehenden sprach der Apostel von den Lastern.
Das will er sonach sagen: zu sündigen steht einem frei,
aber es schickt sich nicht; die Sünde steht in seiner
Gewalt, ist aber nicht geziemend; zu Völlerei bietet
sich leicht Gelegenheit, sie ist aber nicht recht; denn
nicht Gott, sondern dem Bauche dient die Speise, die man
zu sich nimmt[482].
24.
Weil also das Nützliche mit dem Rechten sich deckt[483],
so ist es recht, daß wir Christus dienen, der uns erlöst
hat. Gerecht waren, die sich für seinen Namen dem Tode
weihten; ungerecht, die ihm auswichen. Diesen gilt das
Wort: „Welcher Nutzen liegt in meinem Blute“[484],
d. i. welcher Vorteil in meiner Gerechtigkeit? Daher
auch ihr Ruf: „Binden wir den Gerechten, weil er uns
unnütz“[485],
d. i. weil er ungerecht ist, indem er uns anklagt,
verurteilt, straft! Freilich läßt sich die Stelle auch
auf die Habsucht gottloser Menschen, welche der
Ruchlosigkeit nachbarlich ist, beziehen, wie wir es beim
Verräter Judas lesen, der aus Habsucht und Geldgier in
die Schlinge des Verrates geriet und fiel[486].
25.
Über jenes Nützliche ist sonach zu handeln, das voll
Ehrbarkeit ist, wie es der Apostel ausdrücklich näher
bestimmte mit den Worten: „Dies aber sage ich zu eurem
Nutzen, nicht um euch eine Schlinge umzuwerfen, sondern
zu eurer Ehrbarkeit“[487].
So ist denn klar, daß das Ehrbare nützlich und das
Nützliche ehrbar ist, und daß das Nützliche gerecht und
das Gerechte nützlich ist. Nicht gewinn- und
habsüchtigen Krämerseelen nämlich, sondern meinen Söhnen
gilt die Abhandlung, und zwar eine Abhandlung über die
Pflichten, welche ich euch, die ich zum Dienste des
Herrn erkoren habe, einschärfen und einflößen möchte,
damit das, was eurem Geiste und sittlichem Verhalten
bereits durch praktische Anleitung eingepflanzt und
eingeprägt wurde, auch in Form einer schulgerechten
Abhandlung erschlossen werde.
26.
Wenn ich nun darangehe, über das Nützliche zu sprechen,
möchte ich jenes Verses beim Propheten mich bedienen:
„Wende mein Herz zu Deinen Zeugnissen und nicht zur
Habsucht!“[488]
Der Laut des Nützlichen soll nicht die Geldgier reizen.
So lesen denn auch andere: „Wende mein Herz zu Deinen
Zeugnissen und nicht zum Nutzen“, d. i. jenem auf das
Feilschen und Markten ausgehenden, jenem nach der Leute
Brauch auf Geldgier bedachten und gerichteten Nutzen!
Gewöhnlich nennt man ja nur das nützlich, was Gewinn
einträgt. Wir aber handeln von jenem Nutzen, den man
unter Nachteilen sucht,um Christus zu gewinnen[489].
Sein Gewinn besteht in der Frömmigkeit, verbunden mit
Genügsamkeit[490].
Fürwahr ein großer Gewinn, wenn wir damit die
Frömmigkeit erwerben, die bei Gott reich ist nicht an
vergänglichen Schätzen, sondern an ewigen Gaben, die
nicht verführerische Versuchung, sondern beständige und
unvergängliche Gnade bergen.
27.
So gibt es denn nach der Einteilung des Apostels
einesteils einen Nutzen des Leibes, andernteils einen
der Frömmigkeit. ,,Das leibliche Mühen nämlich“,
versichert er, „ist zu wenigem nützlich; die Frömmigkeit
aber ist zu allem nützlich“[491].
Was aber wäre so ehrbar als die Jungfräulichkeit? Was so
schicklich, als den Leib unbefleckt, die Reinheit
unverletzt und unversehrt zu bewahren? Was desgleichen
so schicklich, als daß eine Witwe ihrem verstorbenen
Gatten die Treue hält? Was nützlicher als ein Verdienst,
durch das man sich den Himmel erwirbt? Denn „es gibt
solche, die der Ehe entsagt haben um des Himmelreiches
willen“[492].
VII.
Kapitel
Vom
Nützlichen: Auch im Nützlichen gibt es Gradunterschiede
(28). Nichts frommt mehr als Beliebtheit beim Volke (29)
selbst dem Herrscher (30). Wie haben Moses (31) und
David die Liebe des Volkes verdient und gefunden
(32—38)! Zur Liebe gesellt sich von selbst das Vertrauen
des Volkes (39).
28.
Zwischen dem Sittlichguten und Nützlichen besteht sonach
nicht bloß eine innige Beziehung, sondern das Nützliche
deckt sich geradezu mit dem Sittlichguten. Darum suchte
auch der, welcher allen das Himmelreich erschließen
wollte, nicht seinen Nutzen, sondern den der
Allgemeinheit. Auch wir sollen darum eine gewisse
Ordnung und Stufenfolge von den Dingen gewöhnlicher und
allgemeiner Art bis zu den erhabeneren einhalten, um aus
dem Vielerlei einen Fortschritt im Nützlichen zu
erzielen.
29.
Fürs erste mögen wir wissen, daß nichts so nützlich ist
als Beliebtheit, nichts so nachteilig als Unbeliebtheit[493];
denn ich halte Mißliebigkeit für unheilvoll und überaus
verderblich. Laßt uns denn trachten, mit allem Eifer
unsere Achtung und unseren Ruf zu heben und namentlich
durch Sanftmut des Geistes und durch Herzensgüte uns die
Zuneigung der Leute zu gewinnen! Denn Güte ist jedermann
lieb und wert, und es gibt nichts, was so leicht den Weg
in die Herzen der Menschen fände. Verbinden sich mit ihr
auch noch ein sanftes, freundliches Wesen, sodann weise
Mäßigung im Befehlen und Leutseligkeit im Gespräch,
ehrende Worte und auch geduldiges Anhören von Widerrede
sowie gewinnende Bescheidenheit, so möchte man es nicht
glauben, zu welchem Maß von Beliebtheit sie
fortschreitet[494].
30.
Wir lesen nämlich nicht bloß von gewöhnlichen Menschen,
sondern selbst von Königen, wieviel Nutzen holde,
liebenswürdige Herablassung, bezw. wieviel Schaden
hochfahrendes Wesen und hochmütige Rede angestiftet
haben, so daß sie sogar den Sturz ihrer Reiche, die
Vernichtung ihrer Macht zur Folge hatten; Gewinnt nun
einer durch Einsicht, Erfahrung, Dienstgefälligkeit die
Gunst des Volkes, oder setzt einer unter Gefahr sein
Leben für das ganze Volk ein, so strömt zweifellos so
viel Liebe von Seiten des Volkes auf ihn zurück, daß es
sein Heil und sein Wohlbefinden dem eigenen vorzieht[495].
31.
Wieviel Schmähungen mußte nicht Moses von Seiten des
Volkes hinnehmen! Und doch bot er sich, als der Herr an
den übermütigen Volksgenossen Rache nehmen wollte,
wiederholt für das Volk zum Opfer dar, um es vom Zorne
Gottes zu erretten[496].
Mit wie sanften Worten redete er auf Beleidigungen das
Volk an, tröstete es in seinen Nöten, beschwichtigte es
mit göttlichen Aussprüchen, erquickte es mit seinen
Taten! Und obschon er beständig mit Gott redete, pflegte
er doch die Leute demütig und freundlich anzureden und
ins Gespräch zu ziehen. Mit Recht hielt man ihn für
einen Übermenschen, so daß man selbst sein Angesicht
nicht zu schauen vermochte[497]
und glaubte, sein Grab habe sich nicht finden lassen[498].
So nämlich hatte er die Herzen des ganzen Volkes an sich
gefesselt, daß ihre Liebe zu ihm ob seiner Sanftmut
größer war als ihre Bewunderung für seine Taten.
32.
Wie steht es mit seinem Nachahmer, dem heiligen David,
der aus allen zur Regierung des Volkes erkoren ward? Wie
sanft und liebenswürdig war er, wie demütigen Geistes,
arglosen Herzens, huldvoller Gesinnung! Noch vor dem
Regierungsantritt setzte er für alle sein Leben ein. Als
König tat er es allen im Kriegsdienst gleich und teilte
mit ihnen die Kampfesmühe: tapfer in der Schlacht, milde
auf dem Throne, geduldig bei Schmähung, bereit, lieber
Unrecht zu ertragen als zu vergelten. Daher war er auch
bei allen so beliebt, daß er, noch ein Jüngling, wider
seinen Willen zum Könige begehrt und trotz Widerstreben
hierzu genötigt ward, als Greis aber von den Seinigen
gebeten wurde, sich nicht in die Schlacht zu mengen,
indem lieber alle für ihn, statt er für alle, der Gefahr
sich aussetzen wollten[499].
33.
In folgender Weise hatte er sich durch seine
liebenswürdigen Dienste das Volk verbunden: Vor allem
wollte er bei den Volksfehden lieber als Verbannter in
Hebron denn als König in Jerusalem weilen[500].
Sodann liebte er auch am Feinde die Tugend und glaubte
auch denen, welche die Waffen wider ihn getragen hatten,
in gleicher Weise wie den Seinigen Gerechtigkeit
widerfahren lassen zu müssen[501].
Endlich zollte er dem tapferen Vorkämpfer der
Gegenpartei, dem Feldherrn Abner, seine Bewunderung, als
er Schlachten gegen ihn lieferte, und wies ihn, da er um
Gnade und Frieden bat, nicht ab, sondern ehrte ihn durch
ein Gastmahl, betrauerte und beweinte ihn, als er in
einem Hinterhalte ermordet wurde, gab seinem Leichenzug
ein ehrenvolles Geleite, rächte seinen Tod, hielt
gewissenhaft die Treue, die er seinem Sohne schriftlich
unter den Erbrechten zusicherte, noch mehr besorgt, den
Tod des Schuldlosen nicht ungestraft zu lassen, als
seinen Tod zu betrauern[502].
34.
Es ist keine Kleinigkeit, zumal für einen König, so
demütigen Diensten sich zu unterziehen, daß er selbst
den Geringsten gegenüber sich herablassend erwies, unter
Gefährdung anderer keine Speise sich zu verlangen, den
Trank auszuschlagen, die Sünde zu bekennen und sich
selbst für das Volk dem Tode weihen zu wollen, um Gottes
Unwillen auf sich abzulenken. Bot er sich doch dem
Strafengel mit den Worten an: „Sieh, ich bin's, ich habe
gesündigt und ich, der Hirte, Böses getan: was tat denn
die Herde hier? Über mich komme Deine Hand!“[503]
35.
Was soll ich denn des weiteren hervorheben, daß er
seinen Mund nicht öffnete gegen die, so auf Trug sannen
und, als hörte er nicht, keine Widerrede führen zu
sollen glaubte[504],
auf Verunglimpfungen nicht antwortete, bei
Herabsetzungen seiner Person betete, bei Schmähungen
segnete?[505]
Daß er in Einfalt wandelte, die Stolzen floh, den
Unschuldigen nachahmte, er, der Asche in seine Speisen
streute, während er seine Sünden beweinte und seinen
Trank mit Tränen mischte?[506]
Mit Recht war er beim ganzen Volke so beliebt, daß alle
Stämme Israels zu ihm kamen und riefen: „Sieh, wir sind
dein Gebein und dein Fleisch! Gestern und vorgestern, da
Saul noch war und über uns herrschte, warst du es, der
Israel aus- und einführte. Und zu dir sprach der Herr:
Du sollst mein Volk weiden“[507].
Was soll ich mehr von ihm sagen? Erging doch über ihn
der Ausspruch Gottes, der von ihm beteuerte: „Ich habe
David nach meinem Herzen befunden“[508].
Wer wäre denn so wie er in Heiligkeit des Herzens und
Gerechtigkeit gewandelt, um den Willen Gottes zu
erfüllen? Ward doch um seinetwillen selbst noch seinen
Nachkommen, wenn sie sich vergingen, Verzeihung gewährt
und als seinen Erben Gnade vor Recht gewahrt[509].
36.
Wer hätte ihn denn nicht liebgewinnen müssen, wenn er
sah, wie er den Freunden so lieb war, daß er, weil er
selbst aufrichtige Freundesliebe übte, der gleichen
Liebe von selten seiner Freunde versichert war?[510]
So zogen ihn denn auch Eltern ihren Kindern, Kinder
ihren Eltern vor. Saul geriet darob heftig in Zorn und
wollte seinen Sohn Jonathas mit dem Speere durchbohren,
weil er glaubte, Davids Freundschaft gelte bei ihm mehr
als die Liebe und das Ansehen des Vaters[511].
37.
Zur Entfachung der Liebe trägt überhaupt am meisten bei,
wenn einer den Liebenden Gegenliebe erweist und zeigt,
daß seine Gegenliebe nicht hinter der Liebe, die er
selbst findet, zurückbleibt, und dies aus Proben treuer
Freundschaft offen erhellt. Was wäre denn so
herzgewinnend als Wohlwollen? Was der Natur so eigen als
einen Liebenden zu lieben? Was dem menschlichen Gemüte
so eingepflanzt und eingeprägt als das Herzensbedürfnis,
den zu lieben, von dem man geliebt sein möchte? Mit
Recht spricht der Weise: „Laß um des Bruders und des
Freundes willen Geld zu Verlust gehen!“[512]
Und an einer anderen Stelle: „Einen Freund zu grüßen,
will ich mich nicht schämen und angesichts desselben
mich nicht verbergen“[513].
Bezeugt doch das Wort des Ekklesiastikus, am Freunde
habe man „eine Arznei des Lebens und der
Unsterblichkeit“[514].
Und niemand zweifle, daß in der Liebe eine gar mächtige
Schutzwehr liegt. Versichert doch der Apostel: „Alles
erträgt sie, alles glaubt sie, alles hofft sie, alles
duldet sie, nimmer kommt die Liebe zu Fall“[515].
38.
Daher wankte Davids Thron nicht, weil er jedermann lieb
war und von den Untertanen geliebt statt gefürchtet sein
wollte. Die Furcht leistet ja nur eine vorübergehende
Schutzwache, kennt keine dauernde Hut. Sobald daher die
Furcht weicht, wagt Verwegenheit sich hervor; denn nicht
Furcht erzwingt die Treue, sondern Liebe schafft sie[516].
39.
So gereicht uns denn in erster Linie Liebe zur
Empfehlung. Es ist daher gut, wenn wir im Geruche
allgemeiner Beliebtheit stehen. Daraus ersteht das
Vertrauen, so daß selbst Fremde unbedenklich deiner
Gewogenheit sich anvertrauen, wenn sie sehen, wie du bei
der Mehrzahl beliebt bist. Ähnlich wie durch Liebe kann
es auch durch Vertrauen dahinkommen, daß einer, der
einem oder zweien die Treue wahrte, allen gleichsam ins
Herz wächst[517]
und aller Gunst erwirbt.
VIII. Kapitel
Vom
Nützlichen: Als Drittes empfiehlt einen weiser Rat, der
auf Klugheit und Gerechtigkeit beruht (40—43). Beide
Erfordernisse im Urteil Salomos vorbildlich eingelöst
(44—47).
40.
Diese beiden Stücke nun tragen am meisten zu unserer
Empfehlung bei: Liebe und Vertrauen; und als drittes
folgender Vorzug, wenn man ihn besitzt, weil die große
Menge ihn an einem bewunderungswürdig findet und mit
Recht für ehrenwert erachtet[518].
41.
Und weil gerade erfahrener Rat die Leute in höchstem
Maße gewinnt, darum ist für jeden Klugheit und
Gerechtigkeit erforderlich, und die Mehrheit erwartet
sie auch, so daß man einem, der sie besitzt, zutraut,
daß er auf Wunsch nützlichen und verlässigen Rat zu
erteilen vermag. Wer möchte ihm denn trauen, wenn er ihn
nicht für weiser halten könnte, als er, der Ratsuchende,
selbst ist? Der um Rat Gebetene muß daher notwendig
vortrefflicher sein als der Ratsuchende. Was wollte man
denn einen zu Rate ziehen, dem man nicht besser als der
eigenen Einsicht die Fähigkeit zutraut, das Rechte zu
treffen[519].
42.
Findet man nun einen, der durch Schärfe des Denkens,
durch Kraft und Überlegenheit des Geistes sich hervortut
und es dahin bringt, daß er durch (fremdes) Beispiel und
Erfahrung noch größere Meisterschaft erlangt,
gegenwärtige Gefahren beschwört, künftige voraussieht,
auf drohende aufmerksam macht, auch den Grund hiervon
aufzeigt, das Rettungsmittel zur rechten Zeit angibt und
nicht bloß zu Rat, sondern auch zur helfenden Tat bereit
ist[520]:
so schenkt man einem solchen Glauben, so daß der
Ratsuchende sprechen mag: „Sollte mir selbst Schlimmes
durch ihn begegnen, ich nehme es hin“[521].
43.
Einem solchen Manne nun, der nach der obigen Ausführung
gerecht und klug ist, vertrauen wir unser Leben und
unseren Ruf an, Die Gerechtigkeit nämlich bürgt dafür,
daß kein Trug zu fürchten steht[522];
desgleichen die Klugheit dafür, daß keine Irrung zu
besorgen ist. Freilich noch bereitwilliger verlassen wir
uns, um mit der gewöhnlichen Erfahrung zu sprechen, auf
einen gerechten als auf einen klugen Mann[523].
Nach philosophischer Auffassung begegnen sich übrigens
dort, wo eine Tugend sich findet, auch die übrigen[524],
und kann es eine Klugheit ohne die Gerechtigkeit nicht
geben. Auch bei den Unsrigen finden wir das
ausgesprochen. David nämlich versichert: „Der Gerechte
ist mitleidig und leiht“[525].
Was der Gerechte leiht, spricht er an einer anderen
Stelle aus: „Liebenswürdig der Mann, der mitleidig ist
und leiht: er wird seine Worte zurechtstellen im
Gerichte“[526].
44.
Ist jenes berühmte Urteil Salomos nicht voll Weisheit
und Gerechtigkeit? Betrachten wir denn, ob es also ist!
Zwei Weiber, heißt es, standen vor dem Könige Salomo,
und es sprach eines davon zu ihm: Höre mich, Herr! Ich
und das Weib hier wohnten in einem Schlafgemache. Vor
drei Tagen kamen wir nieder und bekamen jedes ein Kind.
Und wir waren zusammen: kein Zeuge im Hause, kein
anderes Weib mit uns, nur wir allein. Da starb dessen
Kind in dieser Nacht, als es über ihm eingeschlafen war.
Und es stand mitten in der Nacht auf, nahm mein Kind von
meinem Busen hinweg, barg es an seinem Busen und legte
sein Kind an meinen Busen. Und ich stand am Morgen auf,
um den Kleinen zu stillen: da fand ich ihn tot. Und ich
betrachtete ihn beim Frühlicht: und es war nicht mein
Kind. Und das andere erwiderte: Nein, sondern das ist
mein Kind, das lebt; dein Kind dagegen, das gestorben
ist[527].
45.
Dies nun war der Streit. Jede beanspruchte für sich das
überlebende Kind, stellte hingegen den Tod des ihrigen
in Abrede. Da befahl der König ein Schwert zu bringen,
das Kind entzweizuteilen und jeder einen Teil zu geben,
der einen die Hälfte und der anderen die Hälfte. Da rief
das Weib, das von der wahren Mutterliebe übermannt war:
Nie und nimmer, Herr, zerteile das Kind! Lieber werde es
jener gegeben und bleibe am Leben, und nicht töte es!
Jene zweite hingegen versetzte: Weder mir noch ihr soll
das Kind gehören: teilet es! Da entschied der König, das
Kind solle jenem Weibe gegeben werden, das gerufen
hatte: Tötet es nicht, sondern gebt es jenem Weibe! Denn
ob ihres Kindes, sagte er sich, ward ihr Herz gerührt[528].
46.
Nicht ohne Grund glaubte man daher, daß göttliche
Einsicht ihm innewohne[529].
Was wäre denn Gott verborgen? Was aber gibt es
Verborgeneres als das Zeugnis des Herzens im Innern.
Dahin nun stieg gleichsam der Geist des Weisen als
Richter über die Mutterliebe hinab und ließ sozusagen
den Mutterschoß zu Worte kommen. Denn offenkundig ward
das Mutterherz mit der Wahl, die es getroffen: ihr Kind
möge, und sollte es an der Seite einer Fremden sein,
lieber am Leben bleiben, als vor den Augen der Mutter
getötet werden.
47.
Aufgabe der Weisheit war es also, die geheimen Gewissen
zu unterscheiden, aus dem Verborgenen die Wahrheit ans
Licht zu bringen und mit des Geistes Schwert wie mit
einem Messer nicht bloß ins Innere des Mutterschoßes,
sondern selbst der Seele und des Geistes zu dringen;
ebenso Aufgabe der Gerechtigkeit, daß jene, die ihr Kind
getötet hatte, das fremde nicht wegnehmen konnte,
vielmehr die wahre Mutter das ihrige erhielt. Das wollte
denn auch die Schrift offenkundig machen: „Ganz Israel“,
heißt es, „hörte von diesem Urteil, das der König
fällte; und Furcht überkam sie vor dem Könige, weil die
Einsicht Gottes ihm innewohnte, Gerechtigkeit zu üben“[530].
Und auch Salomo selbst bat also um Weisheit: es möchte
ihm ein kluges Herz verliehen werden, um mit
Gerechtigkeit zu verhören und zu richten[531].
IX.
Kapitel
Vom
Nützlichen: Sind auch Klugheit und Gerechtigkeit
unzertrennlich (48), bleibt doch die herkömmliche
Unterscheidung und Einteilung der Kardinaltugenden am
Platz (49).
48.
Es steht sonach fest, daß es auch nach der göttlichen
Schrift, die das höhere Alter aufweist, keine Weisheit
ohne die Gerechtigkeit geben kann; denn wo nur eine
dieser Tugenden ist, da sind beide. Wie weise kam nicht
auch Daniel durch seine tiefsinnige Fragestellung,
worauf die Verleumder keine übereinstimmende Antwort
mehr zu geben wußten, auf die Lügenhaftigkeit der
falschen Anschuldigung![532]
Aufgabe der Klugheit war es, die Schuldigen durch ihr
Wort Zeugnis ablegen zu lassen und zu entlarven; Aufgabe
der Gerechtigkeit desgleichen, die Schuldigen der Strafe
zu überantworten, die Unschuldigen davor zu bewahren.
49.
So besteht denn eine unzertrennliche Gemeinschaft
zwischen der Weisheit und Gerechtigkeit. Nach der
gewöhnlichen Auffassung jedoch unterscheidet man die
einzelnen Tugendnormen. Die Mäßigkeit liegt danach in
der Verachtung der sinnlichen Genüsse; der Starkmut
zeigt sich in Mühen und Gefahren; die Klugheit in der
Entscheidung für das Gute, indem sie zwischen dem
Nützlichen und Nachteiligen zu unterscheiden weiß; die
Gerechtigkeit darin, daß sie als gute Hüterin fremden
Rechtes und als Beschützerin des eigenen Besitzes jedem
das Seinige wahrt. Wir wollen es in Rücksicht auf die
gewöhnliche Auffassung bei dieser Vierteilung bewenden
lassen, so daß wir von jener spitzfindigen Erörterung
über den philosophischen Weisheitsbegriff, die zur
Näherbestimmung der Wahrheit gleichsam aus unnahbarer
Tiefe schöpft, Umgang nehmen und dem allgemeinen Brauch
und der gewöhnlichen Auffassungsweise folgen. Unter
Wahrung dieser Einteilung nun wollen wir zum Gegenstand
zurückkehren[533].
X.
Kapitel
Vom
Nützlichen: Gerechter Rat geht vor klugem (50); der
beste vereinigt Klugheit und Gerechtigkeit (51).
Vorbildlich Salomos Weisheit (51—53), Josephs (54) und
Daniels Rat (55).
50.
Nur dem möglichst Klugen vertrauen wir unsere Sache an
und von ihm erbitten wir uns lieber als von jedem
anderen Rat. Doch besser noch ist der Rat des gerechten
Mannes und wiegt oft die Einsicht des Weisesten auf.
Denn „mehr frommen die Wunden von einem Freund als die
Küsse anderer“[534].
Weil sodann dem Gerechten das Urteil, dem Weisen aber
dessen Begründung zusteht, obliegt ersterem die strenge
Prüfung des Verhandlungsergebnisses, letzterem das
schlaue Vorgehen zur Aufdeckung des Falles.
51.
Vereinigt man beides, werden sich jene ungemein
heilsamen Ratschläge erteilen lassen, die jedermann aus
Bewunderung für die Weisheit und aus Liebe zur
Gerechtigkeit erwartet; alle werden die Weisheit eines
solchen Mannes, in welchem sich beide Tugenden
verbinden, zu hören suchen[535],
wie alle Könige der Erde das Angesicht Salomos zu
schauen und seine Weisheit zu hören suchten, so daß auch
die Königin von Saba zu ihm kam und durch Fragen ihn
erprobte: Und sie kam und redete alles, was sie auf dem
Herzen hatte, und hörte alle Weisheit Salomos, und es
entging ihr kein Wort davon[536].
52.
Wer diese ist, der nichts entgeht, und daß es nichts
gibt, was ihr der wahre Salomo nicht kundgetan hätte,
das erschließe, o Mensch, aus dem, was du sie reden
hörst! „Wahr ist“, so beteuert sie, „das Gerücht, das
ich in meinem Lande über deine Reden und deine Klugheit
vernommen habe; und ich glaubte dem nicht, was man mir
sagte, bis ich kam, und meine Augen es schauten. Und nun
ist das, was man mir kundgab, nicht einmal die Hälfte.
Das Gute, das du auftischtest, übertraf alles, was ich
in meinem Lande hörte. Selig deine Frauen und selig
deine Diener, die an deiner Seite stehen, die alle deine
Klugheit vernehmen!“[537]
Erkenn das Gastmahl des wahren Salomo und was bei diesem
Gastmahle aufgetragen wird! Erkenn weise und erwäge, in
welchem Lande die Heidenkirche den Ruf der wahren
Weisheit und Gerechtigkeit vernahm und mit welchen Augen
sie ihn sah, da sie Dinge unsichtbarer Art schauten!
„Denn das Sichtbare ist zeitlich, das Unsichtbare aber
ewig“[538].
53.
Wer anders sind die „seligen Frauen“ als jene, von
welchen es heißt: „Viele hören das Wort Gottes und
bringen es hervor“?[539]
Und an einer anderen Stelle: „Denn wer immer das Wort
Gottes tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und
Mutter“[540].
Wer anders ferner sind „deine seligen Diener an der
Seite“ als ein Paulus, der beteuerte: „Bis zu diesem
Tage stehe ich da und lege öffentlich Zeugnis ab vor
klein und groß“?[541],
als ein Symeon, der im Tempel harrte, um den Trost
Israels zu schauen?[542]
Warum hätte er denn um Entlassung gebeten[543],
wenn nicht deshalb, weil er, vor dem Herrn stehend, ohne
den Willen des Herrn kein Recht zum Scheiden hatte? Zum
Vorbild ward Salomo uns vor Augen gestellt mit der
Forderung, wetteifernd von ihm die Weisheit zu hören.
54.
Auch Joseph hatte nicht einmal im Gefängnisse soviel
Ruhe, daß man ihn nicht in zweifelhaften Fällen zu Rate
zog. Ganz Ägypten frommte sein Rat, so daß es nicht
unter der Unfruchtbarkeit der sieben Jahre leiden
brauchte und andere Völker von der traurigen Hungersnot
befreite[544].
55.
Daniel, aus der Mitte der Gefangenen zum Vorsitzenden
über die königlichen Räte bestellt, griff bessernd durch
seinen Rat in die Gegenwart ein und verkündete die
Zukunft[545].
Denn nachdem er sich durch seine häufigen Deutungen als
ein Verkündiger der Wahrheit erwiesen hatte, schenkte
man ihm in allem Glauben.
XI.
Kapitel
Vom
Nützlichen: Die Bedingungen zur Erteilung eines
vertrauenswürdigen Rates vorbildlich eingelöst bei
Salomo, Moses (56), Daniel (57—58) und Joseph (59).
56.
Aber auch der an dritter Stelle genannte Vorzug unter
denen, die der Bewunderung für würdig erachtet würden[546],
scheint mit dem Hinweis auf das Beispiel Josephs,
Salomos und Daniels sich zu erledigen. Was sollte ich
denn von Moses reden, auf dessen Ratschläge ganz Israel
täglich harrte?[547]
Schon das Leben dieser Männer weckte Vertrauen zu ihrer
Klugheit und steigerte die Bewunderung für dieselbe. Wer
hätte nicht dem Rate des Moses vertraut, dem die
Ältesten im Fall, daß ihrer Ansicht nach etwas die
eigene Einsicht und Kraft überstieg, die Entscheidung
anheimstellten?
57.
Wer hätte Daniels Rat zurückgewiesen, von dem Gott
selbst beteuerte: ,,Wer ist weiser als Daniel?“[548]
Oder wie hätten die Leute im Zweifel über die Einsicht
derer sein können, denen Gott so große Gnade verlieh?
Durch des Moses Rat wurden Kriege beendet[549],
durch des Moses Verdienste strömte Speise vom Himmel[550],
Trank aus dem Felsen[551].
58.
Wie rein war Daniels Seele, daß er der Barbaren Sitten
milderte, Löwen besänftigte![552].
Welche Mäßigkeit war in ihm! Welche geistige und
leibliche Enthaltsamkeit! Nicht mit Unrecht ward er
Gegenstand der Bewunderung für alle, da er, was doch die
Menschen so gewaltig anstaunen, trotz der Freundschaft
mit Königen, auf die er sich stützen konnte, nicht nach
Gold verlangte und das ihm übertragene Ehrenamt nicht
über den Glauben stellte[553].
Ja er wollte sogar lieber für das Gesetz des Herrn
Gefahr laufen, als um den Preis von Menschengunst sich
umstimmen lassen[554].
59.
Was soll ich denn von der Keuschheit und Gerechtigkeit
des Joseph sagen, den ich beinahe übergangen hätte?
Erstere verschmähte die Lockungen der Herrin und wies
ihre Lohnangebote zurück[555];
letztere verachtete den Tod, verscheuchte die Furcht und
wählte lieber den Kerker[556].
Wer hätte ihn, dessen reiche Seele und fruchtbarer Geist
eine unfruchtbare Zeit gleichsam mit dem Born des Rates
und der Einsicht speiste, nicht auch in einer
persönlichen Angelegenheit für den rechten Mann zu
Ratserholung gehalten?
XII.
Kapitel
Vom
Nützlichen: Nicht von einem lasterhaften oder
verschlossenen Menschen läßt sich Rats erholen (60—62),
sondern von Männern nach Art der gottgesandten Ratgeber
des Alten Bundes (63).
60.
Bei Ratschlägen, die zu erholen sind, kommt nun, wie wir
sehen, recht viel auf die Rechtschaffenheit des Lebens,
den Vorzug der Tugenden, die Betätigung des Wohlwollens
und liebenswürdige Herablassung an. Wer wollte denn in
einer Pfütze Quellwasser suchen? Wer aus trübem Wasser
einen Trunk verlangen? Wer glaubte dort, wo Völlerei, wo
Unenthaltsamkeit herrscht, wo ein Lasterstrom sich
ergießt, etwas einschlürfen zu sollen? Wer würde nicht
einen unflätigen Sittenwandel verachten? Wer wollte
jemand für einen nützlichen Anwalt in einer fremden
Sache halten, wenn er ihn in seinem eigenen Leben als
einen Nichtsnutz sieht? Wer würde nicht hinwiederum
einem ruchlosen, übelwollenden und schmähsüchtigen
Menschen fernbleiben, der bereit ist, einem nur Schaden
zuzufügen? Wer ihm nicht mit aller Beflissenheit aus dem
Wege gehen?
61.
Wer aber möchte einen um hilfreichen Rat angehen, der,
obschon hierzu fähig, doch schwer zugänglich ist; der
denselben wie ein verschlossenes Quellwasser in sich
trägt? Was nützt denn die Weisheit, die du hast, wenn du
den Rat verweigerst? Bist du nicht zu bewegen, einen Rat
zu erteilen, dann hast du die Quelle verschlossen, so
daß sie weder anderen fließt, noch dir selbst nützt.
62.
Das trifft genau auch bei dem zu, der wohl Klugheit
besitzt, sie aber mit schmutzigen Lastern befleckt. Er
verunreinigt das hervorquellende Wasser. Das Leben
entlarvt die entartete Gesinnung. Wie könnte man denn
jemand für einen trefflichen Ratgeber halten, den man
sittlich minderwertig sieht? Über mich erhaben muß sein,
dem ich bereitwillig trauen soll. Oder werde ich den für
geeignet erachten, der mir einen Rat erteilt, den er
sich selbst nicht gibt? Und werde ich von dem glauben,
daß er sich mir schenkt, der sich selbst nicht gehört?
dessen Seele Genußsucht einnimmt, Lust überwältigt,
Habsucht unterjocht, Begierlichkeit beunruhigt, Furcht
quält? Wie soll da Raum für Rat sein, wo kein Raum für
Ruhe ist?
63.
Bewunderungswürdig und verehrungswürdig ist mir der
Ratgeber, wie ihn der Herr den Vätern, wenn hold
gesinnt, gab, wenn beleidigt, nahm[557].
Ihn muß ein Ratgeber nachahmen und seine Klugheit vor
Laster bewahren; denn „nichts Unreines darf über sie
kommen“[558].
XIII. Kapitel
Vom
Nützlichen: Die Schönheit der Weisheit (64), der
unzertrennlichen Genossin aller Tugenden (65).
64.
Wer wollte gleichsam vorne den Schein der Schönheit zur
Schau tragen und hinten mit viehischem Aussehen und
tierischen Klauen den Reiz der höheren Anmut entstellen?
Ist doch nach dem Zeugnis des Schrifttextes die Anmut
der Tugend und insbesonders die Schönheit der Weisheit
so wunderbar und erhaben! „Herrlicher wie die Sonne ist
diese und, mit dem Lichte verglichen, über alle
Sternenpracht vorzüglicher befunden; denn dieses Licht
raubt die Nacht, über die Weisheit aber obsiegt nicht
die Bosheit“[559].
65.
Wir sprachen von ihrer Schönheit und bewiesen es durch
ein Schriftzeugnis. Es erübrigt noch, an der Hand der
Schrift darzutun, daß sie nichts mit den Lastern gemein
hat, wohl aber mit den übrigen Tugenden unzertrennlich
verbunden ist; denn „ihr Geist ist beredt, sonder Makel,
sicher, heilig, das Gute liebend, scharfsinnig, gegen
Wohltun nimmer ablehnend, gütig, beständig, ruhig,
allvermögend und allschauend“[560].
Und im folgenden: „Denn Mäßigkeit lehrt sie und
Gerechtigkeit und Tugend“[561].
XIV.
Kapitel
Vom
Nützlichen: Klugheit im Verein mit Gerechtigkeit schafft
den Übermenschen (66). Gerade der (kirchliche)
Würdenträger soll ein solcher sein (67).
66.
So bringt denn die Klugheit alles zuwege, hat teil an
allem Guten. Wie könnte sie denn nützlichen Rat
erteilen, besäße sie nicht die Gerechtigkeit? So nur
gürtet sie sich mit Standhaftigkeit, schaudert vor dem
Tode nicht zurück, läßt sich durch keine Drohung, durch
keine Furcht beirren, glaubt durch keine Schmeichelei
vom Wahren abweichen zu sollen, schrickt im Bewußtsein,
daß der Weise die Welt zum Vaterlande hat, nicht vor
Verbannung zurück, bangt nicht vor Not, weil sie weiß,
daß dem Weisen, dem die ganze Welt gehört, nichts
mangelt. Was überträfe denn an Vorzüglichkeit den Mann,
den Gold nimmer zu berücken vermag, der für Geld nur
Verachtung hat und wie von einer ragenden Burg aus auf
die menschliche Habgier herabblickt? Wer es so macht,
den halten Menschen für einen Übermenschen. „Wer ist
dieser“, heißt es, ,,und wir wollen ihn loben? Denn er
hat Wunderbares vollbracht in seinem Leben“[562].
Wie wäre denn einer nicht bewunderungswürdig, der den
Reichtum verachtet, den schon so viele dem eigenen Leben
vorgezogen haben?
67.
Allen geziemt sonach strenge Genügsamkeit, am meisten
aber dem Träger eines Ehrenamtes. Den Mann in
bevorzugter Stellung sollen nicht seine Schätze
einnehmen, der Vorsteher über Freie nicht Sklave des
Geldes sein. Besser geziemt sich dies, daß er in seiner
Gesinnung über das Geld erhaben ist, in seiner
Dienstbeflissenheit unter den Freund sich herabläßt;
denn Demut steigert nur die Liebenswürdigkeit. Das ist
des Lobes voll und einem Würdenträger angemessen: nicht
mit tyrischen Kaufleuten und galaaditischen Händlern
schimpfliche Gewinnsucht teilen; nicht alles Gute im
Geld suchen und wie ein Taglöhner den Tagesverdienst
zählen, die Einnahmen überschlagen.
XV.
Kapitel
Vom
Nützlichen: Der Freigebigkeit vielfältige Betätigung,
sei es in Form von Geldaufwendungen (68—72), sei es in
Form von persönlichen Leistungen (73-75).[563]
68.
Wenn es lobenswert ist, solchen Dingen gegenüber
nüchternes Sinnes zu bleiben, wieviel vorzüglicher ist
es, sich die Liebe der Menge durch Freigebigkeit zu
erwerben, die weder gegen unverschämte Arme
verschwenderisch noch gegen wahrhaft Dürftige knauserig
ist![564]
69.
Recht vielartig aber betätigt sich die Freigebigkeit:
sie reicht und teilt nicht bloß den des täglichen
Bedarfes mangelnden Armen zum nötigen Lebensunterhalte
Nahrung aus, sondern läßt auch den verschämten Armen
ihre Sorge und Hilfe angedeihen, soweit nicht die
allgemeinen Mittel zum Unterhalte der Armen dadurch
erschöpft werden. Ich rede von dem Amtsvorsteher. Er
soll, wenn er das Priester- oder Verwaltungsamt
bekleidet, dem Bischof über solche Mitteilung machen und
letztere nicht unterschlagen, wenn er von jemand weiß,
daß er sich in dürftiger Lage befindet oder nach Einbuße
des Vermögens in Not und Dürftigkeit geraten ist, zumal
wenn er nicht durch Verschwendung in jungen Jahren,
sondern durch Erpressung von irgendwelcher Seite und
durch Vermögensverlust in diese mißliche Lage gekommen
ist[565],
so daß er außerstande ist, den täglichen Aufwand zu
bestreiten.
70.
Eine recht große Freigebigkeit ist es ferner, Gefangene
loszukaufen und aus Feindeshand zu befreien[566],
Menschen vom Tode und insbesondere Frauen vor Schande zu
erretten, Kinder den Eltern, Eltern den Kindern
zurückzuführen, Bürger dem Vaterlande wiederzugeben[567].
Dies sind nur zu bekannte Dinge aus der Verwüstung, die
in Illyrien und Thrakien angerichtet wurde. Wie viele
Gefangene gab es da nicht überall im ganzen Umkreis
loszukaufen! Riefe man sie zurück, könnten sie nicht
eine ganze Provinz vollzählig bevölkern? Gleichwohl gab
es Leute, die sogar solche, welche die Kirchen
loskauften, in die Knechtschaft zurückstoßen wollten:
Leute, schlimmer als selbst die Gefangenschaft, da sie
denselben das fremde Mitleid mißgönnten! Wären sie
selbst in die Gefangenschaft geraten, würden sie, die
Freien, nun in Knechtschaft schmachten; wären sie
verkauft worden, würden sie sich vergeblich gegen den
Sklavendienst sträuben: und sie wollen die Freiheit
anderer aufheben, sie, die ihre eigene Knechtschaft
nicht hätten aufheben können, es würde denn einem Käufer
gefallen haben, den Kaufpreis zu erlegen! Und doch wäre
das nicht Sprengung der Sklavenketten, sondern nur ein
Loskauf gewesen.
71.
Eine besonders verdienstliche Freigebigkeit besteht
sonach im Loskauf von Gefangenen, namentlich von einem
barbarischen Feinde, der für Erbarmen nur soviel
Menschlichkeit übrig hat, als die Habsucht sich im Fall
des Loskaufes vorbehielt; ferner in der Übernahme
fremder Schulden[568],
wenn der Schuldner zahlungsunfähig ist und dennoch zu
einer Zahlung gedrängt wird, die von Rechts wegen
geschuldet und wegen Dürftigkeit nicht geleistet werden
kann; in der Aufziehung von Kindern und der Beschützung
der Waisen.
72.
Auch gibt es Personen, die elternlosen Jungfrauen zum
Schutz ihrer Keuschheit zur Ehe verhelfen und nicht bloß
für ihre Unterstützung sich bemühen, sondern auch selbst
sie durch Geldaufwand betätigen[569].
Es gibt ferner jene Art Freigebigkeit, welche der
Apostel lehrt: „Hat ein Gläubiger Witwen, soll er ihnen
reichen, daß nicht ihre Ernährung der Kirche zur Last
falle, damit diese denen, die wahrhaft Witwen sind,
genügen könne“[570].
73.
Diese Art Freigebigkeit ist wohl nützlich, aber nicht
jedermanns Sache. Denn es gibt gar manche, auch gute
Menschen, die nur über geringes Vermögen verfügen: wohl
zufrieden mit dem Wenigen für den eigenen Bedarf, aber
außerstande, Hilfe zu leisten zur Linderung fremder Not.
Doch da gibt es eine weitere Art von Wohltätigkeit, um
einem Geringeren helfen zu können. Es gibt nämlich eine
doppelte Freigebigkeit: eine, welche mit
Sachunterstützung, d. h. mit Geldaufwand hilft; eine
andere, oft viel glänzendere und viel rühmlichere,
welche in werktätiger Hilfeleistung sich ergeht[571].
74.
Wie unvergleichlich herrlicher war es, daß Abraham
seinen in Gefangenschaft geratenen Neffen mit
siegreicher Waffe statt durch Loskauf wiedergewann! Wie
unvergleichlich vorteilhafter war es, daß der heilige
Joseph dem König Pharao mit fürsorglichem Rate statt mit
Geldangebot an die Hand ging? Denn Geld hätte nicht für
eine einzige Stadt die Kosten zur reichlicheren
Versorgung gedeckt, die Vorsorge aber, die er traf,
hielt sieben Jahre lang die Hungersnot von ganz Ägypten
fern.
75.
Geld wird leicht aufgebraucht, Rat läßt sich nicht
erschöpfen[572].
Dieser steigert sich mit der Ausübung, das Geld
verringert sich und geht bald ganz aus und macht der
Mildtätigkeit ein Ende. Je mehr Dürftigen man geben
will, desto wenigeren kann man helfen, und oft ermangelt
man dessen überhaupt, was man anderen spenden zu sollen
glaubt. Rat und Tat aber, die man übt, strömen, auf je
mehr sie sich ergießen, um so voller und münden zu ihrer
Quelle zurück. Denn der reiche Strom der Klugheit fließt
in sich zurück, und je mehr Dürftigen er strömt, um so
kräftigere Wogen schlägt der ganze Strom, der
zurückflutet.
XVI.
Kapitel
Vom
Nützlichen: Die Freigebigkeit halte Maß, um nicht
Unwürdige zu unterstützen (76—77), und zwar das
Mittelmaß zwischen Knauserei und Verschwendung (78). Das
vorbildliche Beispiel des Patriarchen Joseph (79—85).
76.
Es ist klar, daß es in der Freigebigkeit ein Maß geben
muß. Das Geben darf nicht zwecklos sein, es muß vielmehr
eine vernünftige Grenze dabei eingehalten werden[573],
besonders von seiten der Priester, daß sie sich beim
Ausspenden nicht von Prahlsucht, sondern von
Gerechtigkeit leiten lassen[574].
Nirgend sonst gebärdet sich nämlich der Bettel
zudringlicher. Da kommen kräftige Burschen, kommen Leute
aus keinem anderen Grund als aus Stromerei und wollen
die Armenunterstützungen aufzehren, deren Aufwand
aufbrauchen. Mit Wenigem nicht zufrieden, verlangen sie
größere Spenden, suchen mit der Kleidertracht ihrem
Bettel nachzuhelfen und unter Vorspiegelung des
Geburtstages doppelte Beträge zu ergattern. Wer solchen
Leuten leicht Glauben schenkt, zehrt bald die Mittel
auf, die dem Unterhalte der Armen dienen sollten. Ein
Maß im Geben muß sein: die Armen sollen nicht leer
ausgehen und ihr Lebensunterhalt nicht Gaunern als Beute
überwiesen werden. Jenes Maß soll sein, daß einerseits
der Menschenfreundlichkeit nicht Abbruch geschehe,
andrerseits der Not die Hilfe nicht versagt bleibe.
77.
Gar manche spiegeln Schulden vor. Man prüfe den wahren
Sachverhalt! Sie klagen, sie seien durch Erpressungen
ausgezogen worden. Das Unrecht, bezw. die Person, die
einem etwa bekannt ist, müssen das beglaubigen, um dann
desto bereitwilliger zu helfen. Den von der Kirche
Ausgestoßenen soll eine Aufwendung zufließen, wenn es
ihnen am nötigen Lebensunterhalt gebricht. Wer daher das
rechte Maß einhält, ist gegen niemand knauserig, wohl
aber gegen jedermann freigebig. Wir sollen ja nicht bloß
ein Ohr für die Stimme der Bittenden, sondern auch ein
Auge für die Nöten (der Nichtbittenden) haben. Einen
lauteren Notschrei richtet der Anblick eines Bresthaften
als die Stimme eines Armen an die Guttäter. Freilich es
ist nicht anders denkbar: der laute, aufdringliche
Bittruf von Flehenden erpreßt mehr. Aber nicht immer
soll frecher Zudringlichkeit stattgegeben werden. Nach
jenem sollst du dich umsehen, der dir nicht unter die
Augen tritt; nach jenem dich erkundigen, der als
verschämter Arme sich nicht blicken läßt; jener
Sträfling im Gefängnis ferner soll dir (im Geiste)
begegnen; jener mit Krankheit Behaftete deinen Geist
treffen, wenn er dein Ohr nicht treffen kann.
78.
Je mehr das Volk dich wirken sieht, um so mehr wird es
dich lieben. Ich weiß von so manchen Priestern: je mehr
sie gaben, um so mehr hatten sie. Denn jeder, der einen
guten Arbeiter sieht, gibt ihm, daß er's kraft seines
Amtes verteile[575],
dessen gewiß, daß sein Mitleid den Weg zu einem Armen
findet; denn nur einem Armen will jeder seine Gabe
zugute kommen lassen. Sieht er von einem
Almosenverteiler, daß er verschwenderisch oder aber zu
knauserig ist, wird er beides verächtlich finden, sei
es, daß derselbe durch überflüssige Aufwendungen die
Früchte fremder Arbeit vergeudet, sei es, daß er sie im
Säckel zurückbehält. Wie daher Maß in der Freigebigkeit
zu halten ist, so scheint gar manchmal auch ein Ansporn
hierzu am Platz zu sein: Maß deshalb, um täglich seinem
Wohltun nachgehen zu können, um nicht die vergeudeten
Summen der Not zu entziehen; Ansporn darum, weil das
Geld in der Schüssel des Armen mehr bezweckt als im
Säckel des Reichen. Hüte dich, das Wohl der Dürftigen in
deinen Schrank zu sperren und das Leben der Armen
sozusagen ins Grab zu betten!
79.
Joseph hätte die ganzen Reichtümer Ägyptens verschenken
und des Königs Schätze vergeuden können: doch er wollte
nicht als Verschwender fremden Gutes erscheinen. Er
wollte das Getreide lieber verkaufen[576])
als an die Hungernden verschenken, weil es der großen
Mehrzahl gemangelt halte, wenn er es an wenige
verschenkt hätte. Jene Freigebigkeit zog er vor, durch
die er an die Gesamtheit reichlich austeilen konnte. Er
öffnete die Scheunen[577].
Doch alle sollten das nötige Getreide kaufen, daß sie
nicht, wenn sie es unentgeltlich bekämen, die Bestellung
des Ackerlandes unterließen[578].
Wer vom fremden Gut zehrt, vernachlässigt das eigene.
80.
Zunächst trieb er nun für den König Geld in Menge ein;
sodann verschaffte er ihm sonstige Fahrnisse; endlich
das Besitzrecht auf Ländereien[579],
nicht um alle des Ihrigen zu berauben, sondern zu deren
Unterstützung, zur Festsetzung einer öffentlichen Abgabe
behufs größerer Sicherung ihres Besitzstandes. Das
nahmen auch alle, denen er Ländereien abgenommen hatte,
willig hin: sie erblickten darin nicht den Verkauf ihres
rechtlichen Besitzes, sondern den Erlös ihres Lebens. So
beteuerten sie denn auch: „Du hast uns Heil verschafft;
wir haben Gnade gefunden vor den Augen des Herrn“[580].
Sie hatten ja auch am Eigentum nichts verloren, nachdem
sie rechtmäßig dafür entschädigt worden waren; und
hatten am eigenen Vorteil nichts eingebüßt, nachdem sie
ihre dauernde Existenz dafür gefunden hatten.
81.
O großer Mann, der nicht nach dem vergänglichen Ruhm
verschwenderischer Freigebigkeit haschte, sondern durch
nützliche Fürsorge ein dauerndes Denkmal sich setzte! Er
bewirkte ja nur, daß das Volk durch seine Abgaben sich
eine Selbsthilfe schuf und in der Zeit der Not nicht auf
fremde Hilfe angewiesen war. Es war besser, daß es einen
Teil von den Früchten abgab, statt seinen ganzen
rechtlichen Besitz zu verlieren. Den fünften Teil
bestimmte er als Abgabe[581],
in der Fürsorge ebenso umsichtig, wie in der Besteuerung
milde. So erlebte denn auch Ägypten später keine solche
Hungersnot mehr.
82.
Wie wunderbar aber erschloß er die künftigen Dinge! Vor
allem wie haarscharf brachte er als Traumdeuter des
Königs nur die Wirklichkeit zum Ausdruck! Zum erstenmal
träumte es dem König also: Sieben junge Kühe,
wohlgestaltet und fettleibig, stiegen aus dem Flusse und
weideten an dessen Ufer. Auch noch andere Jungrinder,
häßlich an Gestalt und mager an Körper, stiegen nach
jenen Kühen aus dem Flusse und weideten neben ihnen an
eben jenem schwellenden Uferrande. Da sah man, wie diese
hageren, mageren Jungrinder jene an Gestalt und
Schönheit vorzüglicheren auffraßen. Und zum zweitenmal
träumte es ihm also: Sieben fette, erlesene und
fruchtbare Ähren hoben sich von der Erde, und nach ihnen
richteten sich sieben dünne, vom Winde geknickte und
welke Ähren auf. Und man sah, wie die unfruchtbaren und
dünnen Ähren die frischen und vollen Ähren aufzehrten[582].
83.
Diesen Traum erklärte Joseph dahin, daß die sieben
jungen Kühe sieben Jahre, und ebenso die sieben Ähren
sieben Jahre bedeuteten, indem er die Zeiten nach dem
Ertrag und der Fruchtbarkeit auslegte. Die Trächtigkeit
einer Kuh besagt ja einen Jahresumlauf, und die Frucht
des Saatfeldes läßt wiederum ein volles Jahr zur Rüste
gehen. Darum stiegen jene vom Flusse herauf, weil die
Tage, die Jahre und Zeitläufte nach Art der Flüsse
vorüberziehen und eilends dahingleiten. Die ersten
sieben Jahre nun, erklärt er, würden Jahre reichen
Segens für das Land sein, ergiebig und fruchtbar; die
letzten anderen sieben Jahre unfruchtbar und ertragslos,
und ihre Unfruchtbarkeit werde den Überfluß der
vorausgehenden aufzehren. Daher seine Mahnung zur
Vorsorge: es sollten in den Segensjahren Getreidemittel
angesammelt werden, welche die Not der kommenden
Hungersnot heben könnten.
84.
Was soll ich zuerst bewundern? Die Einsicht, mit der er
in den Schacht der Wahrheit selbst hinabdrang? Oder den
Rat, mit dem er einer so schweren und langen Not
vorbeugte? Oder die Umsicht und die Gerechtigkeit, von
denen die eine der ihr obliegenden großen Aufgabe
zufolge so vielfache Lebensmittel ansammelte, die andere
gleiches Maß für alle wahrte? Was soll ich denn von
seinem Großmut sprechen, daß er, obwohl von den Brüdern
in die Sklaverei verkauft[583],
ihr Unrecht nicht vergalt, sondern ihren Hunger stillte?[584]
Was von der Liebenswürdigkeit, mit der er sich durch
fromme List die Anwesenheit seines geliebten Bruders
verschaffen wollte, den er auf einen fein ersonnenen
Scheindiebstahl hin der Entwendung schuldig erklärte, um
ihn als holden Geisel zurückzubehalten?[585]
85.
Mit Recht sprach darum der Vater zu ihm: „Reich gesegnet[586]
ist mein Sohn Joseph, reich gesegnet mein Sohn, der
Eiferer[587],
mein jugendlicher Sohn. Dir stand bei mein Gott und
segnete dich mit dem Segen des Himmels aus der Höhe und
mit dem Segen der Erde mit all ihren Gütern um der
Segnungen deines Vaters und deiner Mutter willen. Er
überbot die Segensfülle der unvergänglichen Berge und
die Erwartung der ewigen Hügel“[588].
Und im Deuteronomium heißt es: ,,Der im Dornbusch
Erschienene komme über Josephs Haupt und dessen
Scheitel! Verehrungswürdig ist er unter seinen Brüdern.
Dem Erstgeborenen des Stieres gleicht seine Schönheit,
Hörner des Einhorns sind seine Hörner: er wird damit die
Völker insgesamt stoßen bis an die Grenzen der Erde. Ihm
gehören Zehntausende von Ephraim und ihm Tausende von
Manasse“[589].
XVII. Kapitel
Vom
Nützlichen: Notwendige Eigenschaften eines Ratgebers
(86). Vorbilder der Patriarch Joseph (87—88) und der
Apostel Paulus (89—92).
86.
Wer dem Nächsten Rat erteilen will, muß so beschaffen
sein, daß er sich selbst anderen gegenüber als eine
mustergültige Norm des guten Handelns erweist in
Gelehrsamkeit, in Unsträflichkeit, in Würde, so daß sein
Wort heilsam und untadelig, sein Rat nützlich, sein
Leben ehrbar, seine Gesinnung lauter sei[590].
87.
So beschaffen war Paulus, der in der Weise den
Jungfrauen Rat[591],
den Priestern Unterweisung gab[592],
daß er sich uns erst selbst als Vorbild zur Nachahmung
hinstellte. Daher „wußte er sich zu demütigen“[593],
wie es auch Joseph wußte, der, ein Sprößling des
hochedlen Patriarchengeschlechtes, den niederen
Sklavendienst nicht verschmähte, ihn vielmehr in
Gehorsam leistete und mit Tugenden adelte. Er wußte sich
zu demütigen, der dem Verkäufer und Käufer sich fügte
und letzteren seinen Herrn nannte. Vernimm, wie er sich
demütigte! „Wenn mein Herr meinetwegen um nichts in
seinem Hause weiß und alles, was er hat, in meine Hände
gegeben hat, und mir nichts entzogen ist, ausgenommen
dich, seine Gemahlin: wie dürfte ich dieses böse Werk
verüben und sündigen vor Gott?“[594]
Eine Rede voll Demut, voll Keuschheit: voll Demut, weil
seinem Herrn ergeben; voll Ehrerbietung, weil dankbar;
voll Keuschheit desgleichen, weil er es für schwere
Sünde hielt, mit einer Schandtat sich zu beflecken.
88.
So muß denn ein Ratgeber beschaffen sein: nichts
Unklares, nichts Trügerisches, nichts Erlogenes, nichts
Erheucheltes, was sein Leben und seinen Charakter in
schiefes Licht stellen würde, nichts Ruchloses und
Böswilliges, was die Ratsuchenden abstoßen würde, darf
er an sich haben. Das eine nämlich würde man fliehen,
das andere verachten. Was Schaden anrichten, was,
bösartig wie schleichendes Gift, Unheil anstiften
könnte, das fliehen wir. Wenn beispielsweise der, den
man um Rat fragen will, von unzuverlässigem Charakter
und geldgierig wäre, so daß er sich um Geld umstimmen
ließe, wenn er zur Ungerechtigkeit neigte, so flieht und
meidet man ihn. Wer dagegen genußsüchtig, unenthaltsam
und, wenn auch nicht trügerisch, doch habsüchtig und
gewinnsüchtig wäre, den verachtet man. Welchen Beweis
von Eifer, welche Frucht an Arbeit könnte denn einer
aufweisen, welcher Wachsamkeit und Sorgfalt innerlich
sich befleißigen, der sich der Gleichgültigkeit und
Trägheit hingibt?
89.
Darum das Bekenntnis eines guten Ratgebers: „Ich aber
habe gelernt mich mit dem, was ich habe, zu begnügen“[595].
Er wußte nämlich, daß die Habsucht die Wurzel aller Übel
ist[596],
und war daher mit dem Seinigen zufrieden und verlangte
nicht nach fremdem Gut. Mir genügt, wollte er sagen, was
ich habe; ob ich weniger habe oder viel, für mich ist's
viel. Eins, wie es scheint, verdient ausdrücklich
hervorgehoben zu werden. Er bediente sich nämlich einer
bezeichnenden Wendung: „Mir genügt, was ich habe“,
spricht er, d. i. ich habe weder Mangel noch Überfluß:
nicht Mangel, weil ich nichts Weiteres verlange; nicht
Überfluß, weil mein Besitz nicht mir allein, sondern der
Mehrzahl frommt. Soviel, was den Geldpunkt betrifft.
90.
Im übrigen kann man ganz allgemein sagen: Er begnügte
sich mit dem, was er augenblicklich besaß, d. i. er
verlangte nicht nach größerer Auszeichnung, nicht nach
mehr Gefälligkeiten, war nicht übermäßig ruhmsüchtig
oder haschte nicht ungebührlich nach Gunst, sondern
harrte, voll Geduld im Leiden und seines Verdienstes
gewiß, auf das Ende des pflichtschuldigen Kampfes. „Ich
weiß mich auch zu demütigen“, beteuert er[597].
Nicht also unbewußte, sondern selbstbeherrschende und
selbstbewußte Demut findet hier Lob. Es gibt ja auch
eine Demut voll Furchtsamkeit, es gibt eine volle
Unerfahrenheit und Unwissenheit. Daher das Schriftwort:
„Und die Demütigen im Geiste wird er retten“[598].
Ein prächtiges Wort: „Ich weiß mich auch zu demütigen“,
nämlich an welchem Platz, in welchem Maß, zu welchem
Zweck, zu welchem Dienst, in welchem Amt. Der Pharisäer
wußte sich nicht zu demütigen, er ward darum erniedrigt;
der Zöllner wußte es, er ward darum gerechtfertigtLuk.
18, 10 ff.).
91.
Auch in Überfluß zu leben, verstand Paulus[599],
weil er ein reiches Herz besaß, wenn auch nicht eines
Reichen Schatz. Er verstand es, in Überfluß zu leben,
weil er keine Gabe in Geld verlangte, sondern Frucht in
der Gnade zu erzielen trachtete. Auch so können wir es
verstehen: Er verstand es, in Überfluß zu leben, weil er
sprechen konnte: „Unser Mund ist aufgetan gen euch, ihr
Korinther, unser Herz ist weit geworden“[600].
92.
In allem war er heimisch, im Sattwerden und Hungern[601].
Selig, der es verstand, in Christus sich zu sättigen!
Nicht eine leibliche, sondern eine geistige Sättigung
ist es, welche das Wissen bewirkt. Und mit Recht tut das
Wissen not; denn „der Mensch lebt nicht vom Brote
allein, sondern von jeglichem Worte Gottes“[602].
Wer also so sich zu sättigen und zu hungern verstand,
der verstand nach Gott zu hungern, nach Gott zu dürsten,
um immer neue Genüsse sich zu verschaffen. Er wußte zu
hungern, weil er wußte, daß die Hungernden essen werden[603].
Er wußte und vermochte in Überfluß zu leben, weil er
nichts hatte und alles besaß[604].
XVIII. Kapitel
Vom
Nützlichen: Roboam, das Beispiel eines übelberatenen
Königs (93). Der Abfall der zehn Stämme (94).
93.
Trefflich empfiehlt Gerechtigkeit den Vorsteher eines
Amtes; Ungerechtigkeit dagegen führt zu seiner Absetzung
und Bekämpfung. Ein Beispiel bietet die Schrift, wenn
sie berichtet, wie das Volk Israel nach dem Tode Salomos
dessen Sohn Roboam bat, das drückende Joch von seinem
Nacken zu nehmen und die Strenge der Herrschaft seines
Vaters zu mildern, jener dagegen den Rat der Alten
verachtete und auf die Einflüsterung der Jüngeren hin
folgende Verfügung traf: Er machte das Joch des Vaters
noch drückender und setzte an Stelle der leichteren
Strafen noch schwerere[605].
94.
Durch diese Verfügung erbittert, erwiderte das Volk:
„Wir haben keinen Teil an David und kein Erbe an den
Söhnen Jesse: Israel, kehre zurück in deine Zelte, ein
jeglicher!“[606]
Denn dieser Mensch soll weder Fürst noch Führer über uns
sein. So konnte er denn, vom Volk verlassen und
verschmäht, kaum zwei Stämme zählen, die es um des
Verdienstes Davids willen mit ihm hielten[607].
XIX.
Kapitel
Vom
Nützlichen: Politische und soziale Bedeutung der
Gerechtigkeit und des Wohlwollens (95). Gefällige Rede
halte von Heuchelei und Schmeichelei sich fern (96).
95.
So ist denn klar, daß Gerechtigkeit Reiche festigt,
Ungerechtigkeit sie auflöst. Wie könnte denn Übelwollen
den Besitz eines Reiches behaupten, nachdem es nicht
einmal eine gewöhnliche Familie zu beherrschen vermag?
Es bedarf sonach nicht bloß zur Stütze einer
Staatsregierung, sondern auch zur Wahrung privater
Rechte im höchsten Grade des Wohlwollens. Eine
Hauptstütze ist das Wohlwollen, das bestrebt ist, alle
mit Wohltun zu umfangen, durch Gefälligkeiten sich
verbindlich zu machen, durch Liebenswürdigkeit sich zu
verpflichten.
96.
Auch freundliche Rede trägt sehr viel zur Gewinnung der
Gunst bei. Aber wir wollen von ihr, daß sie aufrichtig
und maßvoll sei, frei von jeder Schmeichelei. Keine
Schmeichelworte dürfen die Einfalt und Reinheit der Rede
entstellen. Denn wir sollen nicht bloß im Handeln,
sondern auch im Sprechen, in der Keuschheit und im
Glauben den anderen zum Vorbild sein[608].
Wie wir uns beurteilt wissen wollen, so sollen wir sein
und unsere Gesinnung so offenbaren, wie wir sie hegen.
Nicht einmal im Herzen sollen wir ein übelwollendes Wort
aussprechen, das wir im Schweigen geborgen glauben. Denn
der Schöpfer des verborgenen Innern hört auch das im
Verborgenen Gesprochene; und der, welcher dem Herzen die
Gesinnung eingoß, kennt auch das Heimliche des Herzens.
Alles sonach, was wir tun, wollen wir uns, wie unter den
Augen eines Richters stehend, ans Licht gestellt denken,
so daß es allen offensichtlich ist.
XX.
Kapitel
Vom
Nützlichen: Der Nutzen der Freundschaft. Vor allem
frommt der Jugend der Anschluß an das tugenderprobte
Alter (97), was sich an biblischen Beispielen, wie an
Moses und Josue (98—99), an Elias und Elisäus u. a. m.
(100—101) ersehen läßt.
97.
Sehr förderlich ist jedem der enge Anschluß an Gute.
Auch Jünglingen frommt der Anschluß an berühmte und
weise Männer[609].
Denn wer mit Weisen umgeht, ist ein Weiser; wer hingegen
Unverständigen anhängt, gibt sich als Unverständiger zu
erkennen. Sowohl zur Bildung wie zum Rufe der
Rechtschaffenheit trägt dies sehr viel bei. Es zeigt
sich ja an jungen Leuten, daß sie jene nachahmen, denen
sie anhängen; und es bestätigt sich die Annahme, daß sie
von denen, nach deren Umgang sie lechzen, die gleiche
Lebensweise annehmen[610].
98.
Darum war Jesus Nave so groß, weil ihn der innige
Verkehr mit Moses nicht nur in die Gesetzeskunde
einführte, sondern auch zur Heiligung in der Gnade
führte. Es war denn auch Jesus Nave, als man im Zelte
des Moses infolge der Gegenwart Gottes die Herrlichkeit
des Herrn aufleuchten sah, der einzige, der im Zelte
weilte. Moses sprach mit Gott, Jesus ward gleichfalls
von der heiligen Wolke bedeckt. Die Ältesten und das
Volk standen unten, Jesus stieg mit Moses hinauf, das
Gesetz zu empfangen. Das ganze Volk war innerhalb des
Lagers, Jesus außerhalb des Lagers im Zelte des
Zeugnisses. Da die Wolkensäule sich herabließ und mit
Moses redete, stand er als treuer Diener dabei; und der
Jüngling trat nicht aus dem Zelte heraus, während die
Ältesten in weiter Entfernung davon vor den göttlichen
Wundern zitterten[611].
99.
So war er denn überall, bei den offenen Wunderwerken wie
bei den insgeheim sich abspielenden Vorgängen der
unzertrennliche Jünger an der Seite des heiligen Moses.
Daher kam es, daß er, der Gefährte seines Lebens, der
Nachfolger in seinem Amte wurde[612].
Er ward mit Recht ein solcher Held, daß er der Flüsse
Lauf zum Stehen brachte[613];
daß er sprach, die Sonne stehe still: und die Sonne
stand still; und daß er gleichsam als Augenzeuge jenes
Sieges die Nacht hinausschob, den Tag verlängerte[614];
daß er — wie? dem Moses war es versagt![615]
—allein auserkoren wurde, das Volk ins Land der
Verheißung zu führen[616].
Ein Mann des Glaubens, groß durch Wunder, groß durch
Triumphe. Des Moses Werke waren glänzender, die unseres
Helden glücklicher. Beide waren, gestützt auf Gottes
Gnade, Übermenschen: jener gebot dem Meere[617],
dieser dem HimmelJos. 10, 12 f.).
100. Schön ist sonach der vertraute Verkehr zwischen alt
und jung. Erstere verbürgen (den letzteren) den guten
Ruf, letztere dienen (den ersteren) zur Aufheiterung;
erstere frommen zur Belehrung, letztere zur
Unterhaltung. Ich will davon schweigen, daß der
jugendliche Lot an Abrahams Seite blieb, auch als dieser
fortzog[618],
damit man darin nicht so sehr eine verwandtschaftliche
Beziehung, und nicht eher eine naturnotwendige denn
freiwillige Anhänglichkeit erblicken sollte. Was soll
ich aber von Elias und Elisäus sagen? Mag auch die
Schrift den Elisäus nicht ausdrücklich als Jüngling
bezeichnen, so können wir doch ersehen und erschließen,
daß er in jüngeren Jahren stand[619].
In der Apostelgeschichte nahm Barnabas den Markus zu
sich[620],
Paulus den Silas[621],
Paulus den Timotheus[622],
Paulus den Titus[623].
101. Doch wir sehen, wie diese Obigen sich in die
Obliegenheiten teilten. Den älteren oblag hauptsächlich
der Rat, den jüngeren der Dienst. Gar häufig erfreuen
sich auch solche eines gegenseitigen vertrauten
Umganges, die an Tugend gleich, an Alter ungleich sind,
wie Petrus und Johannes sich dessen erfreuten. Denn
Johannes war jung, wie wir im Evangelium und aus seinem
eigenen Munde erfahren, obwohl er an Verdiensten und
Weisheit keinem der Älteren nachstand: dem Wandel nach
kleidete ihn die Würde des Alters und das graue Haar der
Klugheit; denn ein makelloses Leben ist der Sold eines
tugendhaften Alters[624].
XXI.
Kapitel
Vom
Nützlichen: Gar sehr empfiehlt einen die Beschützung der
Schwachen (102) und die Übung der Gastfreundschaft
(103—108). Die zwei Arten des Gebens : Freigebigkeit und
Verschwendung (109—110). Gerade dem Priester geziemt Maß
in der Freigebigkeit (111).
102. Auch das trägt zur Förderung des guten Rufes bei,
wenn man einen Armen den Händen eines Mächtigen
entreißt, einen Verurteilten vom Tode errettet, soweit
es ohne Aufsehen und Aufregung geschehen kann; es soll
ja nicht den Anschein gewinnen, als handelten wir mehr
aus Prahlerei denn aus Mitleid und schlügen, während wir
leichtere Wunden zu heilen wünschen, schwere. Wenn man
nämlich einen bedrängten Menschen, der mehr unter der
Gewalttat und Machenschaft eines Mächtigen, als unter
der verdienten Strafe für ein Verbrechen leidet,
befreit, so gewinnt der gute Ruf, in dem man steht.
103. Gar manchem dient auch die Gastlichkeit zur
Empfehlung[625].
Die allgemeine Tugend der Menschenfreundlichkeit
verlangt nämlich, daß der Fremde nicht der gastlichen
Herberge entrate; daß er zuvorkommend aufgenommen werde;
daß ihm beim Kommen die Türe offen stehe. In der ganzen
Welt gilt es für überaus edel, Fremde in Ehren
aufzunehmen, es nicht am gastlichen Tische fehlen zu
lassen, den Gästen mit Erweisen von Freigebigkeit
entgegenzukommen, nach ihrer Ankunft sich zu erkundigen.
104. Dieses Lob nun fand Abraham, der vor seiner Türe
sich umsah, daß kein Fremdling etwa vorübergehe; der
Obacht gab, um einem Gast entgegenzueilen, ihm
zuvorzukommen, ihn mit Bitten zu bestürmen, er möchte
nicht vorbeigehen. „Herr“, so bat er, „wenn ich Gnade
vor dir gefunden habe, so geh nicht vorüber an deinem
Diener“[626].
Dafür erhielt er zum Lohn seiner Gastlichkeit die Frucht
der Nachkommenschaft[627].
105. Ebenso wendete sein Neffe Lot, nicht bloß der
Abstammung, sondern auch der Tugend nach sein
Nächstverwandter, infolge seiner gastfreundlichen
Gesinnung die Strafe der Sodomiten von sich und den
Seinigen ab[628].
106. So geziemt es sich denn, gastlich, wohlwollend,
gerecht zu sein, nicht fremdes Gut zu begehren,
vielmehr, wenn man herausgefordert wird, lieber
irgendwie auf sein eigenes Recht zu verzichten, als an
fremden Rechten zu rühren, Streitigkeiten zu meiden,
Gezanke zu verabscheuen, Eintracht und holden Frieden
wiederherzustellen. Ist doch der etwaige Rechtsverzicht
von Seiten der Guten nicht bloß ein Akt der
Freigebigkeit, sondern gar oft auch eine Quelle des
Vorteils. Fürs erste ist es kein geringer Gewinn, von
Prozeßkosten verschont zu bleiben; dazu kommt als
weitere Frucht die Mehrung der Freundschaft, aus der so
viele Vorteile entspringen, die dem, der für den
Augenblick einigen Verzicht leistet, später reichen
Segen zeitigen werden.
107. Der Pflichtenkreis der Gastfreundschaft schließt
gegen jedermann das Gebot der Menschenfreundlichkeit in
sich, ein besonders reiches Maß von Ehrenbezeigung aber
gebührt dem Gerechten. Denn „wer immer einen Gerechten
im Namen eines Gerechten aufnimmt, wird den Lohn des
Gerechten empfangen“[629],
wie der Herr feierlich versicherte. Soviel gilt
Gastfreundschaft bei Gott, daß selbst der Trunk kalten
Wassers nicht unbelohnt bleibt[630].
Du siehst, wie Abraham, da er sich nach Gästen umsah,
Gott selbst gastlich aufnehmen durfte[631].
Du siehst, wie Lot Engel beherbergte[632].
Wer weiß, ob nicht auch du, wenn du einen Gast
aufnimmst, Christus aufnimmst? Doch im Gaste selbst
birgt sich Christus, wie er im Armen sich birgt. So
beteuert er selbst: „Ich war im Gefängnisse, und ihr
seid zu mir gekommen“; „ich war nackt, und ihr habt mich
bekleidet“[633].
108. Süß ist's, nicht auf Geld, sondern auf
Liebenswürdigkeit bedacht zu sein. Doch hat jenes Übel
sich längst in den menschlichen Sinn eingeschlichen,
wonach Geld als Ehrensache gilt und das Menschenherz von
Bewunderung für den Reichtum eingenommen ist[634].
Daher die Habsucht, die wie eine Dürre eingedrungen ist,
die den Pflichtenkreis des Guten verheert, so daß der
Mensch jeden Aufwand für Verlust erachtet, der über das
herkömmliche Maß hinaus gemacht wird. Doch auch in
diesem Punkte hat die ehrwürdige Schrift, um jede
Schwierigkeit abzuschneiden, die man machen könnte,
wider die Habsucht Vorsorge getroffen, indem sie
erklärte: „Besser ist die Gastfreundschaft bei Gemüse“[635],
und im Folgenden: „Besser ist Brot in Lust genossen mit
Frieden“[636].
Nicht verschwenderisch nämlich, wohl aber freigebig
sollen wir nach der Lehre der Schrift sein.
109. Es gibt nämlich zwei Arten des Gebens: die eine
besteht in Freigebigkeit, die andere in Verschwendung
und Vergeudung[637].
Freigebigkeit ist es, einen Gast aufzunehmen, einen
Nackten zu bekleiden, Gefangene loszukaufen, Dürftige
durch eine Geldspende zu unterstützen[638];
Verschwendung ist es, bei kostspieligen Gelagen und
reichlichem Weingenuß zu schlemmen. Daher lasest du:
„Eine Verschwendung ist der Wein und eine Schande die
Trunkenheit“[639].
Verschwendung ist es, um der Gunst der Leute willen sein
Vermögen zu vergeuden, was jene tun, welche mit Zirkus-
oder mit Theaterspielen, sowie mit Gladiatorenkämpfen
oder aber mit Jagden ihr Vermögen vergeuden[640],
um Berühmtheiten aus den höheren Kreisen[641]
noch zu übertrumpfen. Ist doch all das, was sie treiben,
eitel Ding, da es sogar ungeziemend ist, in Aufwendungen
für gute Werke das rechte Maß zu überschreiten.
110. Rechte Freigebigkeit hält selbst gegen Arme Maß, um
für eine größere Anzahl genügend zu haben, und geht auch
aus Gunsthäscherei nicht über das Maß hinaus. Nur was
aus reiner und aufrichtiger Gesinnung kommt, ist
geziemend: nicht an unnötige Bauten heranzutreten,
notwendige nicht zu unterlassen.
111. Am meisten schickt sich für den Priester folgendes:
den Gottestempel mit geziemendem Schmuck zu zieren,
damit der Palast des Herrn auch im Schimmer solcher
Gottesverehrung erstrahle; häufige Spenden zu reichen,
wie es sich für die Barmherzigkeit gebührt; nötigenfalls
Fremden mitzuteilen, nicht in Überfluß, sondern was sich
gehört, nicht in Übermaß, sondern was der
Menschenfreundlichkeit angemessen ist. Er soll nicht
mittels des Armenaufwandes fremde Gunst erschleichen,
gegen die Kleriker weder zu knauserig noch zu freigebig
sich erweisen. Das eine verstieße gegen die
Menschenfreundlichkeit, das andere wäre Verschwendung,
wenn einerseits die Mittel zur Linderung der Not derer,
die man schmutziger Erwerbstätigkeit entziehen sollte,
fehlen, andrerseits zu Vergnügen in Überfluß vorhanden
sein würden.
XXII. Kapitel
Vom
Nützlichen: Zu große Nachsicht und zu große Strenge ist
zu vermeiden (112). Alles Unwahrhaftige ist nicht von
Dauer. Absalons abschreckendes Beispiel (113—116).
112. Sogar auch in Wort und Befehl ist Maßhalten
angezeigt. Es soll hierbei weder zu große Nachsicht noch
zu große Strenge zutage treten. So mancher möchte lieber
etwas nachsichtig sein, um gut zu erscheinen. Doch das
ist gewiß: keine Heuchelei und Verstellung hat mit
wahrer Tugend etwas gemein. Ja sie pflegt auch gar nicht
von langer Dauer zu sein. Anfänglich gedeiht sie,
allmählich verweht und vergeht sie wie eine schwächliche
Blüte. Das Wahre und Aufrichtige aber schlägt tiefe
Wurzel.
113. Um nun unsere Behauptungen durch Beispiele zu
erhärten, daß Heuchelei nicht von Dauer sein kann,
sondern wie vergängliche Blüte rasch abfällt, wollen wir
zum Belege nur einen Fall von Heuchelei und Trug aus
jener Familie herausgreifen, der wir schon so viele
Beispiele zu unserer Tugendförderung entnommen haben.
114. Absalon war ein Sohn König Davids, von
einzigartiger Schönheit, herrlicher Gestalt,
ausnehmender Jugendlichkeit, so daß sich kein solcher
Mann in Israel fand, ohne Fehl von der Fußsohle bis zum
Scheitel[642].
Derselbe „schaffte sich Wagen und Rosse an und fünfzig
Mann, die vor ihm hergingen. Er stand in der Frühe auf
und stellte sich vor das Tor an den Weg, und wenn er
jemand sah, der des Königs Entscheidungen suchte, trat
er zu ihm hinzu und fragte: Aus welcher Stadt bist du?
Wenn er dann erwiderte: Aus einem von den Stämmen
Israels bin ich, dein Diener, da versetzte Absalon:
Deine Worte sind gut und recht; und ist dir niemand vom
Könige bestellt, der dir Gehör schenkt? Wer will mich
als Richter aufstellen? Und wer immer zu mir kommt, wer
immer ein Urteil braucht, gegen den werde ich recht
handeln“[643].
Mit solchen Reden suchte er jeden zu gewinnen. „Und wenn
die Leute ihm nahten, um ihm ihre Ehrfurcht zu bezeugen,
streckte er ihnen die Hände entgegen, faßte sie und
küßte sie“[644].
So nun gewann er sich aller Herzen, indem solche
Schmeicheleien die Gefühlssaite der innersten Seele
berühren.
115. Jene gemächlichen und ehrgeizigen Leute aber zogen
das vor, was sie für einen Augenblick ehrte und angenehm
und wohltuend berührte. Als ein kleiner Aufschub (im
Kampf gegen Absalon) statt hatte, den der klügste
Prophet von allen durch eine kurze Pause eintreten
lassen zu sollen glaubte[645],
konnten sie's nicht leiden und ertragen. Schließlich
empfahl David, der am Siege nicht zweifelte, seinen Sohn
den Kriegern, die zum Kampf bereit standen, daß sie
seiner schonten[646].
Eben darum wollte er auch nicht selbst am Kampfe
teilnehmen[647].
Es sollte nicht scheinen, daß er auch nur zur Gegenwehr
wider den die Waffen ergreife, der zwar dem Vater nach
dem Leben strebte, aber doch sein Sohn war.
116. So ist denn klar, daß nur das von Dauer und Bestand
ist, was wahr ist, und was man lieber ehrlich denn
hinterlistig gewinnt; daß hingegen das, was man sich
durch Heuchelei und Schmeichelei verschaffte, nicht von
langer Dauer sein kann.
XXIII. Kapitel
Vom
Nützlichen: Wer durch Geld erkauft oder durch
Schmeichelei gewonnen wird, ist nicht verlässig
(117—118).
117. Wer möchte sich von jenen Treue versprechen, deren
Gehorsam durch Geld erkauft wird? Oder von jenen, die
nur durch schmeichelhafte Worte sich dazu bestimmen
lassen? Erstere wollen sich oftmals verkaufen lassen,
letztere vermögen strenge Befehle nicht zu ertragen.
Durch ein leichtes Schmeichelwörtchen lassen sie sich
unschwer gewinnen; auf ein Tadelwort hin murren sie,
reißen aus, laufen verbittert davon und verlassen einen
tief gekränkt. Sie wollen lieber befehlen als gehorchen
und glauben von ihren Vorgesetzten, die sie für solche
halten sollten, sie seien ihnen gleichsam durch Wohltun
(ihrerseits) verbunden und müßten ihnen daher willfährig
sein.
118. Wer nun möchte sich von Leuten Treue erwarten, die
er sich, sei es durch Geld, sei es durch Schmeichelei
verpflichten zu sollen glaubte? Der Geldempfänger würde
sich nur gering und verächtlich eingeschätzt erachten,
wenn er nicht oftmals wiedergekauft würde: er erwartet
daher häufig seinen Preis. Der offensichtlich an Bitt-
und Schmeichelworte Gewöhnte will immer nur gebeten
sein.
XXIV. Kapitel
Vom
Nützlichen: Strebsamkeit, nicht Strebertum die Vorstufe
zu (kirchlichen) Ehrenämtern (119). Nicht zu große
Strenge und nicht zu große Milde der Leitstern bei deren
Ausübung (120). Unparteilichkeit ein erstes Erfordernis
bei deren Besetzung (121). Der Priester halte sich fern
von Eifersüchtelei gegen tüchtige Kleriker (122),
letztere von Anmaßung und Nörgelei gegen ersteren (123).
Gerechtigkeit ohne Ansehen der Person der oberste
Grundsatz in der Rechtsprechung (124—125).
119. Durch gutes Handeln und in reiner Absicht, glaube
ich, soll ein Ehrenamt, besonders ein kirchliches,
angestrebt werden. Es sollte hierbei weder hochnäsige
Anmaßung oder gleichgültige Nachlässigkeit, noch
schimpfliches Strebertum und unziemlicher Ehrgeiz
hervortreten. Gerade, aufrechte Gesinnung genügt zu
allem und empfiehlt sich hinlänglich selbst.
120. Im Amte aber soll geziemenderweise weder schroffe
Strenge noch zu große Nachgiebigkeit walten, um uns
nicht den Anschein zu geben, es sei uns bloß um Ausübung
der Macht zu tun, oder aber wir füllten keineswegs den
übernommenen Dienst aus.
121. Auch soll man sich bestreben, recht viele sich
durch Wohltaten und Dienstgefälligkeiten verbindlich zu
machen und die dankbare Gesinnung, die sie gegen einen
hegen, zu erhalten, damit sie, wenn sie sich einmal
schwer beleidigt fühlen, des genossenen Wohltuns mit
Recht nicht vergessen. Denn es kommt erfahrungsgemäß oft
vor, daß man Leute, die man begünstigte oder zu
irgendeiner höheren Stufe beförderte, abstößt, wenn man
ihnen jemand zu Unrecht vorziehen zu sollen glaubt. Aber
auch dem Priester geziemt es, daß er seine Gewogenheit,
die er in seinen Wohltaten und Entscheidungen zum
Ausdruck bringt, unter Wahrung der Gerechtigkeit
betätigt und einem Presbyter oder Kirchendiener wie
einem Bruder Achtung bezeugt.
122. Diese dürfen, weil sie einmal als erprobt befunden
wurden, nicht anmaßend werden, sondern lieber im
Bewußtsein der empfangenen Gnade demütig bleiben; der
Priester aber soll nicht Anstoß daran nehmen, wenn ein
Presbyter oder ein Diener oder sonst ein Mitglied des
Klerus durch seine Mildtätigkeit oder Enthaltsamkeit
oder Unbescholtenheit oder Gelehrsamkeit oder
Schriftbelesenheit in der Achtung steigt. Denn die Gunst
der Gemeinde bedeutet Lob für den Lehrer. Gut wenn das
Wirken eines Klerikers Lob findet, doch so, daß ihm jede
Ruhmsucht fern liegt. Des Nächsten Lippen, und nicht
sein eigener Mund sollen ihn loben, sein Wirken, nicht
Strebertum ihn empfehlen.
123. Sollte übrigens jemand dem Bischof nicht gehorchen
und darauf ausgehen, sich selbst zu überheben und
großzumachen, die Verdienste des Bischofs dagegen durch
erheuchelte Gelehrsamkeit oder Demut oder Mildtätigkeit
in Schatten zu stellen, so ist er ein vom Wahren
abgeirrter, hochmütiger Mensch; denn die Regel der
Wahrheit verlangt, nichts zur eigenen Empfehlung zu tun
um den Preis der Verkleinerung eines anderen, und nicht
das Gute, das man etwa hat, zur Bemängelung und
Verunglimpfung des Nächsten zu betätigen.
124. Tritt nicht für einen Schlechten ein und glaube
nicht einem Unwürdigen das Heilige anvertrauen zu
sollen! Umgekehrt bedrücke und befehde keinen, dem du
auf kein Verbrechen gekommen bist! Denn wenn
Ungerechtigkeit an allen leicht Anstoß erregt, dann am
meisten in der Kirche, wo Gleichheit herrschen soll, so
daß sich der Mächtige nicht mehr anmaßen, der Reiche
nicht mehr aneignen darf. Ob reich oder arm: in Christus
ist das einerlei. Auch ein Heiliger darf nicht größere
Ansprüche machen; denn für ihn geziemt sich noch größere
Demut.
125. Sodann aber fort mit jeder Rücksichtnahme auf die
Person des Nächsten bei der Rechtsprechung! Fort mit
Begünstigung! Nach Gebühr soll der Fall entschieden
werden. Nichts belastet den Ruf, oder vielmehr den
Glauben so sehr, als wenn man in der Rechtsprechung die
Sache eines Niedereren dem Mächtigeren ausliefert, oder
einen unschuldigen Armen beschuldigt, den schuldigen
Reichen entschuldigt. Ist doch das Menschengeschlecht
geneigt, Höhergestellte zu begünstigen, damit sie sich
nicht beleidigt, nicht, weil unterlegen, gekränkt
fühlen. Doch fürs erste brauchst du, wenn du Anstoß
fürchtest, das Urteil nicht übernehmen, brauchst, wenn
du Priester oder sonst jemand bist, nicht den
Herausfordernden machen. Es ist dir gestattet, wenn es
sich lediglich um eine Geldangelegenheit handelt, zu
schweigen, obschon Charakterfestigkeit ein Eintreten für
Recht und Gerechtigkeit verlangte. In einer Sache Gottes
aber, wo das allgemeine Wohl auf dem Spiel steht, wäre
schon bloßes Schweigen aus Verstellung keine geringe
Sünde.
XXV.
Kapitel
Vom
Nützlichen: Gib lieber dem Armen als dem Reichen! Das
gebieten religiöse (126), das empfehlen selbst weltliche
Erwägungen (127). Der wahre Jünger Christi ein Verächter
des Geldes (128).
126. Was aber nützte dir die Begünstigung eines Reichen?
Oder geschieht es, weil er seinem Gönner eher lohnt? Nur
zu oft gilt ja denen unsere Gunst, von denen wir eine
Vergeltung derselben erwarten[648].
Um so mehr aber gebührt es sich, uns des Schwachen und
Dürftigen anzunehmen, indem wir uns statt vom Armen, der
nicht dazu in der Lage ist, vom Herrn Jesus den Lohn
erhoffen. Er stellte ja unter dem Bilde des Gastmahles[649]
die allgemeine Regel auf, daß wir lieber denen unser
Wohltun zuwenden sollen, die es uns nicht erwidern
können, indem er zeigte, wie zu Gastmahlen und Gelagen
nicht die Reichen, sondern die Armen zu laden sind. Denn
Reiche — den Anschein weckt es — bittet man zu Gaste,
daß auch sie uns hinwiederum zu Gaste laden: Arme, die
nicht in der Lage sind, für das Empfangene eine
Gegenleistung zu bieten, machen uns den Herrn zum
Vergelter, der sich als Bürgen für den Armen erboten
hat.
127. Auch rein weltlich betrachtet, hat das Wohltun
gegen Arme mehr für sich als das gegen Reiche[650],
weil der Reiche auf Wohltun verzichtet und Dankespflicht
als beschämend empfindet. Ja er schreibt anmaßend die
Wohltat, die ihm erwiesen wurde, seinen Verdiensten zu:
die empfangene Gabe sei ihm entweder gleichsam
geschuldet gewesen, oder aber deshalb gespendet worden,
weil der Spender vom Reichen eine um so ansehnlichere
Gegengabe erwarte. Reiche glauben also, wenn sie eine
Wohltat entgegennehmen, gerade wegen dieses
Entgegennehmens mehr Geber denn Nehmer zu sein. Der Arme
hingegen stattet, wenn er auch kein Geld zur
Wiedererstattung hat, Dank ab[651]
und erstattet damit sicherlich mehr, als er empfangen
hat. Geldschuld trägt sich mit dem Hinzählen des Geldes
ab, Dankbarkeit erschöpft sich nimmer. Der Geldsäckel
leert sich mit der Rückzahlung, Dankbarkeit hingegen
erstattet man dadurch, daß man sie hat, und hat man
dadurch, daß man sie erstattet[652].
Was ferner dem Reichen widerstrebt: der Arme gesteht zu,
daß er sich als Schuldner verpflichtet fühle und hält es
nicht unter seiner Würde, daß er unterstützt wurde[653].
Er ist überzeugt davon, daß ihm die Kinder geschenkt,
das Leben zurückgegeben, die Familie erhalten worden
sei. Wieviel besser also ist es, seine Wohltat Guten
statt Undankbaren in die Hand zu legen!
128. Daher die Mahnung des Herrn an seine Jünger:
„Besitzet nicht Gold, nicht Silber, noch Geld!“[654]
Wie mit einer Sichel schnitt er damit die in der Brust
des Menschen wuchernde Habsucht ab. Desgleichen beteuert
Petrus dem Lahmen, den man vom Mutterleibe an tragen
mußte: „Silber und Gold habe ich nicht; aber was ich
habe, gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi des Nazareners
steh auf und wandle!“[655]
Nicht Geld spendete er, die Gesundheit spendete er. Wie
unvergleichlich besser ist Gesundheit ohne Geld, als
Geld ohne Gesundheit! Der Lahme konnte sich erheben, was
er nicht erwartete; Geld empfing er nicht, das er
erwartete. Doch diesen Edelmut der Geldverachtung trifft
man kaum bei Heiligen an.
XXVI. Kapitel
Vom
Nützlichen: Die Habsucht ein uraltes Laster, wie aus
vielen Beispielen der Hl. Schrift erhellt (129—131). Wie
töricht, daß man nur den Vermöglichen für ehrenwert hält
(132)!
129. Übrigens ist die Bewunderung des Reichtums so Sitte
bei den Menschen geworden, daß niemand als der Reiche
für ehrenwert gilt[656].
Dieser Brauch ist nicht neu. Schon längst, und das ist
noch schlimmer, hat sich vielmehr dieses Übel im
Menschengeiste eingebürgert. Machte doch, als die große
Stadt Jericho auf den Schall der Priestertrompeten
eingestürzt war und Jesus Nave den Sieg davon trug[657],
letzterer die Beobachtung, daß die Tugend des Volkes
durch Habsucht und Goldgier geschwächt sei. Denn als
Achan[658]
von der Beute der eingeäscherten Stadt ein goldenes
Gewand und zweihundert Doppeldrachmen Silber und eine
goldene Zunge fortgenommen hatte, vermochte er es, vor
den Herrn gestellt, nicht zu leugnen, sondern gestand
den Diebstahl ein[659].
130. Etwas Uraltes ist sonach die Habsucht. Ihr Anfang
fällt mit dem Eintritt des göttlichen Gesetzes selbst
zusammen, ja gerade zu ihrer Unterdrückung wurde das
Gesetz gegeben[660].
Aus Habsucht, so meinte Balak, lasse sich Balaam durch
Belohnungen gewinnen, dem Volke der Väter zu fluchen.
Und die Habsucht hätte auch den Sieg davongetragen,
halte nicht der Herr ihm befohlen, von der Verfluchung
abzustehen[661].
Aus Habsucht war Achan gefallen und hatte das ganze
Vätervolk ins Verderben gestürzt[662].
Jesus Nave, der die Sonne zum Stillstehen zu bringen
vermochte, daß sie nicht weiter rückte, konnte der
Habsucht nicht Einhalt tun, daß sie nicht um sich
greife. Auf sein Wort hielt die Sonne inne, die Habsucht
hielt nicht inne. Beim Stillstand der Sonne errang Jesus
einen glänzenden Sieg, beim Fortschreiten der Habsucht
verlor er beinahe den Sieg[663].
131. Wie? Beirrte nicht des Weibes Dalila Habsucht den
Stärksten von allen, Samson?[664]
Er, der einen brüllenden Löwen mit seinen Händen zerriß[665];
der gebunden und den Fremden ausgeliefert, allein die
Fesseln sprengte, ohne daß ihm jemand half, und tausend
Mann von ihnen tötete; der Seile, aus Sehnen geflochten,
wie schwache Spartonfäden zerriß[666]:
er beugte seinen Nacken auf die Knie eines Weibes, ließ
sich scheren und verlor so den Schmuck seines
unbesieglichen Haares, den einzigartigen Vorzug seiner
Kraft. Das Geld floß in den Schoß des Weibes, und die
Gnade wich vom Helden[667].
132. Verderblich also ist die Habsucht, verführerisch
das Geld, das die Besitzenden mit Schuld befleckt, den
Nichtbesitzenden nicht frommt. Gesetzt aber, das Geld
komme einmal auch einem Geringeren zunutze, freilich
auch ihm nur, weil er danach verlangte: warum wendet man
sich mit seinem Interesse nicht auch jenem zu, der nicht
danach verlangt, der nicht darauf ausgeht, der kein
Bedürfnis nach solcher Hilfe empfindet? Warum nur
anderen, wenn nämlich der Besitzende besonders
vermöglich ist? Ist dieser vielleicht deshalb
ehrenwerter, weil er einen Besitz hat, durch den die
Ehrenhaftigkeit so oft verloren geht? Eine Habe, die er
mehr zu bewahren als zu besitzen hat? Denn nur das
besitzen wir, was uns zum Gebrauch dient; was darüber
hinausgeht, das bringt wahrlich keine Besitzfrucht,
sondern nur die Gefahr der Bewachung.
XXVII. Kapitel
Vom
Nützlichen: Die Verachtung des Geldes ein Ausfluß der
Gerechtigkeit (133). Sonstige Tugenden des Klerus (134).
Von der Strafe der Exkommunikation (135).
133. Um abzuschließen, so wissen wir, daß die Verachtung
des Geldes eine Form der Gerechtigkeit ist. Eben darum
müssen wir die Habsucht meiden und mit allem Eifer uns
bestreben, nie etwas wider die Gerechtigkeit zu tun,
sondern sie in all unserem Tun und Wirken zu wahren[668].
134. Wenn wir uns bei Gott empfehlen wollen, so laßt uns
Liebe haben, einträchtig sein, der Demut folgen, indem
einer den anderen für über sich erhaben hält; denn das
ist Demut, wenn einer sich nichts zugute tut und sich
für den Niedrigeren hält. Der Bischof bediene sich der
Kleriker, insbesonders der dienenden, die in Wahrheit
seine Söhne sind, wie seiner Glieder. Nur wen er für ein
Amt tauglich sieht, dem übertrage er es.
135. Mit Schmerzen schneidet man ein Glied am Körper,
selbst wenn es ein faules ist, weg und behandelt es
lange, ob es sich nicht durch Arzneimittel ausheilen
lasse. Ist das nicht möglich, dann wird es von einem
tüchtigen Arzt weggeschnitten. Solcher Gesinnung ist
auch ein guter Bischof. Er trachtet, Kranke zu heilen,
um sich fressende Geschwüre zu beseitigen, das eine und
andere auszubrennen, nicht wegzuschneiden, und
schließlich, was unheilbar ist, zu seinem schmerzlichen
Bedauern wegzuschneiden. So findet also jenes herrliche
Gebot eine um so wirksamere Beleuchtung: Wir sollen
nicht an das, was unser ist, denken, sondern an das, was
der anderen ist[669].
Auf diese Weise nämlich wird keine Gefahr bestehen, daß
wir aus Unwillen unserer Leidenschaft Gehör schenken,
oder aus Gewogenheit mehr, als recht wäre, unserem
Wunsche stattgeben.
XXVIII. Kapitel
Vom
Nützlichen: Rechtfertigung der von den Arianern
beanstandeten Einschmelzung der Kirchengefäße zum
Loskauf von Gefangenen (136—139). Das Beispiel des hl.
Laurentius (140—141). Die notwendigen Vorbedingungen zu
solchem Vorgehen (142—143).
136. Der stärkste Beweggrund zur Barmherzigkeit ist das
Mitleid mit fremdem Elend und das Verlangen, nach
Kräften, mitunter sogar über unsere Kräfte der Not der
anderen zu steuern. Denn es ist besser, das Mitleid
rechtfertigen zu müssen oder auch sich begeifern zu
lassen, als Hartherzigkeit vorzuschützen. So haben auch
wir uns einmal gehässige Vorwürfe zugezogen, weil wir
die gottesdienstlichen Gefäße zerbrechen ließen, um
damit Gefangene loszukaufen. Nur den Arianern konnte das
mißfallen. Es handelte sich auch weniger um das
Mißfallen an dem Vorgang als darum, an uns etwas zu
tadeln zu haben. Wer aber wäre so felsenhart, grausam,
eisern, daß ihm der Loskauf eines Mannes vom Tode, einer
Frau von den Schändlichkeiten der Barbaren, die noch
härter denn der Tod sind, von Jünglingen und Knaben, ja
Kindern von der ansteckenden Seuche des Götzendienstes,
von der sie sich aus Angst vor dem Tode verunreinigen
ließen, mißfiele?
137. Obwohl wir diesen Schritt ohne irgendwelche
Rechenschaft zu schulden tun konnten, haben wir uns
gleichwohl auch beim Volke darüber in dem Sinn geäußert,
daß wir offen darlegten, es sei viel zweckdienlicher
gewesen, die Seelen als das Gold dem Herrn zu bewahren.
Er, der die Apostel ohne Gold aussendete[670],
hat auch die Kirche ohne Gold vereinigt. Die Kirche
besitzt das Gold nicht, um es aufzubewahren, sondern um
es aufzuwenden, um den Nöten abzuhelfen. Was braucht es
auch eine Sache nutzlos aufbewahren? Oder wissen wir
nicht, wieviel Gold und Silber die Assyrer vom Tempel
des Herrn fortgeschleppt haben?[671]
Schmelzen nicht die Priester, wenn es sonst an Mitteln
gebricht, es zum Unterhalt der Armen besser ein, als daß
ein frevler Feind es verunehrt und fortschleppt? Würde
nicht der Herr sprechen: Warum hast du es gelitten, daß
so viele Arme des Hungers sterben? Und doch hattest du
Gold. Hättest du dafür Nahrung geboten! Warum wurden so
viele Gefangene als Kriegsbeute abgeführt und vom Feinde
getötet, ohne daß man sie loskaufte? Besser wäre es
gewesen, die lebendigen Gefäße zu bewahren als die
metallenen.
138. Auf diese Fragen ließe sich keine Antwort geben.
Wie hätte man entgegnen können: Ich fürchtete, es möchte
dem Tempel Gottes an Schmuck gebrechen? Er hätte
erwidert: die Geheimnisse verlangen kein Gold; und was
sich um Gold nicht kaufen läßt, verdankt auch
Goldesglanz nicht seinen Reiz. Der Loskauf der
Gefangenen gereicht den Geheimnissen zur Zierde.
Kostbare Gefäße fürwahr sind jene, welche die Seele vom
Tode erkaufen. Das ist der wahre Schatz des Herrn, der
bewirkt, was das Blut Christi bewirkt hat. Da erkennt
man das Gefäß mit dem Blute des Herrn, wenn man in
beiden Erlösung schaut: im Kelch die Erlösung derer vom
Feinde, welche das Blut von der Sünde erlöste. Wie
schön, wenn sich von den Scharen der Gefangenen, welche
von der Kirche losgekauft wurden, sagen läßt: Diese hat
Christus losgekauft! Sieh, ein Gold, das erprobt ist!
Sieh, ein Gold, das frommt! Sieh, das Gold Christi, das
vom Tode befreit! Sieh, das Gold, durch das die
Keuschheit erkauft, die Reinheit bewahrt wird!
139. Diese Gefangenen nun wollte ich euch lieber als
Befreite übergeben denn das Gold aufbewahren. Diese
Zahl, diese Reihe von Gefangenen ist kostbarer als der
Glanz der Becher. Diesem Zwecke sollte das Gold des
Erlösers dienen: dem Loskauf der Gefangenen. Ich
erkenne, wie das Blut Christi im Goldgefäß nicht nur
leuchtete, sondern auch demselben durch seine
Erlösungstat die Kraft seiner göttlichen Wirksamkeit
mitteilte.
140. Solches Gold wahrte der heilige Märtyrer Laurentius
dem Herrn auf. Als man nämlich von ihm die
Kirchenschätze forderte, versprach er dieselben
aufzuzeigen. Am folgenden Tage führte er die Armen vor.
Auf die Frage, wo die Schätze wären, die er versprochen
hatte, zeigte er auf die Armen und sprach: Das sind die
Schätze der Kirche. Und fürwahr Schätze, die Christus in
sich bergen, die Christi Glauben in sich bergen! So
sprach auch der Apostel: „Wir haben diesen Schatz in
irdenen Gefäßen“[672].
Welche bessere Schätze hätte Christus als jene, denen er
selbst nach seiner Versicherung innewohnt? Denn so steht
geschrieben: ,,Ich hungerte, und ihr gabt mir zu essen;
ich dürstete, und ihr gabt mir zu trinken; ich war
fremd, und ihr nahmt mich auf“[673].
Und im folgenden: „Denn was ihr einem von diesen getan
habt, das habt ihr mir getan“[674].
Welche bessere Schätze hat Jesus als die, worin er
selbst geschaut zu werden wünscht?
141. Diese Schätze zeigte Laurentius vor, und er blieb
Sieger, weil selbst der Verfolger sie nicht rauben
konnte. Als Joachim bei der Belagerung das Gold
zurückhielt, statt es zur Beschaffung von
Nahrungsmitteln zu verwenden, mußte er sehen, wie
einerseits das Gold geraubt, andrerseits er selbst in
die Gefangenschaft abgeführt wurde[675].
Laurentius, der das Gold der Kirche lieber an die Armen
verteilen, als für den Verfolger aufbewahren wollte,
empfing für seine einzigartig geistreiche Deutung die
heilige Martyrkrone. Hat man nun etwa dem Laurentius
entgegengehalten: Du durftest die Schätze der Kirche
nicht aufwenden, die gottesdienstlichen Gefäße nicht
verkaufen?
142. Erforderlich ist, daß einer ein solches Handeln in
reiner Absicht und aus offensichtlicher Fürsorglichkeit
vollbringt. In der Tat, wenn jemand Aufwendungen zu
seinem Vorteil macht, so ist es ein Verbrechen; wendet
er es für die Armen auf, kauft er einen Gefangenen los,
so ist es Barmherzigkeit. Denn niemand kann sagen: Wozu
lebt der Arme? Niemand kann den Loskauf von Gefangenen
bedauern. Niemand kann Klage erheben, daß ein Tempel
Gottes erbaut wurde. Niemand kann darüber ungehalten
sein, daß man zur Bestattung der leiblichen Überreste
der Gläubigen geräumige Plätze schuf. Niemand kann es
leid tun, daß die Toten ihre Ruhe in den Grabstätten der
Christen finden. Auf solche dreifache Art ist es
gestattet, Kirchengefäße, selbst geweihte, zu
zerbrechen, einzuschmelzen und zu veräußern.
143. Darauf ist notwendig zu sehen, daß kein geformter
gottesdienstlicher Becher aus der Kirche fortkomme,
damit der heilige Kelch nicht lasterhaftem Gebrauche
dienstbar gemacht werde. Man sah sich darum innerhalb
der Kirche zunächst nach den ungeweihten Gefäßen um,
schlug sie hierauf klein, schmolz sie endlich ein und
verteilte sie in kleinen Stücken unter die Dürftigen.
Ebenso kamen sie den Gefangenen zugute. Fehlt es an
neuen und ungeweihten Gefäßen, können meiner Überzeugung
nach alle zu solchen Zwecken, wie wir sie oben
aufführten, mit gutem Gewissen verwendet werden.
XXIX. Kapitel
Vom
Nützlichen: Die Hinterlagen der Witwen und der Gläubigen
überhaupt sind treu zu bewahren (144). Heliodors
abschreckendes Beispiel (145—148). Dem Übergriff der
Mächtigen muß der Klerus wehren (149), wie Ambrosius
selbst wiederholt und der Bischof von Ticinum erst
jüngst dem Kaiser Widerstand geleistet haben (150—151).
144. Darauf fürwahr ist sorgfältig zu achten, daß die
Hinterlagen von Witwen unangetastet bleiben und ohne
jede Gefährdung aufbewahrt werden — nicht bloß von
Witwen, sondern auch von allen anderen; denn allen ist
die Treue zu wahren; obenan steht freilich die Sache der
Witwen und Waisen.
145. Ausschließlich auf diesen Namen der Witwen wurde
denn auch, wie wir in den Büchern der Makkabäer[676]
lesen, die ganze Summe, die dem Tempel anvertraut war,
aufbewahrt. Als nämlich Anzeige von den Geldern
erstattet wurde, die, wie der gottlose Simon dem Könige
Antiochus verriet, in großer Menge im Tempel zu
Jerusalem zu finden waren, wurde Heliodor als Sachwalter
abgesandt. Er kam zum Tempel und eröffnete dem
Hohenpriester die traurige Anzeige und den Grund seiner
Ankunft.
146. Darauf erklärte der Priester, es sei die Hinterlage
zum Unterhalte der Witwen und Waisen. Als Heliodor
trotzdem an deren Raub gehen und sie dem königlichen
Fiskus zu eigen machen wollte, warfen sich die Priester,
mit der priesterlichen Kleidung angetan, vor den Altar
und riefen unter Tränen zum lebendigen Gott, der das
Gesetz über die Hinterlage gegeben hatte, er möchte sich
als Beschützer seiner Gebote zeigen. Die Gesichtsfarbe
des Hohenpriesters aber war verändert und verriet den
Schmerz der Seele und den Kummer des tieferschütterten
Herzens. Alles weinte, weil die Stätte der Verachtung
anheimfallen müsse, wenn nicht einmal mehr im Tempel
Gottes sich eine verlässige, sichere Hut durchhalten
lasse, Weiber, die Brust umgürtet, und
weltabgeschlossene Jungfrauen klopften an die Türe: die
einen liefen den Mauern zu, andere lugten zum Fenster
heraus; alles streckte die Hände zum Himmel und flehte,
der Herr möge seine eigenen Gesetze schützen.
147. Aber auch hierdurch ließ Heliodor sich nicht
abschrecken. Er beschleunigte sein Vorhaben und hatte
eben mit seinen Trabanten den Tempelschatz umringt. Da
erschien ihm plötzlich ein furchtbarer Reiter, in
goldener Waffenrüstung blitzend; sein Roß aber war mit
einer Prachtdecke geschmückt. Noch weitere zwei
Jünglinge erschienen, von leuchtender Kraft und holder
Anmut, in herrlichem Glänze und kostbarem Gewande. Sie
umringten ihn und geißelten den Tempelschänder
ununterbrochen mit fortgesetzten Hieben. Wozu viele
Worte? Von Finsternis umgeben, stürzte er zur Erde und
lag — ein augenscheinlicher Beweis von Gottes Eingreifen
— entseelt am Boden, und kein Hoffnungsstrahl auf
Rettung ruhte auf ihm. Da überkam die Fürchtenden
Freude, die Übermütigen Furcht, und niedergeschmettert
baten einige von den Freunden Heliodors den Onias, er
möchte um dessen Leben bitten. Schon lag er nämlich in
den letzten Zügen.
148. Während nun der Hohepriester betete, erschienen dem
Heliodor wiederum die nämlichen Jünglinge im nämlichen
Gewande mit der Aufforderung: Dem Hohenpriester Onias
sage Dank; denn um seinetwillen ward dir das Leben
wieder geschenkt! Du aber geh, nachdem du die Geißel des
Herrn gekostet, und verkündige all den Deinigen, wie
groß des Tempels Heiligkeit und Gottes Macht ist, die du
kennen lerntest! Nach diesen Worten waren sie nicht mehr
zu sehen. Heliodor nun brachte, nachdem er den
Lebensodem zurückerhalten hatte, dem Herrn ein Opfer
dar, sprach dem Priester Onias seinen Dank aus und
kehrte mit dem Heere zum König zurück, zu dem er sprach:
Hast du einen offenen Feind oder einen geheimen Gegner
deiner Sache, schicke ihn dorthin, und du wirst ihn
gezüchtigt zurückbekommen.
149. So verlangen denn, meine Söhne, hinterlegte Gelder
Treue und Sorgfalt. Herrliches Licht fällt auf euren
Dienst, wenn der unerträglichen Bedrückung, sei es einer
Witwe, sei es von Waisen durch einen Mächtigen mit Hilfe
der Kirche ein Damm gesetzt wird; wenn ihr zeigt, daß
bei euch das Gebot des Herrn mehr gilt als die Gunst
eines Reichen.
150. Ihr erinnert euch selbst, wie oft wir Übergriffen
der Regierung gegenüber den Kampf für der Witwen, ja für
jedermanns Hinterlagen aufgenommen haben. Ich teile mich
in eure Aufgabe. Ein neues Beispiel aus der Kirche von
Ticinum möchte ich anführen. Sie stand in Gefahr, die
Hinterlage einer Witwe, die sie übernommen hatte, zu
verlieren. Auf die Aufforderung des Beamten, der kraft
kaiserlichen Reskriptes dieselbe zu sich nehmen wollte,
wahrten die Kleriker ihren Standpunkt nicht. Da ihnen
auch noch Ehre angetan und die Vermittlung übertragen
wurde, berichteten sie, man könne doch den Verordnungen
des Kaisers nicht entgegentreten. Der Erlaß, der nur in
allzu bestimmter Form lautete, und die Weisungen des
obersten Beamten wurden verlesen, das ausführende Organ
drohte. Kurz, der Auslieferung war stattgegeben worden.
151. Der heilige Bischof jedoch nahm, nachdem er mit mir
Rat gepflogen hatte, die Schränke, wohin jene Hinterlage
der Witwe, wie er wußte, gebracht war, in Beschlag. Da
man sie also nicht fortschaffen konnte, wurde ein
schriftliches Protokoll darüber aufgenommen. Später
wurde das Geld neuerdings schriftlich gefordert.
Wiederholt hatte der Kaiser Befehl gegeben zu einer
persönlichen Zusammenkunft mit uns. Sie wurde abgelehnt.
Erst nachdem dem Kaiser die Autorität des göttlichen
Gesetzes und der Text der (einschlägigen) Schriftlesung
sowie Heliodors Gefahr auseinandergesetzt worden waren,
nahm er endlich zur Not Vernunft an. Auch später noch
wurde ein Anschlag versucht. Doch der heilige Bischof
kam dem zuvor. Er gab der Witwe das Empfangene zurück.
Inzwischen ist die Treue unbehelligt; kein Druck zur
Einschüchterung wird ausgeübt: Heute steht die Sache,
nicht die Treue in Gefahr.
XXX.
Kapitel
Schlußmahnungen an die Kleriker (152—156).
152. Meine Söhne, flieht die Gottlosen, hütet euch vor
den Neidern! Zwischen dem Gottlosen und dem Neider ist
dieser Unterschied: der Gottlose ergötzt sich am
eigenen, der Neider quält sich über fremdes Gut; jener
liebt das Schlechte, dieser haßt das Gute. Fast erträgt
man jenen, der sich Gutes wünscht, lieber als jenen, der
allen Schlechtes wünscht.
153. Meine Söhne, denkt, bevor ihr handelt! Und erst,
wenn ihr länger überdacht habt, dann tut, was ihr für
gut findet! Gibt sich Gelegenheit zu einem rühmlichen
Tod, ist sie unverzüglich zu ergreifen. Aufgeschobener
Ruhm entflieht und läßt sich nicht leicht
zurückgewinnen.
154. Liebt den Glauben! Denn durch Glaube und Andacht
erwarb sich Josias von seinen Gegnern große Liebe, weil
er im achtzehnten Jahre (seiner Regierung) wie keiner
vor ihm das Pascha des Herrn feierte[677].
Alle übertraf er sonach an Eifer. Faßt auch ihr, meine
Söhne, Eifer für Gott! Gottes Eifer dränge euch und
verzehre euch, so daß ein jeder von euch ausrufen kann:
„Der Eifer für Dein Haus drängte mich“[678].
Ein Apostel Christi hieß ‚der Eiferer‘[679].
Was beziehe ich mich auf einen Apostel? Der Herr selbst
beteuerte: „Der Eifer für Dein Haus verzehrt mich“[680].
Eifer für Gott also herrsche, nicht jene menschliche
Eifersucht, die der Neid erzeugt!
155. Der Friede, der allen Begriff übersteigt[681],
walte unter euch! Liebet einander![682]
Nichts ist süßer als die Liebe, nichts köstlicher als
der Friede. Und ihr selbst wißt, daß ich euch stets mehr
als alle anderen geliebt habe und liebe. Wie Söhne eines
Vaters seid ihr in der Bruderliebe geeint.
156. Haltet fest am Guten![683]
Und der Gott des Friedens[684]
und der Liebe[685]
wird mit euch sein im Herrn Jesus, dem Ehre, Ruhm,
Herrlichkeit und Macht gebührt samt dem Heiligen Geist
in alle Ewigkeiten. Amen[686].
Drittes Buch: Vom Verhältnis des Nützlichen zum
Sittlichguten
I.
Kapitel
Nicht erst Scipio, schon David (1), Moses (2), die
Apostel (3), Elias (4), Elisäus (5) verstanden es, in
der Einsamkeit nicht vereinsamt, in der Muße nicht müßig
zu sein. Wie unterscheidet sich die Muße eines Elisäus
von der gewöhnlichen (6)! Der Gerechte lebt in
Gemeinschaft mit Gott; sein Maßstab ist das Ewige (7).
1.
Der Prophet David lehrte uns, in unserem Herzen wie in
einem geräumigen Hause wandeln und mit ihm wie mit einem
guten Wohnungsgenossen verkehren, wie er selbst auch mit
sich redete und plauderte. So heißt es: „Ich sprach: ich
will acht haben auf meine Wege“[687].
Auch sein Sohn Salomo mahnt: „Trink Wasser aus den
eigenen Gefäßen und aus den Quellen deiner Bronnen“[688],
d.i. schöpfe aus der eigenen Einsicht! Denn „tiefes
Wasser ist die Einsicht im Herzen des Mannes“[689].
„Kein Fremder“, fährt er fort, „teile sich mit dir
darein! Dein Wasserquell gehöre dir allein, und deine
Freude habe an dem Weibe, das dein eigen von Jugend auf!
Ein freundschaftlicher Hirsch und ein freundliches
Füllen mögen mit dir plaudern!“[690]
2.
Nicht Scipio war also der erste, der es verstand, nicht
allein zu sein, wenn er allein war, und ebensowenig
müßig, wenn er müßig war[691].
Vor ihm verstand es Moses, der, da er schwieg, schrie[692],
da er müßig stand, kämpfte, und nicht bloß kämpfte,
sondern auch über die Feinde, ohne mit ihnen in
Berührung gekommen zu sein, triumphierte: so müßig, daß
andere ihm sogar die Hände stützten, und doch nicht
weniger tätig wie die übrigen, indem er mit seinen
müßigen Händen den Feind bezwang, den die Kämpfenden
nicht zu besiegen vermochten[693].
So also redete Moses im Schweigen und war tätig in der
Muße. Wessen Tätigkeit aber überträfe an Bedeutung seine
Muße? Empfing er doch nach vierzigtägiger
Zurückgezogenheit auf dem Berge das ganze Gesetz[694].
Selbst in jener Einsamkeit fehlte es nicht an jemand,
der mit ihm sprach. Daher denn auch Davids Wort: „Ich
will hören, was Gott der Herr in mir spricht“[695].
Und wie unvergleichlich mehr bedeutet Gottes Sprechen
mit einem als das Selbstgespräch, das einer führt!
3.
Die Apostel gingen vorüber, und ihr Schatten heilte die
Kranken[696].
Man berührte ihre Kleider und erlangte Gesundung[697].
4.
Elias sprach nur ein Wort, und der Regen hielt inne und
fiel drei Jahre und sechs Monate nicht mehr zur Erde.
Wiederum sprach er, und der Mehltopf nahm nicht ab, und
das Ölgefäß wurde während der ganzen Zeit der langen
Hungersnot nicht leer[698].
5.
Und weil man so gern an Kriegsereignissen seine Freude
hat: was ist großartiger, mit wuchtigen Armen oder mit
bloßen Verdiensten das Ende einer Schlacht herbeigeführt
zu haben? Elisäus blieb am gleichen Platz sitzen, und
der König von Syrien zog mit großer Kriegsmacht wider
das Vätervolk heran, bedrohte es einmal über das andere
Mal mit mannigfachen tückischen Anschlägen und suchte
ihm mit Hinterlist und Hinterhalt beizukommen. Doch der
Prophet durchschaute alle seine Vorkehrungen, deckte den
Seinigen, im Geiste mit Gottes Gnade überall zugegen,
die Absichten der Feinde auf und machte auf die Orte
aufmerksam, vor denen man sich zu hüten hätte. Sobald
das dem Könige von Syrien kundgetan ward, sandte er ein
Heer aus und ließ den Propheten einschließen. Elisäus
betete und bewirkte, daß all jene, die gekommen waren
ihn einzuschließen, mit Blindheit geschlagen wurden und
Samaria als Gefangene betraten[699].
6.
Vergleichen wir solche Muße mit der Muße anderer. Andere
pflegen zum Ausruhen ihren Geist von Beschäftigungen
abzulenken, vom Verkehr und Umgang mit Menschen sich
zurückzuziehen und entweder auf das stille Land zu gehen
und einsame Plätzchen aufzusuchen, oder aber in der
Stadt den Geist abzuspannen und der Ruhe und Erholung zu
frönen[700].
Elisäus hingegen teilt in der Einsamkeit durch sein
Hindurchgehen den Jordan, so daß er in seinem Unterlauf
abfließt, in seinem Oberlauf zur Quelle zurückflutet[701].
Oder er verhilft auf dem Karmel einer Unfruchtbaren
unerwartet zur Leibesfrucht, nachdem er das Hindernis
der Zeugung beseitigt hatte[702];
oder erweckt Tote[703];
oder benimmt Speisen ihre Bitterkeit und macht sie durch
Beimischung von Mehl schmackhaft[704];
oder läßt zehn Brote verteilen und die Reste nach der
Sättigung des Volkes sammeln[705];
oder macht ein Axteisen, das abglitt und in die Tiefe
des Jordanflusses sank, mittels eines ins Wasser
gehaltenen Holzstückes an der Oberfläche schwimmen[706];
oder schafft einem Aussätzigen durch Reinigung[707],
oder in der Zeit der Dürre durch Regen, oder in der Zeit
der Hungersnot durch Fruchtbarkeit Wandel[708].
7.
Wann wäre denn der Gerechte allein, nachdem er stets mit
Gott weilt? Wann wäre er vereinsamt, nachdem er nimmer
von Christus sich trennt? „Wer wird uns“, so heißt es,
„von der Liebe Christi trennen?“[709]
„Wie ich vertraue, weder Tod, noch Leben, noch ein
Engel“[710].
Wann aber ruht er von Tätigkeit aus, nachdem er nimmer
vom Verdienst ausruht, das sein Mühen krönt? Auf welche
örtliche Grenzen aber soll er beschränkt sein, dem die
ganze Welt voll Reichtümer zu eigen ist? Welchen Maßstab
soll man zu seiner Beurteilung anlegen, da der Leute
Urteil ihn nimmer voll und ganz würdigt. Er ist
sozusagen ein Unbekannter, und doch kennt man ihn;
sozusagen ein Sterbender, und sieh, er lebt; sozusagen
ein Trauernder, und doch stets heiter; ein Dürftiger,
und freigebig; einer, der nichts hat und alles besitzt[711].
Denn der Gerechte richtet seinen Blick nur auf das
Beständige und Sittlichgute. Daher ist er, ob er auch
einem anderen arm dünkt, sich selbst reich; denn nicht
das Vergängliche, sondern das Ewige bildet den Maßstab
zu seiner Beurteilung.
II.
Kapitel
Nach christlicher Auffassung decken sich die Begriffe
‚sittlichgut‘ und ‚nützlich‘ (8—9). Der Unterschied
zwischen Erstpflichten und Mittelpflichten (10),
zwischen Tugend und Tugend überhaupt (11—12). Der
Gerechte, bezw. der Weise lebt nicht sich, sondern
anderen (13-14).
8.
Weil wir die beiden früheren Abschnitte, worin wir das
Sittlichgute und Nützliche behandelten, bereits
besprochen haben, so ergibt sich nun die Frage, ob wir
nicht das Sittlichgute und das Nützliche untereinander
vergleichen und untersuchen sollen, was zu befolgen sei.
Wie wir nämlich oben erörtert haben, ob diese und jene
Handlung sittlichgut oder schimpflich, in zweiter Reihe,
ob sie nützlich oder schädlich sei, so glaubten einige
in ähnlicher Weise an dieser Stelle die Frage aufwerfen
zu sollen, ob sie sittlichgut oder nützlich sei[712].
9.
Wir aber besorgen, wir möchten den Anschein wecken, als
würden wir diese Begriffe sozusagen als Gegensätze
einführen, nachdem wir doch oben bereits gezeigt haben,
daß sie sich decken, daß nur das Nützliche sittlichgut,
und nur das Sittlichgute nützlich sein kann. Wir folgen
ja nicht der Weisheit des Fleisches, bei welcher der
Nutzen, der im Geldgewinste liegt, am schwersten wiegt,
sondern der Weisheit, die aus Gott ist[713],
vor der das Große in den Augen dieser Welt als Nachteil
gilt[714].
10.
Dieses κατόρθωμα nämlich, d. i. die vollkommene und
vollendete Pflicht, entspringt nur der wahren
Tugendquelle. Auf sie folgt in zweiter Reihe die
gewöhnliche Leistung, die, wie schon das Wort andeutet,
nicht Sache angestrengter und einzigartiger Tugend ist,
sondern der großen Mehrzahl gemeinsam sein kann. Nach
Geldgewinst haschen, ist vielen eigen, an feinerem Mahl
und köstlicheren Speisen sich ergötzen, ist etwas
Gewöhnliches; dagegen ist Fasten und Enthaltsamkeit
Sache weniger, und Freisein von Begierde nach fremdem
Gut eine Seltenheit. Das Gegenteil vom letzteren aber
ist der Wunsch, den Nächsten zu benachteiligen, die
Unzufriedenheit mit dem Seinigen: hierin begegnet man
sich mit der großen Mehrzahl. So gibt es denn teils
Erstpflichten, teils Mittelpflichten. Die Erstpflichten
sind Gemeingut weniger, die Mittelpflichten Gemeinbesitz
der Mehrheit[715].
11.
So liegt denn häufig in ein und denselben Worten ein
verschiedener Sinn. In einem anderen Sinn heißen wir
Gott, in einem anderen den Menschen gut. In ähnlicher
Weise nennen wir in einem anderen Sinn Gott, in einem
anderen den Menschen gerecht. Auch im Evangelium werden
wir darüber belehrt: „So seid denn auch ihr vollkommen,
wie euer Vater, der im Himmel ist, vollkommen ist!“[716]
Selbst von Paulus lese ich, er sei vollkommen und nicht
vollkommen gewesen. Denn nachdem er erklärt hatte:
„Nicht daß ich es schon erreicht hätte oder schon
vollkommen wäre; ich strebe aber danach, ob ich's etwa
erreichen möchte“[717],
fügte er sogleich hinzu: „So viele nun von uns
vollkommen sind“[718].
Es gibt nämlich zweierlei Arten von Vollkommenheit: eine
halbvollendete und eine ganz voll endete; eine
diesseitige und eine jenseitige; eine nach Maßgabe des
Menschenmöglichen, eine nach Maßgabe der künftigen
Vollkommenheit. Gott aber ist in allem gerecht, über
alles weise, in allem vollkommen.
12.
Auch zwischen den Menschen selbst besteht ein Abstand.
In einem anderen Sinn ist Daniel weise, von dem es
heißt: „Wer ist weiser als Daniel?“[719],
in einem anderen Sinn sind es sonstige Weise, in einem
anderen Sinn Salomo, der mit einer Weisheit erfüllt war,
die alle Weisheit der Alten und alle Weisen Ägyptens
überragte[720].
Denn zwischen der gewöhnlichen Weisheit und der
vollkommenen Weisheit ist ein Unterschied. Die Weisheit
des gemeinen Weisen bewegt sich um das Zeitliche, bewegt
sich um das eigene Ich, um von dem Nächsten etwas zu
ergattern und sich anzueignen. Dem vollkommenen Weisen
liegt es fern, auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein;
sein ganzes Sinnen und Trachten geht vielmehr auf das
Ewige, auf das Schickliche und Sittlichgute, indem er
nicht seinen Nutzen, sondern den der Allgemeinheit
sucht.
13.
Um also auf jenen beiden Gebieten des Sittlichguten und
Nützlichen nicht in die Irre zu gehen, bleibe das die
Losung: der Gerechte glaube nicht, den Nächsten
beeinträchtigen zu sollen, und wünsche nicht, daß ihm
aus der Benachteiligung des Nächsten Vorteil erwachse!
Diese Norm schreibt dir der Apostel mit den Worten vor:
„Alles ist erlaubt, doch nicht alles frommt; alles ist
erlaubt, aber nicht alles erbaut. Niemand suche das
Seinige, sondern was des Nächsten ist“[721],
das heißt: niemand suche seinen Vorteil, sondern den des
Nächsten; niemand suche seine Ehre, sondern die des
Nächsten! Daher mahnt er auch an einer anderen Stelle:
„.....indem einer den anderen höher achtet als sich
selbst, ein jeder nicht an das Seinige denkt, sondern
auf das, was der anderen ist“[722].
14.
Niemand gehe ferner auf Selbstgefälligkeit, niemand auf
Eigenlob aus, sondern auf des Nächsten Lob. Das finden
wir klar auch im Spruchbuche ausgesprochen, in dem der
Heilige Geist durch Salomo mahnt: „Mein Sohn, wenn du
weise bist, so sei weise zu deinem und des Nächsten
Vorteil; wirst du aber böse, schlürfe allein das Böse
ein!“[723]
Denn auch der Weise ist auf andere bedacht, wie der
Gerechte, nachdem ja Tugendnormen auf das gleiche
hinauszielen.
III.
Kapitel
Die
Gleichförmigkeit mit Christus (15) ja der bloße Name
Mensch (16), seine soziale Stellung als Glied der
menschlichen Gesellschaft (17—18), Naturgesetz (19) wie
göttliches (20) und staatliches Gesetz (21) verbieten,
den Nächsten um des eigenen Vorteils willen zu
benachteiligen (22—23)[724].
15.
Wer aller Wohlgefallen wünscht, suche nicht seinen
Nutzen, sondern den der großen Mehrheit, wie ihn Paulus
suchte. Denn das heißt Christus gleichförmig werden:
nicht nach fremdem Gute auslangen, nichts vom Nächsten
ergattern, um es sich anzueignen. Christus der Herr
nämlich, da er doch in Gottes Gestalt war, entäußerte
sich, so daß er Menschengestalt annahm[725],
um sie mit den Tugendschätzen seines Wirkens zu
bereichern. Du nun willst den berauben, den Christus
ausstattete? Du willst den ausziehen, den Christus
bekleidete? Denn das tust du, wenn du zum Nachteil des
anderen deine eigenen Glücksgüter zu mehren trachtest.
16.
Bedenke, o Mensch, woher du deinen Namen bekommen hast!
Von der Erde doch[726],
die niemand etwas nimmt, sondern allen alles gibt und
allen Lebewesen ihre mannigfaltigen Früchte zum Genusse
darbietet. Daher der Name Menschlichkeit für jene
besondere, dem Menschen eignende Tugend, die sich dem
Nebenmenschen hilfreich erweist.
17.
Schon die Gestalt deines Leibes und die Tätigkeit deiner
Glieder mag dich belehren. Maßt sich etwa ein Glied an
dir die Dienste eines anderen an? Maßt sich das Auge den
Dienst des Mundes, oder der Mund den Dienst des Auges,
oder die Hand den Dienst der Füße, oder der Fuß den
Dienst der Hände an?[727]
Ja selbst die rechte und die linke Hand haben vielfach
ihre unterschiedlichen Dienste, so daß es naturwidrig
wäre, würde man die Tätigkeit der beiden vertauschen.
Eher ließe sich der ganze Mensch verkehren als die
Dienste seiner Glieder: wenn man mit der Linken Speise
nähme, oder mit der Rechten eine Tätigkeit der Linken
verrichtete, wie die Beseitigung von Speiseresten, es
würde denn der Notfall es erfordern.
18.
Setze den Fall und gib dem Auge die Kraft, daß es dem
Haupte den Sinn, den Ohren das Gehör, dem Geiste die
Gedanken, der Nase den Geruch, dem Munde den Geschmack
nehme und sich selbst aneigne: würde das nicht die ganze
Anlage der Natur aufheben? Daher der schöne Ausspruch
des Apostels: „Wenn der ganze Leib Auge wäre, wo wäre
das Gehör? Wenn der ganze Leib Gehör wäre, wo wäre der
Geruch?[728]
Alle sind wir sonach ein Leib und dessen verschiedene
Glieder[729],
doch alle dem Leibe notwendige Glieder. Denn es kann
nicht ein Glied vom anderen sagen: es ist mir nicht
vonnöten. Vielmehr sind sogar die anscheinend
schwächeren Glieder weitaus die notwendigeren[730]
und erfordern zumeist die größere Sorgfalt für ihren
Schutz. Und wenn ein Glied leidet, leiden alle mit ihm[731].
19.
Wie sündhaft ist es also, einen irgendwie zu schmälern,
mit dem wir Mitgefühl haben sollten, und einen zu
hintergehen und zu schädigen, dem wir teilnehmenden
Dienst schulden! Ist dies doch ein Naturgesetz, das uns
zu jeglicher Menschlichkeit verpflichtet: Wir sollen
gegenseitig, einer dem andern, als Glieder eines Leibes
zu Diensten stehen und nicht glauben, uns irgendeine
Schmälerung erlauben zu dürfen, nachdem schon das
Nichthelfen wider das Naturgesetz verstößt. Denn also
treten wir ins Leben, daß zwischen den Gliedern
Übereinstimmung herrscht, eines dem anderen anhängt, in
gegenseitiger Dienstleistung untereinander
Willfährigkeit herrscht. Läßt es nur eines an seiner
Verrichtung fehlen, werden alle anderen behindert. Risse
beispielsweise die Hand das Auge aus, hätte sie sich
nicht damit die Ausübung ihrer Tätigkeit abgeschnitten?
Würde sie den Fuß verletzen, wie viele ersprießliche
Handlungen würde sie sich selbst versagen! Wie
unvergleichlich schlimmer wäre die Schädigung des ganzen
Menschen als die eines Gliedes! Liegt nun in einem
Gliede die Verletzung des ganzen Leibes vor, so wird
auch in einem Menschen die Gemeinschaft der ganzen
Menschheit untergraben: man verletzt die Natur des
Menschengeschlechtes und die Gemeinschaft der heiligen
Kirche, die durch die Einheit des Glaubens und der Liebe
zu einem fest verbundenen und gefügten Leibe ersteht.
Auch wird es Christus den Herrn, der für alle gestorben
ist, schmerzen, wenn er den Preis seines Blutes
vereitelt sieht.
20.
Lehrt uns doch auch das Gesetz des Herrn selbst die Norm
festhalten, den Nächsten nicht um des eigenen Vorteils
willen zu benachteiligen, wenn es gebietet: „Verrücke
die Grenzen nicht, die deine Väter gesetzt haben!“[732];
wenn es befiehlt, man solle das herumirrende Kalb seines
Freundes zurückbringen[733];
wenn es auf Diebstahl die Todesstrafe setzt[734];
wenn es verbietet, den Taglöhner um den schuldigen Lohn
zu betrügen[735]
; wenn es die Rückzahlung des Geldes ohne Zinsforderung
verlangte[736].
Dem Mittellosen zu Hilfe zu kommen, ist Menschlichkeit;
Hartherzigkeit hingegen ist es, mehr zu erpressen, als
man hingegeben hat. Denn wenn er deshalb deiner Hilfe
bedurfte, weil er nicht imstande war, aus eigenen
Mitteln eine Heimzahlung zu leisten: wäre es nicht
gottlos, unter dem Scheine der Menschlichkeit von einem,
der außerstande war, eine geringere Summe heimzuzahlen,
eine größere zu fordern? Du willst einem anderen einen
Schuldner vom Halse schaffen, um ihn zum eigenen zu
verurteilen: und das willst du Menschlichkeit nennen, wo
Unrecht auf Unrecht sich häuft?
21.
Das haben wir vor den übrigen lebenden Wesen voraus, daß
die einen Arten von ihnen nichts von einem Mitteilen
wissen, die wilden Tiere aber auf Raub ausgehen, der
Mensch mitteilsam ist. Daher des Psalmisten Wort: „Der
Gerechte ist mitleidig und teilt aus“[737].
Wohl gibt es Wesen, denen auch die wilden Tiere etwas
zutragen. Sie nähren ja durch Zutragen ihre Brut. Und
auch die Vögel atzen ihre Jungen mit Speise. Dem
Menschen allein aber war es verliehen, allen Nahrung zu
reichen, als wären sie die Seinigen, Er schuldet das
schon kraft des Naturgesetzes. Wenn nun schon ein
Nichtgeben pflichtwidrig wäre, wie könnte eine
Benachteiligung erlaubt sein? Belehren uns nicht auch
die Gesetze hierüber? Verlangen sie doch in erhöhtem
Maße Rückerstattung des Schadens, der einem unter
persönlicher oder unter Sachverletzung zugefügt wurde,
um so den Dieb, sei es durch Strafen von Schädigung
abzuschrecken, sei es durch Geldbuße davon
zurückzuhalten.
22.
Nimm jedoch den Fall, es wäre einer imstande, vor Strafe
sich nicht zu fürchten, oder über die Strafe sich lustig
zu machen: wäre es deshalb für jemand geziemend, dem
Nächsten etwas zu entwenden? Das wäre das Laster der
Sklaven, heimisch im niedrigsten Stande, so naturwidrig,
daß es scheinen möchte, daß mehr die Not hierzu nötigte,
als die Natur riet. Sklavenart ist heimlicher Diebstahl,
der Reichen Art öffentliche Erpressung.
23.
Was aber wäre so naturwidrig, als die Schädigung des
Nächsten um eines eigenen Vorteiles willen, da doch das
natürliche Gefühl einem die Pflicht nahelegt, auf alle
seine Sorge auszudehnen, für sie Beschwerden auf sich zu
nehmen, der Mühe sich zu unterziehen; da es für jeden
als rühmlich gilt, wenn er unter eigenen Gefahren für
die Ruhe und den Frieden der Allgemeinheit eintritt;
jeder es für viel edler erachtet, wenn er lieber den
Untergang des Vaterlandes denn eigene Gefahren
abwendete; es für vorzüglicher hält, daß er sein Wirken
dem Vaterlande weihte, statt unter tausend Genüssen in
Muße ein ruhiges Leben zu führen?
IV.
Kapitel
Jede Benachteiligung des Nächsten ist ein Verstoß gegen
das natürliche (24—26) und christliche Sittengesetz
(27—28). (Forts.)
24.
Daraus folgt nun, daß der Mensch, der in seiner
natürlichen Anlage die Weisung trägt, der Natur zu
folgen, unmöglich dem Nächsten schaden darf; daß der
Vorteil, den er zu erlangen glaubt, wenn er einen
schädigt die Natur verletzt und nicht so groß ist als
der Nachteil, der ihm daraus ersteht. Welch schwerere
Strafe gäbe es denn als ein wundes Gewissen im Innern?
Welch strengeres Gericht als das eigene, kraft dessen
jeder sich vor sich selbst schuldig weiß, sich selbst
anklagt, daß er in unwürdigem Verhalten dem Bruder
Unrecht getan hat? Die Schrift verurteilt das nicht
wenig scharf mit den Worten: „Aus dem Munde der Toren
dringt die Rute der Schmach“[738].
Der Torheit wird sonach der Mensch geziehen, der Schmach
zufügt. Ist das nicht mehr zu fliehen als der Tod, als
Verlust, als Not, als Verbannung, als schmerzliche
Krankheit? Wer wollte denn ein Leibesgebrechen oder
einen Vermögensverlust nicht geringer anschlagen als ein
Gebrechen der Seele oder die Einbuße des guten Namens?
35.
So hat denn, wie sich klar ergibt, jedermann darauf zu
sehen und daran festzuhalten, daß nur das, was der
Gesamtheit nützt, zugleich dem einzelnen frommt, und
darf nichts für vorteilhaft erachten, was nicht
gemeinnützig ist. Wie könnte denn auch das, was allen
zum Schaden ist, dem einzelnen von Nutzen sein? Ich
wenigstens glaube nicht, daß einer, der der
Allgemeinheit nicht nützt, sich selbst nützen kann. Denn
wenn es nur ein Naturgesetz für alle gibt, dann gibt es
doch auch nur einen Nutzen für alle; dann sind wir durch
das Naturgesetz zur Sorge für alle verpflichtet. Wer
also für den Nächsten, wie es naturgemäß ist, gesorgt
wissen will, dem liegt es fern, ihm wider das
Naturgesetz zu schaden.
36.
Wenn die Kämpfer, die in der Rennbahn laufen, wie es
heißt, derart geschult und angeleitet werden, daß jeder
durch Schnelligkeit, nicht durch Übervorteilung das Ziel
anstreben und durch möglichst flinkes Laufen dem Ziel
entgegeneilen soll, ohne sich zu erdreisten, dem anderen
ein Bein zu stellen oder mit der Hand ihn zu Fall zu
bringen[739]:
wieviel mehr müssen wir in diesem unseren Lebenslaufe
ohne Trug und Übervorteilung des Nächsten den Sieg
anstreben?
37.
Manche werfen die Frage auf, ob ein Weiser, wenn er bei
einem Schiffbruch einem Nichtweisen ein Brett entreißen
könnte, es müsse[740].
Ich nun pflichte, ob es auch für das Gemeinwohl
zweckdienlicher erscheinen mag, daß lieber ein Weiser
als ein Unweiser dem Schiffbruch entgehe, gleichwohl
nicht der Meinung zu, daß ein gerechter und weiser
Christ sich sein Leben um den Preis des Unterganges
eines anderen sich zu erhalten suchen soll. Darf er doch
selbst im Fall, daß er einem bewaffneten Räuber in die
Hand fällt, dem Schlagenden den Schlag nicht
zurückversetzen, um nicht bei der Verteidigung seines
Lebens die Liebe zu verletzen. Hierüber steht in den
Evangelienschriften der klare und deutliche Ausspruch:
„Stecke dein Schwert ein! Denn jeder, der mit dem
Schwerte schlägt, wird mit dem Schwerte geschlagen
werden“[741].
Wer wäre ein verabscheuungswürdigerer Räuber als der
Häscher, der gekommen war, Christus zu töten? Doch
Christus wollte sich nicht um den Preis der Verwundung
seiner Verfolger verteidigen lassen: er, der durch seine
Wunden alle heilen wollte.
28.
Warum wolltest du dich denn für besser halten als den
Nächsten? Ist es doch Christenart, dem anderen den
Vorzug vor sich zu geben, nichts sich anzumaßen, keine
Ehre für sich in Anspruch zu nehmen, keinen Preis für
sein Verdienst sich zu verlangen. Ferner warum wolltest
du es dir nicht zur Gepflogenheit machen, lieber eigenen
Nachteil zu erleiden, als fremden Vorteil an dich zu
reißen? Was wäre so naturwidrig, als mit dem eigenen
Besitz nicht zufrieden zu sein, nach fremdem Gut zu
streben, schimpflich danach zu fahnden? Denn ist das
Sittlichgute naturgemäß — alles hat ja Gott überaus gut
gemacht —, so ist doch das Schändliche das Gegenteil
davon. Es läßt sich darum zwischen dem Sittlichguten und
dem Schandbaren kein Bund eingehen, da sie sich nach dem
Naturgesetze gegenseitig ausschließen[742].
V.
Kapitel
Der
wahre Weise handelt auch im geheimen recht (29). Zum
Beweis dessen bedarf es nicht der Erdichtung der
Gygessage (30—32), sondern genügt der Hinweis auf wahre
Begebenheiten aus der Geschichte Davids (33—34) oder des
Täufers (35). Der wahre Jünger Christi führt ein
verborgenes Leben (36).
29.
Doch um nun auch in diesem Buche ein Ziel uns zu setzen,
gleichsam einen Endpunkt für unsere Abhandlung, auf den
wir mit unserem Satz, nur das Sittlichgute sei
erstrebenswert, hinauszielen: so handelt der Weise in
allem voll Aufrichtigkeit, ohne Trug, und tut, auch wenn
er verborgen bleiben kann, nichts, worin er sich
irgendwie in Schuld verstricken würde[743].
Denn eher als vor anderen, fühlt er sich vor sich selbst
schuldig; und schwerer wiegt bei ihm die Beschämung vor
dem Gewissen als jene, welche das Offenkundigwerden
einer Schandtat mit sich führt. Das können wir nicht nur
an erdichteten Fabeln, wie die Philosophen es bei ihren
Besprechungen tun[744],
sondern an völlig wahren Beispielen von gerechten
Männern aufzeigen.
30.
Ich brauche also keinen Erdspalt erdichten, indem die
Erde auf angebliche heftige Regenschauer hin zerriß und
auseinanderbarst. Gyges soll hier nach Plato
hinabgestiegen und auf jenes fabelhafte Roß aus Erz
gestoßen sein, das an seinen Seiten Türen hatte.
Sogleich nach Öffnung derselben habe er einen goldenen
Ring am Finger eines Toten bemerkt, dessen entseelter
Leichnam daselbst lag, und aus Goldgier den Ring
genommen. Da er sich aber zu des Königs Hirten, zu deren
Zahl er selbst gehörte, zurückbegeben hatte, sah er, als
er einmal zufällig die Fassung jenes Ringes nach der
flachen Hand gedreht hatte, seinerseits alle, während er
selbst niemand sichtbar war; sodann aber, als er den
Ring an seinen Platz zurückgedreht hatte, ward er
wiederum allen sichtbar. Mit diesem Wunder vertraut,
nahte er mit Hilfe des Ringes der Königin und entehrte
sie gewaltsam, tötete den König und ermordete die
übrigen, die er töten zu müssen glaubte, um ihm nicht
hinderlich im Wege zu stehen, und erlangte so das
lydische Königreich.
31.
Gib, so fordert man, diesen Ring einem Weisen, daß er im
Fall eines Fehltrittes mit Hilfe desselben verborgen
bleiben könne! Er wird die Befleckung der Sünde nicht
weniger fliehen, als wenn er nicht verborgen bleiben
könnte. Denn nicht der Schlupfwinkel, sondern die
Schuldlosigkeit verbürgt dem Weisen die
Zuversichtlichkeit seiner Straffreiheit. So ist denn
auch „das Gesetz nicht dem Gerechten auferlegt, sondern
dem Ungerechten“[745].
Denn der Gerechte hat zum Gesetz seinen Geist und zur
Norm seine Rechtlichkeit und Gerechtigkeit. Darum hält
er sich nicht aus Furcht vor Strafe, sondern kraft der
Norm des Sittlichguten von Schuld fern.
32.
So laßt uns denn, um auf unseren Gegenstand
zurückzukommen, nicht fabelhafte Beispiele an Stelle
wahrer, sondern wahre an Stelle fabelhafter vorführen!
Wofür hätte ich denn vonnöten, einen Erdspalt, ein
ehernes Roß und einen goldenen Ring zu erdichten, der am
Finger eines Toten gefunden worden sei, einen Ring,
dessen Kraft so groß sei, daß der, welcher ihn
ansteckte, nach Belieben, wann er wolle, sichtbar
erscheinen, wann er nicht wolle, dem Blick der
Anwesenden sich entziehen könne, so daß er, obschon
gegenwärtig, unsichtbar bleibe? Auf die Frage zielt doch
die Fabel ab, ob der Weise auch dann, wenn ihm jener
Ring zur Verfügung stünde, mit dem er seine Schandtaten
verbergen und eine Krone gewinnen könnte, gleichwohl
nicht sündigen wollte und die verbrecherische Befleckung
für schlimmer halten würde als die qualvollen Strafen
hierfür; oder aber ob er die Straflosigkeit, die in
Aussicht stünde, zur Begehung eines Verbrechens
ausnützen würde. Was hätte ich, so wiederhole ich, einen
erdichteten Ring vonnöten, da ich aus der Geschichte
zeigen kann, wie ein weiser Mann, da er sah, daß er im
Fall der Versündigung die Möglichkeit nicht bloß zum
Verborgenbleiben in der Sünde, sondern auch zur
Erlangung der Herrschaft hatte, während er umgekehrt im
Fall der Nichtbegehung des Verbrechens augenscheinlich
für sein Leben Gefahr lief, lieber zur Meidung des
Verbrechens die Lebensgefahr der Schandtat vorzog, mit
der er sich die Herrschaft hätte verschaffen können?
33.
David nämlich hat, als er vor König Saul floh, weil der
König mit auserlesenen dreitausend Mann in der Wüste ihm
nach dem Leben strebte, nicht bloß seinerseits dem
Könige, als er in dessen Lager eindrang und ihn
schlafend antraf, nichts zuleide getan, sondern ihn
sogar geschützt, daß er von keinem anderen, der zugleich
eingedrungen war, ums Leben gebracht würde[746].
Denn als Abisai zu ihm sprach: „Heute hat der Herr
deinen Feind in deine Hände geliefert, und nun will ich
ihn töten“[747],
erwiderte er: „Vernichte ihn nicht; denn wer wird an den
Gesalbten des Herrn seine Hand legen und rein bleiben?“[748]
Und er fügte bei: „So wahr der Herr lebt, wenn der Herr
ihn nicht schlägt, oder wenn seine Stunde nicht gekommen
ist, daß er sterbe, oder wenn er nicht in den Kampf geht
und mir sich gegenüberstellt, so bewahre mich der Herr,
daß ich meine Hand an den Gesalbten des Herrn lege“[749].
34.
So ließ er denn nicht zu, daß man ihn tötete, sondern
nahm nur die Lanze zu seinen Häupten und das Trinkgefäß
hinweg. Während alle schliefen, verließ er das Lager,
ging hinüber auf die Spitze eines Berges und begann die
Trabanten des Königs und allen voran dessen
Kriegsobersten Abner zu beschuldigen, daß er seinem
König und Herrn so gar keine treue Wache angedeihen
lasse; er möge ferner zeigen, wo die Lanze des Königs
und das Trinkgefäß zu dessen Häupten wären. Und er gab
sogar auf die Aufforderung des Königs die Lanze zurück[750].
„Und der Herr“, so fügte er hinzu, „vergelte jedem seine
Gerechtigkeit und seine Treue, so wie der Herr dich
heute in meine Hände gegeben hat, und ich meine Hand
nicht an den Gesalbten des Herrn legen wollte“[751].
Während er dies sprach, mußte er doch dessen
Nachstellungen fürchten, seinen Wohnsitz mit der
Verbannung vertauschen und fliehen. Und dennoch ging ihm
sein Wohl nicht über seine Schuldlosigkeit. Er hatte,
obschon sich ihm bereits zum zweiten Mal die Möglichkeit
bot, den König zu töten, die vorteilhafte Gelegenheit
nicht benützen wollen, die ihm, dem Fürchtenden, die
Sicherheit des Lebens, dem Verbannten die Königskrone
bot.
35.
Wo bedurfte Johannes des gygeischen Ringes? Hätte er
geschwiegen, wäre er von Herodes nicht getötet worden[752].
Sein Schweigen hätte ihm den Vorteil gebracht, am
sichtbaren Leben zu bleiben und nicht ermordet zu
werden. Weil er aber nicht bloß keine persönliche Sünde
zum Schutz seines Lebens zuließ, sondern nicht einmal
eine fremde Sünde dulden und ertragen konnte, darum
beschwor er selbst die Ursache zu seiner Ermordung
herauf. Sie, die von jenem Gyges leugnen, daß er dank
jenem Ringe verborgen bleiben konnte, können sicherlich
nicht leugnen, daß jener die Möglichkeit hatte, zu
schweigen.
36.
Aber entspricht auch der Fabel keine Wirklichkeit, hat
sie doch den Sinn, daß der Gerechte, ob er auch
verborgen bleiben könnte, dennoch die Sünde meidet, als
könnte er nicht verborgen bleiben; und daß er, wenn
nicht mit dem Ringe angetan, seine Person, so doch, mit
Christus angetan, sein Leben verborgen hält nach des
Apostels Wort: „Unser Leben ist mit Christus verborgen
in Gott“[753].
Niemand suche denn im Diesseits zu glänzen! Niemand maße
sich etwas an! Niemand poche auf sich! Christus wollte
hier keine Anerkennung, wollte nicht, daß sein Name im
Evangelium gepriesen werde, solange er auf Erden weilte.
Er kam, um vor dieser Welt sich zu verbergen[754].
So laßt denn auch uns nach dem Beispiel Christi unser
Leben verborgen halten! Laßt uns Prahlerei fliehen,
nicht nach Lob haschen! Besser ist es, hier in
Niedrigkeit, dort in Herrlichkeit zu sein. „Wenn
Christus erscheint“, so heißt es, „dann werdet auch ihr
mit ihm erscheinen in Herrlichkeit“[755].
VI.
Kapitel
Fort mit Preistreiberei und Lebensmittelhinterziehung in
der Zeit der Teuerung! Zurückweisung von Einwendungen
und Beschönigungen (37—41). Wie straft sie der Patriarch
Joseph durch sein Verhalten (42), Christus durch seine
Parabel (43), Salomo durch sein Urteil Lügen (44)!
37.
Nicht soll das Nützliche über das Sittlichgute, sondern
das Sittlichgute über das Nützliche den Sieg
davontragen. Ich meine unter dem Nützlichen das, was
nach der gewöhnlichen Auffassung darunter verstanden
wird. Habsucht soll ertötet werden, Begehrlichkeit
ersterben. Ein Heiliger bekennt, sich deshalb nicht mit
Handel befaßt zu haben, weil die höheren Preise, die man
erstrebt, nicht die Frucht der Ehrlichkeit, sondern der
Geriebenheit sind[756].
Und ein anderer spricht: „Wer nach Getreidepreisen Jagd
macht, ist beim Volke verflucht“[757].
38.
Der Sinn steht fest. Er läßt für Wortstreit keinen Raum.
Eine solche Art Wortgezänk pflegen die Sprüche zu sein,
die der eine macht: der Ackerbau gelte doch bei allen
für löblich; die Früchte der Erde wüchsen sonder Falsch;
je mehr Mühe einer auf die Aussaat verwende, um so mehr
Lob verdiene er; der fleißigeren Bewirtschaftung mangle
es nicht an reichlicheren Erträgnissen; man pflege doch
mehr die Nachlässigkeit und Sorglosigkeit, mit der man
ein Land unbebaut lasse, zu tadeln.
39.
Ich habe, macht man geltend, mit besonderem Fleiß
gepflügt, mit besonderem Eifer angebaut und guten Ertrag
geerntet, mit besonderer Sorgfalt ihn in die Scheuer
gebracht, treu aufbewahrt, umsichtig behütet. Jetzt zur
Zeit der Hungersnot verkaufe ich ihn, komme den
Hungernden zu Hilfe; verkaufe nicht fremdes, sondern
mein Getreide, nicht teurer als die übrigen, sondern
sogar billiger. Wie kann da von Trug die Rede sein, da
doch viele in Gefahr kommen könnten, wenn sie nichts zu
kaufen hätten? Will man eifriges Wirtschaften zum
Verbrechen stempeln? Will man die Rührigkeit tadeln?
Will man die Fürsorglichkeit schelten? Vielleicht mag er
einwenden: Auch Joseph sammelte Getreide in Fülle,
verkaufte es in der Zeit der Teuerung. Will man einen zu
noch teuererem Einkauf zwingen? Will man gegen den
Käufer Gewalt anwenden? Jedem wird Gelegenheit zum Kaufe
geboten, keinem geschieht Unrecht.
40.
Gegen diese Ausführungen nun, wie sie jeder nach seiner
Art vorbringt, erhebt sich ein anderer und spricht: Ja,
gut ist der Ackerbau, der allen seine Früchte darbietet;
der mit redlichem Fleiß die Fruchtbarkeit der Gefilde
mehrt, ohne Trügerisches, ohne Falsches darein zu säen.
Unstatthaftes irgendwelcher Art würde denn auch mehr
Nachteil stiften. Denn nur wer die Saat gut bestellt,
wird eine bessere Ernte erzielen; und wenn er lauteres
Weizenkorn sät, wird er auch reinere, lautere Frucht
einheimsen. Nur ein fruchtbarer Boden gibt vielfältig
zurück, was er aufgenommen hat; nur ein tüchtiger Acker
pflegt seine Erzeugnisse mit Zinseszins heimzuzahlen.
41.
Du darfst nun vom Ertrag der ergiebigen Scholle deiner
Mühe Lohn erwarten, von der Fruchtbarkeit des fetten
Bodens die gebührenden Einkünfte erhoffen. Warum willst
du das rege Schaffen der Natur in Trug kehren? Warum
ihre Erzeugnisse, die für alle da sind, neidisch dem
menschlichen Gebrauch entziehen? Warum deren Fülle dem
Volk verringern? Warum heuchlerisch Mangel vorschützen?
Warum bewirken, daß die Armen sich lieber
Unfruchtbarkeit wünschten? Denn wenn sie wegen deiner
Preistreiberei, wegen deiner Getreidehinterziehung vom
Segen der Fruchtbarkeit nichts spüren, wünschen sie sich
lieber keine Erzeugnisse als die Geschäfte, die du mit
der allgemeinen Teuerung machst. Dir kommt die
Getreidenot und der Lebensmittelmangel erwünscht, du
bedauerst reichliche Bodenerzeugnisse, klagst über
allgemeine Fruchtbarkeit, trauerst über volle
Getreideschuppen, hältst dich auf der Lauer, so oft ein
dürftigerer Ertrag, ein spärlicheres Wachstum einfällt.
Freudig begrüßt du den Fluch, der deinen Wünschen
lächelte, daß niemand die geringsten Erzeugnisse
erzielte. Da ist deine Ernte gekommen, dir zur Wonne; da
raffst du dir aus dem allgemeinen Elend deine Schätze
zusammen. Und das heißt du wirtschaften, das nennst du
Rührigkeit, was nur geriebene Schlauheit, listige
Gaunerei ist! Und das nennst du Hilfeleistung, was nur
nichtsnutzige Berechnung ist! Soll ich das Raub oder
Wucher nennen? Wie beim Raub werden nur die günstigen
Augenblicke erspäht, um als hartherziger, hinterhältiger
Mensch in den ureigenen Besitz der Leute einzudringen.
Man treibt den Wucherpreis hinauf und gefährdet dadurch
in noch höherem Grade das Leben. Dir aber erwächst
hundertfacher Ertrag aus der heimlich hinterzogenen
Erntefrucht. Du hältst wie ein Wucherer das Getreide
zurück und schraubst als Verkäufer dessen Preis in die
Höhe. Wozu gegen jedermann die schlimm gemeinte
Versicherung, die Hungersnot werde künftig noch größer,
weil es angeblich keine Früchte mehr gebe; weil ein noch
größeres Mißjahr folge? Dein Gewinst geht zu Schaden der
Allgemeinheit.
42.
Der heilige Joseph öffnete jedermann die Scheune,
verschloß sie nicht. Es war ihm auch nicht um
wucherische Getreidepreise zu tun, sondern um die
Erschließung einer nachhaltigen Hilfsquelle. Für sich
erwarb er nichts, sondern traf in fürsorglicher
Anordnung Vorkehrung, wie sich auch für künftig die
Hungersnot überwinden ließe[758].
43.
Ihr habt gelesen, wie der Herr Jesus im Evangelium einen
solchen Getreidepreiswucherer bloßstellt. Sein Besitz
trug ihm reiche Früchte ein, und gleichwohl sprach er,
als wäre er in Nöten: „Was soll ich tun? Ich habe keinen
Raum mehr, um etwas unterzubringen. Ich will meine
Scheunen abbrechen und größere bauen“[759].
Und doch konnte er nicht wissen, ob nicht seine Seele
schon in der folgenden Nacht von ihm abverlangt würde.
Er wußte nicht, was er tun solle; er schwebte in der
ungewissen Angst, es möchten ihm die Lebensmittel
ausgehen; die Scheunen faßten das Getreide nicht — und
er glaubte darben zu müssen.
44.
Mit Recht nun urteilt Salomo: „Wer das Getreide
zusammenhält, wird es (fremden) Völkern hinterlassen“[760],
nicht den Erben, weil der Ertrag der Habsucht nicht in
den Rechtsbesitz von Nachfolgern übergeht. Was nicht
rechtmäßig erworben wird, wird wie vom Winde unter
fremde Besitzer zerstreut, die es an sich reißen. Und er
fügte bei: „Wer wucherisch das Getreide aufkauft, ist
verflucht beim Volke; der Segen desselben aber ruht auf
dem Haupte dessen, der es verteilt“[761].
Es schickt sich wohl, wie du siehst, den
Getreideverteiler, nicht den Preisjäger zu machen. Es
ist das kein Nutzen, bei dem das Sittlichgute mehr
Einbuße als das Nützliche Zuwachs erhält.
VII.
Kapitel
Die
Fremden sollen zur Zeit einer Hungersnot nicht aus der
Stadt verwiesen werden (45). Richtiger handelte auf den
Rat eines alten Stadtbeamten (46—47) in dieser Beziehung
Mailand (48) als Rom, das durch solche Ausweisung
ebensoviel Unrecht wie Schaden stiftete (49—51). Nur das
Gute ist zugleich nützlich (52).
45.
Aber auch denen darf man keineswegs beipflichten, welche
den Fremden den Aufenthalt in der Stadt verbieten wollen[762],
sie in dem Augenblick, da sie ihnen helfen sollten,
fortjagen, ihnen den Anteil an der gemeinsamen Mutter
(Erde) versagen, deren Erzeugnisse, die für alle
hervorgebracht sind, verweigern, die bereits
eingegangene Lebensgemeinschaft mit ihnen abbrechen, in
der Zeit der Not mit ihnen den Unterhalt nicht teilen
wollen, nachdem sie im gemeinschaftlichen Rechtsverkehr
mit ihnen gestanden. Die wilden Tiere stoßen
ihresgleichen nicht aus: und der Mensch will den
Menschen ausstoßen! Tiere und Bestien betrachten die
Nahrung, welche die Erde darbietet, als allen gemeinsam;
sie sind auch hilfreich gegen ihresgleichen: der Mensch
will feindselig sein, dem nichts Menschliches fremd sein
sollte!
46.
Wieviel richtiger handelte jener Stadtpräfekt! Da er
schon bejahrt war und die Bürgerschaft Hungersnot litt
und das Volk, wie es unter solchen Umständen zu gehen
pflegt, verlangte, es sollten die Fremden aus der Stadt
ausgewiesen werden, berief er, da die Stadtverwaltung
vor allen anderen gerade seiner Obsorge anvertraut war,
die angesehenen und wohlhabenderen Männer zusammen und
forderte sie auf, zum allgemeinen Besten Rats zu
pflegen. Dabei äußerte er, wie grausam es sei, die
Fremden auszuweisen; wie unmenschlich, einem Sterbenden
die Nahrung vorzuenthalten. Keinen Hund lassen wir ohne
Futter vor unserem Tische, den Menschen stoßen wir
hinaus. Wie zwecklos ferner gehen ganze Volksmassen als
Opfer der unseligen Hungerpest der Welt verloren! Wie
viele gehen der Stadt verloren, die derselben, sei es
für die Lebensmittelbeschaffung, sei es für den
Handelsmarkt, ihre helfenden Dienste zu leihen pflegten!
Niemand ist mit dem Hunger anderer geholfen. Er kann den
Tag möglichst lange fristen, der Not nicht steuern. Im
Gegenteil, wenn so viele Landbebauer mit Tod abgehen, so
viele Ackersleute dahinsterben, werden auch die
Getreidemittel für die Zukunft dahinschwinden. Wir
weisen daher nur jene aus, die uns den Lebensunterhalt
zu beschaffen pflegen. Jene wollen wir in der Stunde der
Not nicht nähren, die uns jederzeit mit Nahrung versehen
haben? Wieviel wird uns selbst noch in dieser Zeit von
ihnen geboten! „Nicht vom Brote allein lebt der Mensch“[763].
Unsere eigenen Leute befinden sich daselbst, so manche
sind sogar unsere Verwandten. Vergelten wir ihnen, was
wir empfangen haben!
47.
Doch wir fürchten hierdurch die Not zu vermehren. Vor
allem findet Barmherzigkeit nimmer leere, sondern
hilfreiche Hände. Sodann wollen wir die Getreidemittel,
die für dieselben aufzuwenden sind, durch eine Sammlung
aufbringen, mit Gold erstehen. Oder müssen wir nicht
offenbar, wenn jene Landbebauer verschwinden, andere um
Geld dingen? Wieviel billiger kommt es, einen
Landbebauer zu ernähren als zu dingen! Wo dann Ersatz
hernehmen? Wo den neuen Ackersmann auftreiben? Wenn du
ihn auftreibst, nimm hinzu, daß du einen (des Feldbaues)
Unkundigen, der eine andere Beschäftigung gewohnt war,
wohl der Zahl, nicht der Arbeit nach als Ersatz rechnen
kannst.
48.
Wozu noch mehr? Man sammelte Gold und brachte Getreide
zusammen. So griff er den Vorrat der Stadt nicht an und
versorgte die Auswärtigen mit Nahrung. Wie sehr empfahl
dies den so heiligmäßigen Greis bei Gott! Wieviel Ruhm
trug es ihm bei den Menschen ein! Das war ein in
Wahrheit bewährter Großer, der wirklich auf die
Bevölkerung der ganzen Provinz zeigen und zum Kaiser
sprechen konnte: Diese alle habe ich dir erhalten; sie
verdanken ihr Leben deinen Ratsherren; deine Behörde hat
sie dem Tode entrissen.
49.
Wie unvergleichlich zweckmäßiger war dies gegenüber dem,
was jüngst zu Rom geschah! Leute, die bereits den
größten Teil ihres Lebens dortselbst zugebracht hatten,
jagte man aus der so weitausgedehnten Stadt. Mit Tränen
in den Augen zogen sie mit ihren Kindern fort, deren
Verbannung man beweinte, weil sie als Bürger nicht davon
hätten betroffen werden sollen. Zwischen so vielen
wurden die Bande der Verwandtschaft zerschnitten, die
Bande der Schwägerschaft zerrissen. Und doch hatte ein
fruchtbares Jahr gelächelt. Die Stadt allein nur
bedurfte der Getreideeinfuhr. Es hätte geholfen werden
können, wenn man von den Bewohnern Italiens, deren
Kinder man vertrieb, Getreide angefordert hätte. Eine
größere Schmach kann es nicht geben: einen wie einen
Landfremden forttreiben und gleichsam den eigenen Bruder
hinausstoßen! Wie darfst du ihn fortjagen, der sich vom
Seinigen nährt? Wie darfst du ihn fortjagen, der dich
ernährt? Den Sklaven behältst du, den Bruder stößt du
fort. Das Getreide nimmst du entgegen, Mitgefühl bringst
du nicht entgegen. Den Lebensunterhalt erpreßt du, Gnade
läßt du nicht ergehen.
50.
Wie abscheulich, wie nutzlos ist das! Wie könnte denn
auch etwas von Nutzen sein, was sich nicht geziemt? Um
wie viele Hilfsmittel ward Rom unlängst betrogen, die
ihm von Seiten derer zuzufließen pflegten, die ihm
einverleibt waren! Es stand ebenso in seiner Macht,
dieselben nicht auszuweisen, wie günstige Winde und die
erhoffte Schiffszufuhr abzuwarten und so der Hungersnot
zu entgehen.
51.
Wie gut und nützlich war hingegen das oben erwähnte
Vorgehen! Was wäre denn auch so geziemend und gut, als
daß den Dürftigen durch die Beiträge der Reichen
geholfen, den Hungernden der Lebensbedarf gereicht werde
und keinem es an Nahrung fehle? Was wäre so nützlich,
als daß dem Felde der Bebauer erhalten bleibe und das
Landvolk nicht aussterbe?
52.
Das Sittlichgute ist sonach nützlich und das Nützliche
sittlichgut; und umgekehrt das Schädliche ungeziemend,
das Unziemliche aber zugleich schädlich.
VIII. Kapitel
Auch nach Gottes Urteil ist nur das Sittlichgute
nützlich, das Gegenteil schädlich und sträflich, wie aus
der Geschichte Josues und Kalebs ersichtlich ist
(53—56).
53.
Wie hätten unsere Altvordern je der Knechtschaft
entrinnen können, wenn sie nicht die Dienstbarkeit gegen
den König der Ägypter nicht bloß für schändlich, sondern
auch für schädlich gehalten hätten?[764]
54.
Desgleichen meldeten Jesus und Kaleb, die zur Erkundung
des Landes ausgesendet waren, das Land sei wohl
fruchtbar, werde aber von sehr wilden Volksstämmen
bewohnt. Aus Angst vor dem Kriege entmutigt, wollte das
Volk auf den Besitz jenes Landes verzichten. Die
ausgesandten Kundschafter Jesus und Kaleb versicherten
überzeugend, das Land sei nutzbringend und hielten es
für ungeziemend, vor den Volksstämmen zurückzuweichen.
Sie zogen es vor, sich lieber steinigen zu lassen —
damit drohte das Volk — als vom Guten zu lassen. Die
anderen rieten ab. Das Volk weigerte sich. Es meinte, es
werde mit gar gefährlichen und grimmigen Völkern zum
Kriege kommen; es müsse im Kampfe fallen; ihre Weiber
und Kinder würden ein Opfer des Raubes werden[765].
55.
Da entbrannte des Herrn Zorn, so daß er alle dem
Untergange weihen wollte. Doch auf des Moses Bitte
milderte er das Urteil und verschob die Rache. Er hielt
dafür, die Treulosen seien hinlänglich gestraft, auch
wenn er einstweilen Schonung übe und die Ungläubigen
nicht schlage. Doch zu jenem Lande, das sie verschmäht
hatten, sollten sie ob ihres Unglaubens nicht gelangen;
wohl aber sollten die Kinder und Weiber, die nicht
gemurrt hatten und teils ihres Geschlechtes, teils ihres
Alters wegen Nachsicht verdienten, das verheißene Erbe
jenes Landes empfangen. So sanken denn auch alle, die
seit zwanzig Jahren und darüber in der Wüste waren,
leiblich dahin. Für die anderen aber ward die Strafe
verschoben. Jene hingegen, die mit Jesus hinaufzogen und
abraten zu sollen glaubten, starben, von unseliger
Strafe getroffen, auf der Stelle. Jesus und Kaleb
dagegen zogen mit dem Alter, bezw. dem Geschlechte, das
keine Schuld traf, ins Land der Verheißung ein[766].
56.
Der bessere Teil zog sonach die Ehre dem Wohle vor, der
schlimmere das Wohl der Ehrenhaftigkeit. Gottes Urteil
aber gab denen recht, die der Überzeugung lebten, daß
das Tugendhafte dem Nützlichen vorgehe; jene hingegen
verurteilte es, bei denen das ausschlaggebend war, was
mehr dem Wohle als der Tugendhaftigkeit dienlich zu sein
schien.
IX.
Kapitel
Die
Kleriker sollen sich vor Habsucht (57), insbesonders vor
Erbschleicherei hüten (58) und Vermittlungsdienste in
Geldsachen ablehnen (59). Trotz Unrecht von seiten des
Nächsten ist an der Norm des Sittlichguten gegen ihn
festzuhalten. Beispiel Davids (60—62) und Naboths
(63—65).
57.
Das Häßlichste ist, wenn man keine Liebe zur
Tugendhaftigkeit hat, gleichsam geschäftsmäßig sein
Sinnen und Trachten voll Unruhe und Sorge auf niederen
Erwerb aus gemeinem Handel richtet, im Herzen von
Habsucht entbrennt, Tag und Nacht nach der Schädigung
fremden Vermögens lechzt, seinen Geist nicht zum Glanz
der Tugendhaftigkeit erhebt, seinen Sinn nicht auf die
Schönheit wahren Lobes lenkt.
58.
Daher die Erbschleichereien unter der Maske der
Selbstlosigkeit und der Vornehmheit, doch im Widerspruch
mit der christlichen Gesinnung. Denn alles, was
künstlich herausgelockt und trügerisch ergattert wird,
mangelt des Verdienstes der Ehrlichkeit. Selbst an
denen, die keinen Kirchendienst übernommen haben, hält
man Erbschleicherei für ungehörig[767].
Wer an seinem Lebensende steht, soll selbst die
Entscheidung haben und frei nach Gutdünken seine
letztwilligen Verfügungen treffen, indem er nachher
nichts mehr gut machen kann. Wäre es doch sittlich
unstatthaft, anderen die bezüglichen Beträge, die ihnen
gebühren oder für sie ausgeworfen sind, zu
hintertreiben; geziemt es doch einem Priester oder
Kirchendiener, womöglich jedermann zu nützen, niemand zu
schaden.
59.
So empfiehlt es sich denn auch im Fall, daß man dem
einen nicht nützen kann, ohne dem anderen zu schaden,
lieber keinem zu helfen, als einem wehe zu tun. Es kann
eben darum auch nicht Sache des Priesters sein, in
Geldsachen die Mittlerrolle zu spielen. Es läßt sich
nämlich dabei nicht vermeiden, daß häufig der Teil, der
den kürzeren zieht, glaubt, er sei durch die Schuld des
Mittlers unterlegen, und den Beleidigten spielt. Pflicht
des Priesters ist es, keinem schaden, allen nützen zu
wollen: das Können aber steht nur bei Gott. In einer
Sache, in der das Leben auf dem Spiele steht, einem
schaden, dem man in der Gefahr zu helfen verpflichtet
ist, geht nicht ohne schwere Sünde ab. Dagegen in einer
Geldsache sich Haß zuziehen wollen, wäre Unverstand. Für
das Leben des Menschen sind schwere Opfer wohl am Platz;
selbst einer Gefahr dafür sich zu unterziehen, ist
ehrenvoll. An der eben aufgestellten Norm soll denn im
Priesteramte festgehalten werden. Der Priester schade
niemand, selbst wenn er gereizt und durch irgendein
Unrecht gekränkt wurde! Ein edler Mensch, der da
gesprochen hat: „Wenn ich denen, die mir Böses
vergolten, wieder vergolten habe“[768].
Welcher Ruhm wäre es denn, einem nichts zuleid zu tun,
der auch uns nichts zuleid getan hat?[769]
Das aber ist Tugend, wenn man als Beleidigter verzeiht.
60.
Wie tugendhaft, daß David des Königs, seines Feindes,
obwohl er ihm schaden konnte, lieber schonte![770]
Wie vorteilhaft aber auch, weil es dem Nachfolger zugute
kam, daß alle ihrem König Treue wahren, nicht anmaßend
ihre Hand nach der Herrschaft ausstrecken, sondern sie
achten lernten! So ward dem Sittlichguten der Vorrang
vor dem Nützlichen, dem Nützlichen der Platz nach dem
Sittlichguten eingeräumt.
61.
Nicht genug, daß er desselben schonte. Er ging noch
weiter und betrauerte und beweinte ihn bitterlich, da er
im Kriege gefallen war, und klagte: „Ihr Berge von
Gelboe, weder Tau noch Regen falle auf euch! Ihr
Todesberge! Denn dort ward weggenommen die Schutzwehr
der Helden, die Schutzwehr Sauls. Nicht mit Öl und dem
Blute der Verwundeten und aus dem Fett der
Kriegführenden wurde er gesalbt. Der Pfeil Jonathas
kehrte nicht zurück und das Schwert Sauls nicht leer
wieder. Saul und Jonathas, die Lieblichen und Liebsten,
die Unzertrennlichen im Leben, wurden auch im Tode nicht
getrennt. Leichter wie Adler, stärker wie Löwen waren
sie. Töchter Israels, weinet über Saul, der euch zu
eurem Schmuck hinzu mit Purpur kleidete; der eure
Gewänder mit Gold besetzte! Wie fielen doch die Helden
inmitten der Schlacht! Jonathas ward tödlich verwundet.
Ich trauere über dich, Bruder Jonathas, ein Bild mir von
unvergleichlicher Schönheit! Wie Frauenliebe war deine
Liebe mir zuteil. Wie fielen die Helden und sind
zunichte die Waffen, die begehrenswerten!“[771]
62.
Welche Mutter würde ihr einziges Kind so beweinen, wie
dieser seinen Feind beweinte? Wer würde einem Gönner so
hohes Lob spenden, wie dieser es dem Gegner spendete,
der nach seinem Haupte fahndete? Wie kindlich trauerte,
wie innig seufzte er! Die Berge vertrockneten auf den
Fluch des Propheten, und Gottes Kraft erfüllte des
Fluchenden Spruch. So vollzogen die Elemente die Strafe
für das Trauerspiel des Königsmordes.
63.
Was aber soll man vom heiligen Naboth sagen? Was anders
war die Ursache seines Todes als das Sittlichgute, das
er im Auge behielt? Denn als der König von ihm den
Weinberg forderte und Geld dafür anbot, wies er den
Kaufpreis als eine Entehrung des väterlichen Erbes
zurück und wollte einer solchen Schmach lieber mit dem
Tode aus dem Wege gehen. „Das“, sprach er, „geschehe mir
nicht vom Herrn, daß ich dir das Erbe meiner Väter gebe“[772],
das heißt: so große Schmach komme nicht über mich; Gott
verhüte die Erpressung einer so großen Schandtat! Nicht
von den Weinstöcken ist die Rede; denn nicht an den
Weinstöcken liegt Gott und nicht an einem Stück Landes.
Für das Recht der Väter tritt vielmehr sein Wort ein. Er
hätte ja einen anderen Weinberg von denen des Königs
nehmen und so dessen Freund bleiben können. In solcher
Freundschaft pflegt man keinen geringen irdischen Gewinn
zu erblicken. Doch was schändlich ist, so sagte er sich,
ist offenbar nicht nutzbringend. Und er wollte lieber in
Ehrenhaftigkeit Gefahr laufen, als einen Nutzen mit
Schande erzielen. Den Nutzen im gewöhnlichen Sinn meine
ich, nicht jenen, der zugleich den Vorzug des
Sittlichguten in sich schließt.
64
Der König seinerseits hätte ja auch Erpressung üben
können, aber er hielt sie für schamlos[773].
Aber auch den Getöteten bedauerte er[774].
Ebenso ließ der Herr ankündigen, daß sein unmenschliches
Weib, das, des Sittlichguten vergessend, schändlichem
Gewinn den Vorzug gab, die gebührende Strafe treffen
sollte[775].
65.
Schändlich ist jeglicher Trug. So ist denn selbst im
Kleinen falsches Gewicht und trügerisches Maß
verabscheuungswürdig. Wenn man aber den Trug auf dem
Verkaufsmarkte, bei Handelsgeschäften mit Strafe belegt,
kann er im Tugenddienste als unsträflich erscheinen?
Salomo ruft aus: „Zu großes und kleines Gewicht und
doppeltes Maß sind unrein vor Gott“[776].
Auch im vorausgehenden warnte er: „Falsche Wage ist dem
Herrn ein Greuel, das rechte Gewicht aber ist ihm
genehm“[777].
X.
Kapitel
Wie
in allem, so ist auch bei Verträgen Betrug unerlaubt und
strafbar. Etwaige Mängel des Kaufs- oder
Vertragsgegenstandes müssen aufgedeckt werden (66), eine
Forderung nicht sowohl der Juristen, als vielmehr der
Patriarchen. Beispiel Josues und der Gabaoniter (67—69).
66.
In allem geziemt sich Treue, berührt Gerechtigkeit
angenehm, Billigkeit wohltuend. Was soll ich aber von
den Verträgen überhaupt und vom Güteraufkauf, oder von
den Vergleichen und Abmachungen im besonderen sprechen?
Gibt es nicht Bestimmungen, wonach böswilliger Trug zu
unterbleiben und derjenige, welcher auf Trug ertappt
wird, doppelte Strafe zu gewärtigen hat? Überall ist
hier die Rücksicht auf das Sittlichgute ausschlaggebend,
das den Trug ausschließt, die Hintergehung verpönt. Mit
Recht sprach daher der Prophet David mit den Worten:
„Und er tat dem Nächsten nichts Böses an“[778],
einen allgemein gültigen Grundsatz aus. Nicht allein
also bei Verträgen, bei welchen vorschriftsmäßig auch
die Mängel an den Verkaufsgegenständen angegeben werden
müssen und welche, wenn sie der Verkäufer nicht angibt,
selbst im Fall, daß er die Gegenstände bereits dem
Käufer rechtlich gutschreiben ließ, wegen trügerischen
Handelns null und nichtig sind, sondern überhaupt bei
allem ist Trug zu meiden, der einfache Tatbestand
aufzudecken, die Wahrheit anzugeben[779].
67.
Diese alte Rechtsbestimmung über den Trug stammt aber
nicht von den Juristen, sondern ist ein Grundsatz der
Patriarchen. Klar und deutlich sprach das die göttliche
Schrift in jenem alttestamentlichen Buch aus, das den
Titel Jesus Nave (Josue) führt. Denn als die Kunde zu
den Völkern drang, beim Durchzug der Hebräer sei das
Meer vertrocknet[780],
aus dem Felsen sei Wasser geströmt[781],
so vielen Tausenden des Volkes werde täglich in Fülle
Nahrung vom Himmel geboten[782],
die Mauern Jerichos seien auf den heiligen
Posaunenschall, auf den Anlauf und das Geschrei des
Volkes zusammengestürzt[783],
der König der Gethäer ferner sei besiegt und bis zum
Abend ans Holz gehängt worden[784]:
da fürchteten die Gabaoniter die starke Hand (Josues),
nahten listig und stellten sich, als seien sie aus einem
fernen Lande und hätten auf der langen Wanderung die
Schuhe zerrissen, die Oberkleider zerschlissen, wobei
sie die Stellen zeigten, die deren Abtragung verrieten;
der Grund ihrer so großen Anstrengung aber sei ihr
sehnlicher Wunsch, sich des Friedens mit den Hebräern
würdig zu erweisen und Freundschaft mit ihnen zu
schließen. Und sie begannen Jesus Nave um den Abschluß
eines Bündnisses mit sich zu bitten. Und weil dieser des
Landes noch unkundig war und dessen Bewohner nicht
kannte, durchschaute er ihr listiges Vorgehen nicht,
fragte auch den Herrn nicht, sondern schenkte ihnen
voreilig Glauben[785].
68.
So heilig war zu jenen Zeiten die Treue, daß man es
nicht für möglich hielt, daß es Leute gebe, die
betrügen. Wer möchte das an den Heiligen tadeln, wenn
sie andere nach der eigenen Gesinnung beurteilen und,
weil sie selbst Freunde der Wahrheit sind, nicht
glauben, daß jemand lüge; nicht wissen, was betrügen
heißt; gern glauben, was sie selbst sind, und was sie
nicht sind, nicht einmal argwöhnen können? Daher Salomos
Ausspruch: „Der Unschuldige glaubt jedem Wort“[786].
Ihre Leichtgläubigkeit ist nicht zu tadeln, wohl aber
ihre Güte zu loben. Vom Schadenzufügen nichts wissen,
das heißt ein Schuldloser sein. Und wird er auch von
jemand hintergangen, urteilt er doch gut über alle, weil
er allen Glaubwürdigkeit zutraut.
69.
Durch diesen seinen frommen Sinn zur Vertrauensseligkeit
verleitet, ging nun Jesus Nave den Bund ein, schloß
Frieden und machte das Bündnis rechtskräftig. Sogleich
nach der Ankunft in deren Lande jedoch entdeckte man die
Täuschung, daß sie sich fälschlich für Fremdlinge
ausgegeben hatten, während sie benachbart waren, und das
Vätervolk begann über seine Überlistung zu ergrimmen.
Jesus aber glaubte gleichwohl den Frieden, den er
gewährt hatte, nicht wieder brechen zu sollen, weil er
durch einen heiligen Eid bekräftigt war. Er wollte
nicht, während er fremde Treulosigkeit der Schuld zieh,
selbst treubrüchig werden. Doch strafte er sie mit der
Auflegung einer niedrigeren Dienstleistung. Das Urteil
fiel milder aus, hatte aber eine nachhaltigere Wirkung.
Die Strafe für die vor alters begangene Hinterlist
dauert nämlich fort in den Verrichtungen, in der
erblichen Dienstleistung, die ihnen bis zum heutigen
Tage auferlegt ist[787].
XI.
Kapitel
Jede Art des Truges ist verpönt. Abschreckende
Beispiele aus dem Leben (70), aus der profanen (71—73)
wie biblischen Geschichte (74). Den heuchlerischen
Betrüger vergleicht Christus mit einem Fuchs, David mit
einem Schermesser (75).
70.
Ich will nicht Notiz nehmen vom Fingerschnalzen und
Tanzen eines nackt auftretenden Erbfolgers beim Antritt
von Erbschaften: es ist ja männiglich bekannt[788];
nicht von den zubereiteten Fischmengen aus einem
erdichteten Fischfange, wodurch die Kauflust geködert
werden sollte. Warum auch ließ sich der Käufer als
Genußmensch und Feinschmecker ertappen, um solchem Trug
zum Opfer zu fallen?
71.
Wofür soll ich von jenem lieblichen und stillen
Aufenthalt in Syrakus und der Hinterlist jenes Siziliers
sprechen, der einen Fremden[789]
antraf und denselben, als er merkte, daß er Lust zum
Ankauf eines Parkes habe, zur Tafel in seinen Park lud;
daß der Geladene zusagte und am nächsten Tage auch
erschien; daß er dort eine große Menge Fische vorfand,
eine mit reichlichen und ausgesuchten Speisen besetzte
Tafel; daß vor den Augen der Tafelrunde, vor den
Gartenanlagen, wo nie zuvor Netze ausgeworfen lagen,
Fischer aufgestellt waren? Jeder brachte um die Wette
seinen Fang den Schmausenden. Haufenweise lagen die
Fische auf dem Tische, bei ihrem Aufhüpfen eine
Augenweide für die Zecher. Der Gast wunderte sich über
die Unmenge Fische und die Unzahl Kähne. Auf seine Frage
erhielt er die Antwort, es sei dort eine Bucht. Des
süßen Wassers wegen kämen zahllose Fische dorthin. Kurz,
er reizte den Gast, ihm den Park — abzupressen: er ließ
sich nötigen, obschon er dessen Verkauf wünschte, und
nahm (anscheinend) schweren Herzens den Kaufpreis
entgegen.
72.
Am folgenden Tage kommt nun der Käufer in Begleitung von
Freunden zu dem Parke. Er findet kein Fahrzeug. Auf
seine Erkundigung, ob etwa die Fischer an diesem Tage
Feiertag hätten, erhält er die Antwort: nein. Auch sei
hier nie außer gestern gefischt worden. Welchen Grund
zur Beschwerde wegen Übervorteilung hätte der
Lebemensch, der so schimpflich nach Genüssen haschte,
gehabt? Wer den Nächsten der Sünde zeiht, muß selbst von
Sünde frei sein. Ich will darum solche Flausen nicht vor
das Forum des kirchlichen Gerichtes rufen, das ganz
allgemein jedes Haschen nach schändlichem Gewinn
verurteilt und mit kurzen Worten leichtfertiges und
hinterlistiges Gebaren ausschließt.
73.
Was soll ich denn von einem sagen, der auf Grund eines
Testamentes, das er, wenn auch von anderen gefertigt,
doch als gefälscht erkennt, Anspruch auf eine Erbschaft
oder ein Vermächtnis erhebt und aus fremdem Verbrechen
Nutzen zu ziehen sucht? Bestrafen doch sogar die
staatlichen Gesetze einen, der sich wissentlich einer
falschen Urkunde bedient, als Verbrecher[790].
Die Norm der Gerechtigkeit aber ist bekannt: Es ziemt
dem Guten nicht, von der Wahrheit abzuweichen, jemand
ungerechten Schaden zuzufügen, irgendwelche Hinterlist
damit zu verbinden oder Trug zu ersinnen.
74.
Was ist bekannter als das Verhalten des Ananias? Er
behielt vom Erlös seines Ackers, den er selbst veräußert
hatte, trügerisch etwas zurück und legte einen
Teilbetrag des Erlöses für die volle Summe den Aposteln
zu Füßen. Es war ihm doch freigestellt, auch nichts
anzubieten, und er hätte dies ohne Trug tun können. Aber
weil er solchen unterlaufen ließ, trug er keinen Dank
für seine Freigebigkeit davon, sondern erntete vielmehr
Strafe für seine Falschheit[791].
75.
Auch der Herr wies im Evangelium jene, die in Arglist
ihm nahten, mit den Worten ab: „Die Füchse haben Gruben“[792];
er befiehlt uns nämlich in Einfalt und Unschuld des
Herzens zu leben. Desgleichen rügt David: „Wie ein
scharfes Schermesser übtest du Trug“[793].
Er beschuldigt den Verräter der Bosheit, insofern dieses
Instrument wohl zur Verschönerung des Menschen dient, so
manchmal aber auch zur Verwundung. Wenn daher jemand
nach dem Beispiele des Verräters Doeg[794]
Wohlwollen zur Schau trägt und dabei den Trugfaden
knüpft, um einen, den er schützen sollte, dem Tode
auszuliefern, so paßt auf ihn der Vergleich mit jenem
Instrumente. Es verletzt gern bei vorhandener
Trunkenheit sowie bei zitternder Hand. So beschwor jener
vom Wein der Schlechtigkeit trunkene Mensch mit seiner
unseligen verräterischen Anzeige für den Priester
Abimelech den Tod herauf, weil derselbe einen Propheten
(David) gastlich aufgenommen hatte, den der König, vom
Stachel des Hasses gereizt, verfolgte[795].
XII.
Kapitel
Ein
unehrenhaftes Versprechen (76), selbst in Eidesform,
bindet nicht. So hatte der Schwur des Herodes (77—78),
das Gelübde des Jephte keine bindende Kraft (79).
Herrlicher als der Pythagoreer Dämon sein Versprechen
(80), löste Jephtes Tochter des Vaters Gelübde ein (81).
76.
Rein und aufrichtig soll die Gesinnung sein. Schlicht
sei darum die Rede, die einer vorbringt; in Heiligkeit
trage er sein Gefäß[796];
er täusche den Bruder nicht mit listigen Worten und
mache kein unehrenhaftes Versprechen. Und wenn er eines
gemacht hat, wäre es erträglicher, es nicht zu halten,
als etwas Schändliches zu tun[797].
77.
Häufig bindet sich gar mancher selbst durch einen
Eidschwur. Und obschon er merkt, das Versprechen sollte
nicht gegeben worden sein, löst er gleichwohl mit
Rücksicht auf den Eid das Gelübde ein. Das haben wir
oben in unserer Schrift[798]
beispielsweise von Herodes gezeigt, welcher der Tänzerin
ein schimpfliches Versprechen machte und es grausam
einlöste. Schimpflich war es, ein Reich für einen Tanz
zu versprechen; grausam, um der Heiligkeit des Eides
willen den Tod eines Propheten als Geschenk zu bieten.
Wie unvergleichlich erträglicher wäre ein Meineid
gewesen als ein solcher Eid, wenn man das überhaupt
Meineid hätte nennen können, was ein Trunkener bei Wein
beschworen, was ein Entmannter beim Reigen der Tanzenden
versprochen hatte. Man bringt auf einer Schüssel das
Haupt des Propheten herein: und das hielt man für
Eidestreue, was nur Ausfluß von Raserei war.
78.
Nimmer auch könnte ich zum Glauben bewogen werden, der
Feldherr Jephte habe nicht unvorsichtig sein Gelübde
gemacht, Gott zu opfern, was immer ihm bei seiner
Rückkehr auf der Schwelle seines Hauses begegnen würde.
Bereute er doch selbst sein Gelübde, da ihm seine
Tochter begegnet war[799].
So zerriß er denn seine Kleider und klagte: „Wehe mir, o
Tochter, du hast mich verwirrt, zum Stachel des
Schmerzes bist du mir geworden“[800].
Obschon er aus religiöser Scheu und Angst das bittere
Opfer der schmerzlichen Einlösung (des Gelübdes)
brachte, hinterließ er doch selbst für die Folgezeit die
Anordnung einer jährlichen Trauerfeier. Ein hartes
Gelübde, noch bitterer dessen Erfüllung. Wie mußte jener
selbst es bedauern, der es machte! So wurde denn
folgende Vorschrift und Anordnung für ewige Zeiten
erlassen: „Es ergingen sich“, so lautete sie, „die
Töchter des Volkes Israel vier Tage im Jahre in Trauer
über die Tochter des Galaditers Jephte“[801].
Ich kann den Mann nicht der Schuld zeihen, der sich zur
Erfüllung seines Gelübdes verpflichtet hielt.
Bedauerlich aber bleibt eine Pflicht, die mit Kindesmord
eingelöst wird.
79.
Besser kein Gelöbnis als ein Gelöbnis, dessen Erfüllung
derjenige, dem es gemacht wird, nicht wünschen kann. So
haben wir denn an Isaak ein Beispiel hierfür, indem der
Herr statt seiner das Opfer eines Widders sich
ausbedingte[802].
Nicht immer darf jedwedes Versprechen eingelöst werden.
So ändert auch der Herr selbst häufig sein Urteil, wie
die Schrift bezeugt. Auch in jenem Buche, das den Titel
Numeri trägt, hatte er sich vorgenommen, über das Volk
Tod und Untergang zu verhängen, ließ sich aber nachher
auf Bitten des Moses mit seinem Volke wieder versöhnen[803].
Und wiederum sprach er zu Moses und Aaron: „Sondert euch
ab von dieser Gemeine, und ich will sie mitsammen
vertilgen“[804].
Während sie sich von der Rotte entfernten, teilte sich
plötzlich die Erde mit tiefem Spalt und verschlang den
Dathan und Abiron, die gottlosen[805].
80.
Herrlicher und älter ist das obige Beispiel von der
Tochter Jephtes als das in philosophischen Kreisen
gerühmte von den zwei Pythagoreern[806].
Der eine von ihnen nämlich bat, als er vom Tyrannen
Dionysius zum Tode verurteilt war, am festgesetzten
Todestage um die Erlaubnis, nach Hause gehen zu dürfen,
um für die Seinigen noch Sorge zu treffen[807].
Um nun die Glaubwürdigkeit seiner Rückkehr außer Zweifel
zu setzen, stellte er einen Todesbürgen mit dem
Anerbieten, daß, falls er selbst zum bestimmten Termin
nicht da wäre, sein Bürge die Verpflichtung anerkenne,
für ihn zu sterben. Der bestellte Bürge lehnte auch die
Bürgschaft, wie sie lautete, nicht ab und harrte
standhaft des Tages der Hinrichtung. Der eine Freund
kannte kein Sichweigern, der andere kehrte auf den Tag
zurück. Das war etwas so Wundervolles, daß der Tyrann
sie zu Freunden annahm, deren Leben er eben aufs
äußerste gefährdete.
81.
Was nun an angesehenen und gebildeten Männern voll des
Staunenswerten ist, das findet sich noch viel
großartiger und viel glänzender bei der Jungfrau
eingelöst, die dem seufzenden Vater zuredete: „Tu mit
mir gemäß dem Worte, das aus deinem Munde kam!“[808]
Doch einen Zeitraum von zwei Monaten erbat sie sich, um
mit den Altersgenossinnen gemeinschaftlich auf den
Bergen zu weilen: sie sollten mit liebevoller Teilnahme
ihre dem Tode geweihte Jungfrauschaft beweinen. Weder
rührten die Tränen der Genossinnen das Mädchen, noch
stimmte deren Schmerz es um, noch ließ deren Seufzen es
zaudern. Des Tages vergaß sie nicht, die Stunde entging
ihr nicht: da kehrte sie zum Vater zurück, kehrte
gleichsam zur Gelübdeerfüllung wieder und drang aus
eigener Entschließung in den Zögernden und bewirkte
kraft ihres freien Entschlusses, daß die übereilte Tat
seines frevlen Beginnens zu einem Opfer der Frömmigkeit
wurde[809].
XIII. Kapitel
Judith eine sieghafte Streiterin (82—83) für das
Sittlichgute und eben darum für das Nützliche (84—85).
82.
Sieh, da kommt dir Judith entgegen, die wunderbare, da
sie dem Holofernes naht, dem Schrecken der Völker,
umgeben von der siegreichen Heerschar der Assyrer. Erst
berückte sie ihn mit dem Zauber ihrer Gestalt und der
Anmut ihres Gesichtes, sodann bestrickte sie ihn mit der
Lieblichkeit ihrer Rede. Ihr erster Triumph bestand
darin, daß sie ihre Reinheit unversehrt aus dem Zelte
des Feindes zurückbrachte; der zweite darin, daß sie als
Weib über einen Mann den Sieg davontrug, durch ihren
Entschluß Völker in die Flucht schlug[810].
83.
Schrecken überkam die Perser ob ihrer Kühnheit.
Fürchtete sie doch keine Todesgefahr, was man freilich
auch an jenen beiden Pythagoreern bewundert, aber auch
keine Gefahr für ihre Reinheit, was edlen Frauen
schwerere Sorge macht. Sie kannte keine Angst vor dem
Schwertstreich eines einzelnen Schergen, aber auch keine
vor den Geschossen eines ganzen Heeres. Eine Frau, stand
sie mitten unter Kriegerscharen, unter sieghaften
Waffen, dem Tode ruhig ins Auge schauend. Anbetrachts
der riesigen Gefahr war ihr Gang ein Todesgang,
anbetrachts des Glaubens ein Waffengang.
84.
Dem Sittlichguten galt Judiths Schritt, und sie
erzielte, da sie ihn ausführte, zugleich das Nützliche.
Eine sittliche Forderung war es ja, zu verhindern, daß
das Gottesvolk einem unheiligen Kult sich ergab; daß es
seine väterlichen Bräuche und heiligen Geheimnisse
entweihte; daß es seine heiligen Jungfrauen, ehrwürdigen
Witwen, keuschen Frauen der Unreinheit der Barbaren
preisgab; daß es seine Belagerung mit der Übergabe
beendigte. Eine sittliche Forderung war es, lieber für
alle Gefahr zu laufen, um alle aus der Gefahr zu
erretten.
85.
Wie muß es doch etwas unvergleichlich Erhabenes um das
Sittlichgute sein, daß ein Weib über die wichtigsten
Dinge zu einem Plane sich entschließt, ohne ihn den
Ältesten[811]
des Volkes zu unterbreiten! Wie muß es etwas
unvergleichlich Erhabenes um das Sittlichgute sein, daß
es Gott als Helfer voraussetzen durfte! Wie muß es etwas
unvergleichlich Gnadenvolles darum sein, daß es ihn als
Helfer fand!
XIV.
Kapitel
Das
Verhalten des Elisäus gegen die gefangenen Syrer, das
einen ähnlichen Vorgang aus der griechischen Geschichte
in Schatten stellt (86—88), sowie das des Täufers (89)
und der Susanna (90) bestätigen, daß das Sittlichgute
und Nützliche unzertrennliche Begriffe sind.
86.
Was anderem aber als dem Sittlichguten ging Elisäus
nach, als er das syrische Heer, das zu seiner Belagerung
erschienen war, gefangen nach Samaria führte?[812]
Er hatte dessen Augen mit Blindheit geschlagen und bat:
„Herr, öffne ihnen die Augen, daß sie sehen! Und sie
sahen“[813].
Als nun der König von Israel die eingetretenen Syrer
niedermetzeln wollte und vom Propheten die Erlaubnis
dazu sich erbat, verbot dieser das Gemetzel, nachdem er
ihre Gefangennahme nicht durch Kriegsgewalt und -waffen
bewirkt hatte, sondern befahl, sie lieber durch
Lebensmittelreichung zu unterstützen. So glaubten denn
auch die syrischen Piraten, die reichlich mit Speisen
erquickt worden waren, nie mehr neuerdings ins Land
Israel einfallen zu sollen“[814].
87.
Wie unvergleichlich erhabener liest sich diese
Begebenheit als jene griechische![815]
Zwei Völker[816]
lagen danach um Ruhm und Herrschaft im Kampfe, und eines
von ihnen hatte es in seiner Macht, die Schiffe des
anderen heimlich zu verbrennen. Doch es hielt das für
schimpflich und wollte lieber weniger Macht in Ehren als
mehr Macht in Schanden haben. Sie konnten es ja nicht
ohne Schandtat verüben, das Volk, welches zur Beendigung
des Perserkrieges ein Bündnis mit ihnen eingegangen
hatte, mit solcher Hinterlist zu übervorteilen. Wohl
hätten sie dieselbe ableugnen können, der Scham hierüber
hätten sie sich jedoch nicht entschlagen können. Elisäus
hingegen wollte die Syrer, die zwar auch Betrogene
waren, aber nicht durch Überlistung, sondern von der
Macht des Herrn getroffen, lieber retten als verderben,
weil es geziemend war, den Feind zu schonen und dem
Gegner das Leben zu schenken, das er wohl hätte nehmen
können, wenn er nicht Schonung geübt hätte.
88.
So ist denn klar: was geziemend ist, ist stets auch
nützlich. Denn auch die heilige Judith machte durch die
schickliche Hintansetzung ihres eigenen Wohls der Gefahr
der Belagerung ein Ende und verschaffte durch ihre
Tugendhaftigkeit der Allgemeinheit Nutzen. Und für
Elisäus war es ruhmvoller, daß er Verzeihung angedeihen
als ein Blutbad anrichten ließ; und er stiftete dadurch
den größeren Nutzen, daß er die gefangenen Feinde am
Leben erhielt.
89.
Was anders aber hatte Johannes im Auge als das
Sittlichehrbare, so daß er selbst beim Könige kein
unehrbares Ehebündnis dulden mochte und sprach: „Es ist
dir nicht erlaubt, jene zur Gattin zu haben“?[817]
Er konnte schweigen, hätte es ihm nicht für unziemlich
geschienen, aus Furcht vor dem Tode die Wahrheit nicht
zu sagen, dem prophetischen Ansehen dem Könige gegenüber
etwas zu vergeben und seinem Verhalten den Anschein von
Schmeichelei zu geben. Er wußte recht wohl, daß ihm der
Widerstand gegen den König das Leben kosten werde, aber
er zog die Tugendhaftigkeit dem Leben vor. Und doch, was
hätte größeren Nutzen gebracht als ein Verhalten, das
dem heiligen Mann den Ruhm des Martyriums eintrug?
90.
So auch die heilige Susanna, als sie die schauerliche
Kunde von dem falschen Zeugnisse vernommen hatte. Da sie
sich einerseits von Gefahr, andrerseits von Schande
bedrängt sah, wollte sie lieber durch einen ehrenvollen
Tod der Schande entgehen, als aus Sorge um ihr Wohl ein
schimpfliches Leben führen und ertragen. Indem sie sich
nun der Ehrenhaftigkeit befleißigte, rettete sie
zugleich das Leben[818].
Hätte sie einem Scheinvorteil für das Leben den Vorzug
gegeben, hätte sie keinen so großen Ruhm erlangt. Ja
vielleicht wäre ein solches Verhalten, das nicht bloß
keinen Vorteil, sondern sogar eine Gefahr in sich barg,
der Strafe des Verbrechens nicht entronnen. So sehen wir
denn, daß das Schimpfliche nicht nützlich, und umgekehrt
das Ehrbare nicht schädlich sein kann; denn das
Nützliche hat das Ehrbare und das Ehrbare das Nützliche
zum unzertrennlichen Begleiter.
XV.
Kapitel
Ältere und herrlichere Beispiele sittlichguten Handelns
als die Profangeschichte (91) bietet die biblische
Geschichte, so die Geschichte des Moses (92—93). Zwei
seiner Wunderzeichen Vorbilder des Gottmenschen Christus
(94—95).
91.
Als denkwürdig feiern die Redner die Begebenheit, daß
ein römischer Feldherr (C. Fabricius), als der Arzt des
feindlichen Königs (Pyrrhus) mit dem Anerbieten zu ihm
gekommen war, den König vergiften zu wollen, denselben
gebunden zum Feind zurücksandte[819].
Und es war in der Tat ein rühmliches Handeln, daß er,
der den tapferen Kampf auf sich genommen hatte, nicht
durch Hinterlist den Sieg erlangen wollte. Er setzte
nämlich die Ehrenhaftigkeit nicht in den Sieg, sondern
erklärte offen den Sieg, wenn er nicht in Ehren errungen
würde, für schimpflich.
92.
Kehren wir zu unserem Moses zurück und wenden wir uns
erneut den obigen Beispielen zu, um je ältere, desto
herrlichere anzuziehen! Der König von Ägypten wollte das
Vätervolk nicht ziehen lassen. Da sprach Moses zum
Priester Aaron, er solle seinen Stab über alle Wasser
Ägyptens ausstrecken. Aaron streckte ihn aus, und das
Wasser des Flusses ward in Blut verwandelt. Und niemand
konnte das Wasser trinken, und alle Ägypter waren daran,
vor Durst umzukommen. Für die Väter aber strömte reines
Wasser in Überfluß[820].
Jene warfen Glutasche gen Himmel, und an Menschen und
Tieren entstanden Geschwüre und brennende Blattern[821].
Sie ließen Hagel unter flammendem Feuerregen
niedergehen; alles auf dem Lande ward vernichtet[822].
Da legte Moses Fürbitte ein, und alles wandte sich
wiederum zum Besten. Der Hagel legte sich, die Geschwüre
heilten, und die Flüsse boten das gewohnte Trinkwasser[823].
93.
Eine dreitägige Finsternis bedeckte hinwiederum das Land
von dem Augenblick, da Moses die Hand erhoben und
Finsternis darüber ausgegossen hatte[824].
Alle Erstgeburt Ägyptens starb, während keinem Sprößling
der Hebräer Leids geschah[825].
Gebeten, er möchte auch diesem Unheil ein Ende machen,
flehte Moses und erflehte es. Darin verdient er Lob, daß
er nicht auf Trug sich verlegte; darin Bewunderung, daß
er die von Gott zugedachten Strafen kraft seiner Tugend
selbst vom Feinde abwendete: fürwahr über die Maßen
sanft und mild, wie es geschrieben steht[826].
Er wußte, daß der König mit seinen Versprechungen nicht
Wort halten werde; dennoch dünkte es ihn für ehrenhaft,
auf Bitten zu flehen, auf Beleidigungen zu segnen, auf
Verlangen zu verzeihen.
94.
Er warf seinen Stab hin, und er wurde zur Schlange,
welche die Schlangenstäbe der Ägypter verschlang[827].
Er deutete damit die Menschwerdung des Wortes an, welche
das Gift der unheilvollen Schlange durch Vergebung und
Nachlaß der Sünden tilgen würde. Der Stab bedeutet ja
das Richt-, das Herrscher-, das Machtwort, das Abzeichen
der Herrschaft. Der Stab ward zur Schlange, weil
derjenige, der Gottes Sohn war, von Gott Vater erzeugt,
Menschensohn wurde, aus Maria geboren. Gleich der
Schlange am Kreuze erhöht, träufelte er Heil in die
Wunden der Menschheit. Daher beteuert der Herr selbst:
„Gleichwie Moses die Schlange in der Wüste erhöhte, so
muß der Menschensohn erhöht werden“[828].
95.
So bezieht sich auch noch ein anderes Zeichen, das Moses
tat, auf den Herrn Jesus: „Er steckte seine Hand in den
Busen und zog sie hervor, und seine Hand ward wie
Schnee. Wiederum steckte er sie hinein und zog sie
hervor, und sie hatte das Aussehen menschlichen
Fleisches“[829].
Er deutete damit den ursprünglichen Glanz der Gottheit
des Herrn Jesus und dessen nachmalige Menschwerdung an,
eine Glaubenslehre, an welche alle Völker und Nationen
glauben sollten. Mit Recht steckte er die Hand hinein,
weil Christus die Rechte Gottes ist. Glaubt jemand nicht
an seine Gottheit und Menschwerdung, verfällt er als
Verruchter der Strafe gleich jenem Könige (Pharao), der,
weil er den offensichtlichen Zeichen nicht glaubte,
darauf gezüchtigt wurde und um Gnade flehte. Wieweit nun
tugendhafte Gesinnung gehen muß, ergibt sich schon aus
dem Bisherigen, am meisten aber daraus, daß Moses sich
selbst für das Volk darbot und bat, Gott möge demselben
verzeihen, oder aber ihn selbst aus dem Buche der
Lebendigen löschen[830].
XVI.
Kapitel
Tobias und Raguel als Vorbilder sittlichguten Handelns
(96). Wie weit überragt letzterer die Philosophie (97)!
96.
Auch Tobias stellte ein besonders leuchtendes Vorbild
des Sittlichguten dar, als er das Mahl verließ, die
Toten begrub und die Notleidenden zur Armentafel lud[831];
desgleichen in hervorragendem Grade Raguel, der in
Rücksicht auf das Sittlichgute, als er um die Hand
seiner Tochter gebeten wurde, selbst deren Fehler nicht
verschwieg, um sich nicht den Anschein zu geben, durch
Verschweigen derselben den Freier täuschen zu wollen.
Als daher Tobias, der Sohn des Tobis, um das Mädchen
anhielt, erwiderte derselbe, sie gebühre ihm zwar von
Rechtswegen als Verwandten, doch habe er sie bereits
sechs Männern zur Ehe gegeben, und alle seien gestorben[832].
Der gerechte Mann fürchtete sonach mehr für andere und
wollte lieber, daß ihm seine Tochter unverheiratet
bliebe, als daß Fremde durch die Vermählung mit ihr in
Gefahr gerieten.
97.
Wie kurz löste er sämtliche Fragen der Philosophen!
Diese handeln von den Schäden eines Hauses, ob sie vom
Verkäufer verheimlicht oder aufgedeckt werden müssen[833].
Unser Heiliger glaubte nicht einmal die Fehler seiner
Tochter verhehlen zu sollen. Auch war es ihm sicherlich
gar nicht darum zu tun, sie wegzugeben, er wurde
vielmehr darum gebeten. Wie hoch er jene an
Tugendhaftigkeit überragte, darüber können wir nicht im
Zweifel sein, wenn wir bedenken, wieviel höher die Sache
einer Tochter über dem Geldwert für ein feiles Ding
steht.
XVII. Kapitel
Das
Sittlichgute ging auch den Altvordern in der
babylonischen Gefangenschaft über alles. Daher ihre
Sorge für das heilige Feuer (98—102).
98.
Erwägen wir eine andere Begebenheit. Sie trug sich in
der Gefangenschaft zu und behauptete den Preis der
Schönheit im sittlichguten Handeln. Dieses läßt sich
nämlich durch keinerlei Widerwärtigkeiten beirren.
Herrlicher noch strahlt es und großartiger leuchtet es
hier als im Glück. Inmitten von Fesseln, inmitten von
Waffen, von Flammen, von Knechtschaft, der
allerschwersten Strafe für Freie, inmitten der qualvoll
Sterbenden, der Vernichtung des Vaterlandes, der Angst
der Überlebenden, des Blutes der Ermordeten büßten
gleichwohl unsere Altvordern die Sorge um das
Sittlichgute nicht ein, vielmehr glänzte und strahlte
dieselbe inmitten der Asche und Lohe des vernichteten
Vaterlandes in ihrer frommen Gesinnung wider.
99.
,,Als nämlich unsere Väter, die damals fromme Verehrer
des allmächtigen Gottes waren, nach Persien abgeführt
wurden, nahmen die Priester des Herrn das Feuer vom
Altar und verbargen es heimlich in einem Tale.“ Dort
befand sich anscheinend ein offen zugänglicher Brunnen,
wegen Wassermangels aber nicht betreten und für eine
Benützung der Leute tatsächlich unzugänglich, an
unbekannter, von Zeugen unbehelligter Stelle. Hier
versiegelten sie mit einem heiligen Zeichen ebenso wie
mit Verschwiegenheit das verborgene Feuer[834].
Nicht darum war es ihnen zu tun, Gold zu vergraben,
Silber zu verbergen, um es den Nachkommen aufzubewahren;
sie waren vielmehr in ihrer äußersten Not auf das
Sittlichgute bedacht und glaubten das heilige Feuer
wahren zu müssen, daß nicht die Unreinen es schändeten
oder das Blut der Toten es auslösche oder ein wirrer
Trümmerhaufe es verschütte.
100. Nun zogen sie nach Persien, nur in der religiösen
Gesinnung frei; denn nur sie konnte ihnen durch die
Gefangenschaft nicht entrissen werden. Nach gar langer
Zeit aber, da es Gott gefiel, gab er dem Perserkönig in
den Sinn, Befehl zu geben zur Wiedererbauung des Tempels
in Judäa und zur Wiederherstellung der rechtmäßigen
religiösen Bräuche. Mit dieser Aufgabe betraute der
Perserkönig den Priester Nehemias. Dieser nun führte die
Enkel jener Priester mit sich, welche beim Verlassen des
heimatlichen Bodens das heilige Feuer verborgen hatten,
daß es nicht zugrunde ginge. Als sie aber kamen, fanden
sie, wie der Väter Wort überlieferte, nicht Feuer,
sondern Wasser vor. Und als es an Feuer für den
Altardienst gebrach, befahl ihnen der Priester Nehemias,
das Wasser zu schöpfen und es ihm zu bringen und das
Holz damit zu besprengen. Da nun ein sichtbares Wunder!
Obschon der Himmel mit Wolken bedeckt war, leuchtete
plötzlich die Sonne auf, ein großes Feuer entfachte
sich, so daß alle ob der so augenscheinlichen Gnadentat
des Herrn von Staunen ergriffen und von Freude erfüllt
wurden. Nehemias betete, die Priester sangen Gott ein
Loblied. Und als das Opfer verzehrt war, befahl Nehemias
nochmals mit dem noch übrigen Wasser die größeren Steine
zu begießen. Daraufhin entzündete sich eine Flamme. Das
Licht aber, das vom Altare erstrahlte, ward auf der
Stelle verzehrt[835].
101. Als dieses Zeichen bekannt wurde, befahl der
Perserkönig, daß an der Stelle, an der das Feuer
verborgen war und nachher das Wasser gefunden wurde, ein
Tempel erbaut würde. Man brachte eine große Menge
Weihegaben dahin. „Die Begleitung des heiligen Nehemias
aber nannte ihn Ephtar, was Reinigung bedeutet: die
Mehrzahl nennt ihn Nephte“[836].
„In den Aufzeichnungen des Propheten Jeremias aber
findet man, daß er den künftigen Nachkommen befahl, vom
Feuer zu nehmen“[837].
Das ist das Feuer, das auf das Opfer des Moses fiel und
es verzehrte, wie geschrieben steht: „Feuer ging aus vom
Herrn und verzehrte das ganze Brandopfer, das auf dem
Altare lag“[838].
Mit diesem Feuer mußte das Opfer geheiligt werden. Daher
ging auch über die Söhne Aarons, die fremdes Feuer
heranbringen wollten, wiederum Feuer vom Herrn aus und
verzehrte sie, so daß man sie tot aus dem Lager
hinauswarf[839].
102. „Als aber Jeremias an die Stelle kam, fand er eine
Behausung nach Art einer Höhle vor, brachte dahin das
Zelt und die Lade und den Rauchopferaltar und verrammle
den Eingang. Und obwohl die, welche mit ihm gekommen
waren, genauer Obacht gaben, um sich den Platz zu
merken, konnten sie ihn keineswegs mehr aufspüren und
auffinden. Sobald aber Jeremias erkannte, was sie im
Sinne gehabt hatten, sprach er: Der Ort wird unbekannt
bleiben, bis Gott das Volk wieder sammeln und gnädig
sein wird. Dann wird der Herr dies offenbar machen und
die Herrlichkeit des Herrn erscheinen“[840].
XVIII. Kapitel
Ein
Exkurs über das mystische Feuer, das des Nehemias, des
Aaron, des Elias Opfer verzehrte. Es war ein Sinnbild
der sündetilgenden, neubelebenden Kraft des Hl. Geistes
im Taufsakramente (103—108). Andere alttestamentliche
Vorbilder der Taufe und der Buße (108—110).
103. Wir halten an der Gemeinschaft des (gläubigen)
Volkes fest, sind uns der Versöhnung mit Gott unserem
Herrn bewußt, die uns der Versöhner durch sein Leiden
bewirkt hat: ich glaube, wir können auch über jenes
Feuer nicht im unklaren sein, wenn wir lesen, wie nach
der Versicherung des Johannes im Evangelium der Herr
Jesus im Heiligen Geist und dem Feuer tauft[841].
Mit Recht wurde das Opfer verzehrt, weil es ein
Sündopfer war. Jenes Feuer aber war das Sinnbild des
Heiligen Geistes, der nach des Herrn Himmelfahrt
herabsteigen und allen Sündenvergebung bringen sollte,
der wie Feuer den gläubigen Sinn und Verstand entfacht.
Daher der Ausspruch des Jeremias nach dem Empfang des
Geistes: „Und es ward mir im Herzen wie brennend Feuer,
flammenschlagend in meinen Gebeinen, und ich bin
allseits erschöpft und kann es nicht ertragen“[842].
Aber auch in der Apostelgeschichte lesen wir, wie bei
der Herabkunft des Heiligen Geistes über die Apostel und
viele andere, welche die Verheißungen des Herrn
erwarteten, Zungen wie Feuer sich zerteilten[843].
So feurig wallte denn auch das Innere eines jeden auf,
daß man glaubte, sie, welche die verschiedenen Sprachen
empfangen hatten, seien des Weines voll[844].
104. Was anders bedeutet es, daß Feuer zu Wasser ward
und das Wasser Feuer entfachte, als daß des Geistes
Gnade unsere Sünden durch Feuer ausbrennt, durch Wasser
reinigt? Denn ausgebrannt und abgewaschen wird die
Sünde. Daher des Apostels Beteuerung: „Wie beschaffen
das Werk eines jeden ist, wird das Feuer erproben“[845].
Und im Folgenden: „Fängt jemandes Werk Feuer, wird es
Schaden erleiden; er selbst wird das Heil erlangen, doch
so wie durch Feuer“[846].
105. Das führten wir deshalb an, um zu beweisen, daß die
Sünden durch Feuer ausgebrannt werden. Es ist sonach
klar, daß dies in Wirklichkeit das heilige Feuer ist,
das damals zur Sinnbildung der künftigen Sündenvergebung
auf das Opfer herabstieg.
106. Dieses Feuer nun wird zur Zeit der Gefangenschaft,
in der die Schuld herrscht, verborgen gehalten, in der
Zeit der Freiheit hervorgeholt. Und wenn auch scheinbar
in Wasser gewandelt, wahrt es doch seine Feuernatur, um
das Opfer zu verzehren. Wundere dich nicht, wenn du
liest, wie Gott Vater gesprochen: „Ich bin ein
verzehrend Feuer“[847];
und an einer anderen Stelle: „Mich haben sie verlassen,
den Quell des lebendigen Wassers“[848].
Auch der Herr Jesus selbst entflammt wie ein Feuer die
Herzen seiner Zuhörer und erquickt sie gleich einem
Quell. Denn er selbst versichert in seinem Evangelium,
er sei deshalb gekommen, daß er Feuer auf die Erde sende[849]
und den Trank lebendigen Wassers den Durstenden reiche[850].
107. Desgleichen fuhr zur Zeit des Elias Feuer herab,
damals als er die heidnischen Propheten aufforderte, den
Altar ohne Feuer anzuzünden. Und als jene es nicht zu
tun vermochten, übergoß er seinerseits dreimal sein
Opfer mit Wasser, und das Wasser ergoß sich rings um den
Altar. Und er rief, und Feuer vom Herrn fiel vom Himmel
und verzehrte das Brandopfer[851].
108. Dieses Opfer bist du. Erwäge still das Einzelne.
Auf dich steigt das lohende Feuer des Heiligen Geistes
herab, dich scheint es auszubrennen, wenn es deine
Sünden verzehrt. So war denn auch das Opfer, das unter
Moses verzehrt wurde, ein Sündopfer[852].
Daher der Ausspruch des Moses, wie im Buch der Makkabäer
geschrieben steht: „Weil das Sündopfer nicht gegessen
wurde, ward es verzehrt“[853].
Dünkt es dich nicht wie ein Verzehrtwerden, wenn im
Sakramente der Taufe der ganze äußere Mensch untergeht?
Unser alter Mensch ist mit ans Kreuz geheftet, ruft der
Apostel aus[854].
Da wird, wie der Väter Beispiele dich lehren, der
Ägypter versenkt, und taucht, vom Heiligen Geist erneut,
der Hebräer auf, der auch ungehinderten Fußes durchs
Rote Meer hindurchzog, wo die Väter „unter der Wolke und
im Meere getauft wurden“[855].
109. Ebenso starb bei der Sintflut zur Zeit Noes alles
Fleisch; der Gerechte jedoch wurde mit seiner
Nachkommenschaft gerettet[856].
Geht nicht auch der Mensch unter, wenn dieses Sterbliche
vom Leben abgetan wird? Der äußere Mensch verfällt ja
dem Untergang, der innere aber wird erneut[857].
Und nicht allein bei der Taufe, sondern auch bei der
Buße geht der Lehre der Apostel zufolge das Fleisch zum
Besten des Geistes unter, indem Paulus erklärt: „Ich
habe wie anwesend über den, der so handelte, die
Entscheidung getroffen, einen solchen dem Satan zum
Untergang des Fleisches zu übergeben, damit der Geist
gerettet werde am Tage unseres Herrn Jesus Christus“[858].
110. Ob des wunderbaren Geheimnisses zog sich sichtlich
unser Exkurs etwas in die Länge, indem uns daran lag,
dasselbe, nachdem es geoffenbart ist, ins vollere Licht
zu stellen. Ist es doch so voll des Sittlichguten, daß
es geradezu voll des Göttlichen ist.
XIX.
Kapitel
Wie
sehr die Altvordern auf das Sittlichgute hielten,
beweist ihre Bekriegung und Bestrafung der Gabaoniter
wegen Schändung der Frau eines Leviten (111—117).
111. Wie sehr lag den Altvordern die Sorge um das
Sittlichgule am Herzen, so daß sie das einem einzigen
Weibe zugefügte Unrecht von Wüstlingen, die ihr Gewalt
antaten, mit Krieg rächten und nach der Besiegung des
Stammes Benjamin schwuren, den Angehörigen desselben
ihre Töchter nicht mehr zur Ehe geben zu wollen! Dem
Stamme wäre kein Weg zu einer Nachkommenschaft übrig
geblieben, hätte er nicht den Ausweg notgedrungener List
zugestanden erhalten. Gleichwohl scheint auch dieses
Zugeständnis nicht der gebührenden Strafe für ihre
Unenthaltsamkeit zu entbehren, da ihnen nur allein
gestattet wurde, Verbindungen auf dem Wege der
Entführung, nicht der sakramentalen Ehe einzugehen. Und
es war in der Tat gebührend, daß sie, die ein fremdes
Eheband gelöst hatten, selbst der herkömmlichen Form der
Eheschließungen verlustig gingen[859].
112. Wie voll des Ergreifenden aber ist die Geschichte!
Ein Mann, so heißt es, ein Levite, hatte sich eine Frau
genommen. ‚Beischläferin‘ ist sie (in der Schrift)
genannt[860],
wie ich glaube, vom Beischlaf. Diese begab sich nun
eines Tages, durch gewisse Vorkommnisse, wie es zu gehen
pflegt, gekränkt, zu ihrem Vater und blieb vier Monate
dort. Da brach ihr Mann auf und zog in das Haus seines
Schwiegervaters, um sich mit seiner Gattin wiederum
auszusöhnen, sie zurück- und heimzuführen. Die Frau kam
ihm entgegen und führte den Gatten ins Haus ihres
Vaters.
113. Der Vater der jugendlichen Frau war erfreut
darüber, ging ihm entgegen und weilte drei Tage mit ihm
zusammen. Man speiste und pflegte der Ruhe. Am folgenden
Tage wollte der Levite aufbrechen. Der Schwiegervater
hielt ihn zurück: er möge doch nicht so schnell das
liebtraute Zusammensein abbrechen! Und auch am zweit-
und drittfolgenden Tage gab der Vater des Mädchens die
Abreise seines Schwiegersohnes nicht zu, bis nicht das
Maß aller gegenseitigen Freude und Liebenswürdigkeit
voll wäre. Doch als derselbe am siebten Tage, da der Tag
sich schon zum Abend neigte, nach Tisch und frohem
Gelage den nahen Anbruch der folgenden Nacht vorschützte
und lieber bei den Seinigen als bei Fremden die
Nachtruhe zubringen zu sollen glaubte, vermochte er ihn
nicht mehr zurückzuhalten und entließ ihn samt seiner
Tochter.
114. Nach Zurücklegung einer Strecke Weges aber meinte
der Diener, da der Abend schon bald hereinzubrechen
drohte und man der Stadt der Jebusäer sich genähert
hatte, sein Herr solle hier zukehren. Sein Herr aber gab
dem nicht statt, weil es keine Stadt der Söhne Israels
war, sondern trachtete noch bis Gabaa zu gelangen, das
von den Stammesgenossen Benjamins bewohnt war. Niemand
fand sich da, der die Ankömmlinge gastlich aufgenommen
hätte, außer einem Fremdling in fortgeschrittenen
Jahren. Als nun dieser ihrer ansichtig wurde und den
Leviten fragte: wohin gehst du? bezw. woher kommst du?
da entgegnete dieser, daß er auf der Reise begriffen sei
und ins Gebirge Ephraim zurückkehre. Und als niemand
sich fand, der ihn aufnahm, bot er ihm gastlich eine
Herberge an und richtete ein Mahl zu.
115. Nachdem man sich aber beim Mahl gesättigt hatte und
der Tisch aufgehoben war, stürzten verkommene
Mannspersonen heran und umringten das Haus. Da bot der
Greis den lasterhaften Menschen seine Tochter an, eine
Jungfrau, gleichalterig mit ihrer Schlafgenossin, nur um
der fremden Gastfreundin nicht Gewalt antun zu lassen.
Als aber mit Vernunft nur zu wenig auszurichten war und
die Gewalt siegte, ließ der Levite von seinem Weibe. Und
sie erkannten sie und trieben die ganze Nacht ihr Spiel
mit ihr. Dieser Grausamkeit, oder aber dem Schmerz über
die angetane Schmach erlag sie. Sie warf sich vor die
Schwelle des Gastes, bei dem ihr Mann eingekerkert war,
hin und hauchte ihren Geist aus. In den letzten Zügen
liegend wahrte sie noch treu die Liebe einer guten
Gattin: sie ermöglichte dem Gatten wenigstens noch die
Bestattung ihres Leichnams.
116. Auf die Kunde davon entbrannte, um mich kurz zu
fassen, fast das ganze Volk Israel zum Krieg. Obwohl der
Kampf bei schwankendem Erfolg erst unentschieden blieb,
fiel doch beim dritten Waffengang das Volk Benjamin dem
Volke Israel in die Hand und mußte so kraft göttlichen
Strafurteiles seine Unenthaltsamkeit büßen. Es wurde
sodann auch verurteilt, daß niemand ihm aus der Zahl der
Väter seine Tochter zur Ehe geben durfte, und zwar wurde
dies durch einen Eidschwur bekräftigt. Doch von Reue
ergriffen, daß sie gegen ein Brudervolk ein so hartes
Urteil fällten, milderten sie dessen Strenge dahin, daß
sie sich elternlose Jungfrauen, deren Väter für ein
Vergehen hingerichtet wurden, zur Frau nehmen durften,
bezw. auf dem Wege der Entführung eine Verbindung
eingehen konnten. Einer Ehewerbung machten sie sich ja
angesichts der verübten Schandtat als Verletzer fremden
Eherechtes unwürdig. Aber damit das Volk auch nicht
einen Stamm verliere, machte man nachsichtig ihrer List
ein Zugeständnis.
117. Wie sehr die Altvordern auf das Sittlichgute
bedacht waren, geht nun daraus hervor, daß
vierzigtausend Mann wider ihre Brüder vom Stamme
Benjamin das Schwert zogen. Sie wollten die Verletzung
der Reinheit rächen und keine Schänder der Keuschheit
dulden. So wurden denn in jenem Kriege
fünfundsechzigtausend Streiter auf beiden Seiten
niedergemacht und Städte verbrannt. Und obschon das Volk
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